Arzneimittel und Therapie

Sichtweisen auf ein ungelöstes Problem

Es ist ein seit langem bekanntes, aber immer noch ungelöstes Problem, dass die meisten Arzneimittel, die bei Kindern angewendet werden, für diese Altersgruppe nicht zugelassen sind. Auf einem Symposium der Paul-Martini-Stiftung und der Deutschen Akademie Leopoldina diskutierten Pädiater, Sachverständige von Behörden, forschenden Arzneimittelherstellern und Krankenkassen sowie Mitglieder des Bundestags und des Europäischen Parlaments über Lösungsmöglichkeiten dieses Problems, denn die Arzneimitteltherapie bei Kindern muss verbessert werden.

Auf neonatologischen Intensivstationen werden derzeit etwa 90%, auf onkologischen Stationen zwischen 50 bis 70% und im niedergelassenen Bereich immerhin noch zwischen 20 und 30% der an Kinder verabreichten Medikamente entweder außerhalb des Zulassungsbereiches ("off label") oder ohne Zulassung ("unlicensed") eingesetzt. Außerdem gibt es nicht genügend kindgerechte Darreichungsformen.

Wie Prof. Dr. Hannsjörg W. Seyberth vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin in Marburg berichtete, sind die hierdurch verursachten Arzneimittelnebenwirkungen entsprechend hoch: Untersuchungen aus Großbritannien und Frankreich ergaben im Vergleich zur zugelassenen Anwendung etwa eine Verdoppelung insbesondere der schweren Arzneimittelnebenwirkungen. Es müsse daher Ziel der gemeinsamen Anstrengung von Ärzten, Gesundheitspolitikern, pharmazeutischer Industrie und auch Kostenträgern sein, zügig wesentlich mehr geprüfte und zugelassene Medikamente für Kinder und Jugendliche bereitzustellen, betonte der Mainzer Kinderarzt Prof. Dr. Fred Zepp.

Die Sicht der Pharmaindustrie

Wie mehrere Referenten erläuterten, sind die Ursachen für die Defizite multifaktoriell: ethische und rechtliche Bedenken gegen Studien mit Kindern, die teilweise eingeschränkte Bereitschaft der Eltern, Schwierigkeiten, die Aufklärung der Studienteilnehmer altersgerecht zu gestalten und nicht zuletzt der enorme Aufwand für die Arzneimittelhersteller, für fünf Altersgruppen (Frühgeborene, Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder, Schulkinder sowie Jugendliche) jeweils eigene Studienreihen durchzuführen.

Die Lücken in der "Kinderapotheke" betreffen vor allem Arzneimittel gegen Krankheiten, die zwar bei Erwachsenen häufiger, bei Kindern jedoch seltener auftreten. Dagegen sind gegen Erkrankungen, an denen Kinder und Jugendliche häufiger leiden, bereits zahlreiche Wirkstoffe mit ausschließlicher oder zusätzlicher pädiatrischer Zulassung auf dem Markt, wie z. B. Tacrolimus und Pimecrolimus bei Neurodermitis oder Etanercept bei rheumatoider Arthritis.

Pro Jahr werden 15 bis 20 neue Medikamente für Kinder und Jugendliche zur Zulassung gebracht. Wie Dr. Klaus Rose von der Novartis Pharma AG auf dem Symposium darlegte, bestehe für die Pharmaindustrie jedoch kein ausreichender wirtschaftlicher Anreiz für eine pädiatrische klinische Forschung, wenn der zu erwartende Markt klein sei. Als einziger Ausweg biete sich an, die Unternehmen per Gesetz zu Kinderstudien zu verpflichten.

Das Vorbild aus den USA

Wie dies funktionieren kann, zeigt das Beispiel aus den USA. Die dort seit 2002 bzw. 2003 bestehenden Gesetze "Best Pharmaceuticals For Children Act" und "Pediatric Research Equity Act" geben der Zulassungsbehörde FDA die Autorität, ein Unternehmen zur Durchführung klinischer Studien bei Kindern zu "zwingen". Belohnt wird dies dann mit einer Verlängerung des Patentschutzes des jeweiligen Medikaments. Dieses Gesetz ist zunächst bis 2007 befristet und wird dann neu beraten werden, die ersten Erfolge zeichnen sich bereits jetzt ab.

Besser spät als nie: die Initiativen der EU

Wie Dr. Siegfried Throm vom Verband Forschender Azneimittelhersteller e.V. (VFA) berichtete, kam eine vergleichbare Diskussion auf EU-Ebene Ende 1997 in Gang. Nachdem die Europäische Kommission im Februar 2002 das Konsultationspapier "Better Medicines For Children" verabschiedet hatte, wurde schließlich am 29. September 2004 der Entwurf für eine Verordnung zu Kinderarzneimitteln publiziert. Er enthält, ähnlich wie in den USA, eine Kombination aus gesetzlich vorgeschriebener, durch die Gesundheitsbehörden erzwingbarer pädiatrischer Entwicklung mit einer "Belohnung" in Form einer sechsmonatigen Patentverlängerung.

Spezielle Regelungen plant man für Medikamente, die bereits seit langem auf dem Markt sind (z. B. einen zehnjährigen Unterlagenschutz für die Entwicklung spezieller kindgerechter Darreichungsformen) und für Krankheiten, die bei Kindern nicht existieren. Bei Morbus Alzheimer beispielsweise würde die Zulassungsbehörde bei dem betreffenden Medikament eine Verzichtserklärung für Kinderstudien abgeben. Einig waren sich die Vertreter der Pharmaindustrie auf dem Symposium darin, dass es durch die gesetzlichen Auflagen nicht zu einer Verzögerung der Zulassung eines Medikaments für Erwachsene kommen dürfe.

Bis die neue Verordnung auf europäischer Ebene in Kraft treten kann, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Der Entwurf wird jetzt dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament zugeleitet, mit dem Abschluss des europäischen Gesetzgebungsverfahrens ist allerdings nicht vor Herbst 2006 zu rechnen.

Die Situation in Deutschland

Wie die Bundestagsmitglieder Dr. Marlies Volkmer (SPD) und Helge Braun (CDU) darlegten, besteht bezüglich der Einschätzung der Situation zu Kinderarzneimitteln im Parlament fraktionsübergeifender Konsens. Die Richtlinien der EU sind inzwischen auch in deutsches Recht – die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes – umgesetzt worden. Neu ist darin beispielsweise, dass Arzneimittelstudien an Kindern auch dann zulässig sind, wenn nicht nur für das einzelne Kind, sondern für die gesamte an der gleichen Krankheit leidende Patientengruppe ein therapeutischer Nutzen zu erwarten ist. Nach wie vor sind Studien mit gesunden Kindern (Phase I) nicht erlaubt, außer bei Mitteln zur Prävention und Diagnostik (z. B. Impfstoffen).

Wie Volkmer berichtete, wurde mit dem Gesetz auch das seit 2002 am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bestehende "Expertengremium Arzneimittel für Kinder und Jugendliche" mit diesem Gesetz in eine "Kommission Arzneimittel für Kinder und Jugendliche" umgewandelt. Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Zulassung eines Arzneimittels, das auch zur Anwendung bei Kindern bestimmt ist, wird diese Kommission beteiligt werden.

 

Quelle
Helge Braun, Berlin; Dr. Klaus Rose, Basel; Prof. Dr. Hannsjörg W. Seyberth; Marburg; Dr. Siegfried Throm; Bonn; Dr. Marlies Volkmer, Berlin; Prof. Dr. Fred Zepp, Mainz: Symposium der Paul-Martini-Stiftung und der Deutschen Akademie Leopoldina, Berlin, 12. und 13. November 2004.

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