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Medizintechnik: Metalle mit Gedächtnis

Formgedächtnislegierungen erinnern sich an ihre ursprüngliche Gestalt. Verbiegt man sie, können sie unter geeigneten Umständen wieder in die Ausgangsform zurückkehren. Das mechanische Leistungsvermögen solcher Legierungen wird deshalb immer häufiger für bestimmte mechanische Aufgaben eingesetzt. Die Forschung dazu ist in vollem Gange.

Elastizität

Metalle zeigen eine gewisse Elastizität: Bei mechanischem Druck gibt der Stoff nach und seine Atome rücken etwas auseinander. Ist der Druck weg, kehren die Atome in ihre Ausgangsposition zurück. Bestes Beispiel für Elastizität ist ein Stück Gummi. Anders als ein Luftballon sind Metalle jedoch höchstens um 1 Prozent dehnbar.

Mit einer Ausnahme: Formgedächtnislegierungen, so genannte pseudoelastische Metalle, sind um den Faktor zehn stärker dehnbar als sonstige Metalle. Sie reichen damit schon fast an den Gummi des Luftballons heran. Die Kraft, mit der sie in die Ausgangslage zurückkehren, ist allerdings wesentlich größer als beim Gummi des Ballons.

Dass unbelebte Stoffe so etwas wie ein Gedächtnis ausbilden, sich an eine vergangene Situation "erinnern" können, erscheint auf den ersten Blick als sehr seltsam. Die Rückkehr in eine ursprüngliche Ausgangsform ist ein für den naturwissenschaftlich geschulten Beobachter ungewohnter Vorgang. Allerdings kennt jedermann reversible Bewegungen anorganischer Materie.

Bestes Beispiel ist das Wasser. Gefriert es, gehen die Wassermoleküle von der flüssigen in die feste Phase über und die Moleküle rücken etwas auseinander. Oberhalb des Schmelzpunktes treten die Moleküle wieder in die flüssige Phase über.

Martensit und Austenit

Bei den Formgedächtnislegierungen ist es ähnlich. Hier wandelt sich jedoch eine feste Phase – die Tieftemperaturphase, Martensit oder Alphaphase – in eine andere feste Phase – Hochtemperaturphase, Austenit oder Betaphase – um. Die Physik unterscheidet dabei zwei Formgedächtniseffekte,

  • den (thermischen) Einwegeffekt und
  • die (mechanische) Pseudoelastizität (Abb. 1).

Beim Einwegeffekt erfolgt die Phasenumwandlung durch Erwärmen, weil der Martensit bei der tieferen und der Austenit bei der höheren Temperatur stabiler ist.

Bei der Pseudoelastizität ist die Phasenumwandlung abhängig von der mechanischen Belastung bei konstanter Temperatur. Entfällt die mechanische Belastung, geht der Stoff quasi selbstständig wieder in die ursprüngliche Austenitphase über.

Bei der Pseudoelastizität drängt sich wieder der Vergleich mit dem Wasser auf. Auch hier ist die flüssige Phase bei verringertem Druck weniger stabil als die Dampfphase. Geringere Drücke begünstigen den gasförmigen Aggregatzustand. Auf ähnliche Weise begünstigt bei Formgedächtnislegierungen eine mechanische Spannung den Martensit vor dem Austenit, der ohne äußere Spannung in einem bestimmten Temperaturbereich stabil wäre.

Akkommodationsprozesse bei Temperaturabsenkung

Sowohl als Martensit als auch als Austenit weist die Legierung eine geordnete Gitterstruktur auf, wie das in Metallen zu erwarten ist. Bei der martensitischen Phasenumwandlung verschieben sich die Atome im Gitter. Dabei kann die Gitterstruktur entweder erhalten bleiben oder sich ändern (gitterinvariant bzw. gittervariant).

Bei den gitterinvarianten Akkommodationsprozessen wird das Martensitgitter zwar gestört, aber nicht wesentlich geändert (deshalb gitterinvariant). In der Tieftemperaturphase (Martensit oder Alphaphase) bleibt die äußere Form der Hochtemperaturphase (Austenit oder Betaphase) erhalten. Bei gittervarianten Prozesse bilden sich zwei Martensitbereiche (α+, α–) aus, die durch ihre unterschiedliche Orientierung die verzerrende Wirkung gegenseitig aufheben.

Doch wird der Martensit mechanisch belastet, können bei geeigneten Werkstoffen auch günstig orientierte Martensitbereiche (α+) auf Kosten der ungünstig orientierten Martensitbereiche (α–) aufwachsen. Es entsteht ein verformter Martensit, der Dehnung produziert. Wird dieser so gescherte Kristall nun erwärmt, geht er wieder in die Austenitform über (er "erinnert sich" an seine Ausgangsform).

Nickel-Titan

Für Formgedächtnislegierungen sind vor allem Nickel-Titan-Legierungen hervorragend geeignet. Im Vergleich weisen sie die größten Formgedächtniseffekte auf, die auch viele tausend Mal abgefragt werden können. Nickel-Titan ist auch außerordentlich korrosionsbeständig. Diese Legierung hat bereits Eingang in die Luft- und Raumfahrttechnik gefunden und wird bald auch in der Medizintechnik eingesetzt werden, beispielsweise als Stents zum Offenhalten der Adern, in der minimalinvasiven Chirurgie und bei Implantaten.

Derzeit arbeitet eine Wissenschaftlergruppe an der Universitätsklinik Jena daran, eine defekte Herzklappe mittels eines Stents "mit Gedächtnis" zu dehnen. Er lässt sich gekühlt winzig klein zusammenfalten und durch ein Katheter zum Herzen transportieren. Nach Erwärmung nimmt er binnen Sekunden seine "eigentliche" Form ein, reckt sich und dehnt damit die defekte Herzklappe. Dadurch sollen lange und schwere Operationen am Herzen überflüssig werden.

Zahnspangen aus Formgedächtnislegierungen ziehen die widerspenstigen Zähne zusammen – und das unwiderstehlich. Mit ihnen wird die Fehlstellung in der Regel bis zu zweieinhalb Mal schneller behoben als mit herkömmlichen Zahnspangen.

Da Nickel-Titan-Legierungen dicht schützende Titanoxidschichten ausbilden, treten auch kaum Nickelionen aus dem Gitter aus. Das bedeutet, dass der Werkstoff auch von Patienten mit Nickelallergie vertragen wird. Mittlerweile wird auch an Kunststoffpolymeren mit Formgedächtniseigenschaften geforscht.

Unter anderem an der Ruhruniversität Bochum wird intensiv an der Erforschung und Anwendung von Formgedächtnislegierungen gearbeitet. Ihr Erfolg wird vor allem davon abhängen, ob die hochwertigen Werkstoffe zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehen.

Gefügeumwandlung Metallkundlich gesehen ist der Gedächtniseffekt eine reversible Gefügeumwandlung. Der Temperaturbereich, in dem Umwandlungen erfolgen, hängt sehr stark von der Zusammensetzung der Legierung ab und kann deshalb systematisch beeinflusst werden. Physikalisch gesehen findet ein Übergang von einer orthorombisch-unsymmetrischen Legierungsphase bei niedriger Temperatur zu einer kubisch-symmetrischen Phase bei höherer Temperatur statt.

Bimetalle Bimetalle haben nichts mit Formgedächtnislegierungen zu tun. Sie bestehen aus zwei Metallen mit stark unterschiedlichem Wärmeausdehnungskoeffizienten. Ihre mechanische Verformung hängt ausschließlich von der Temperatur ab; sie bildet sich zurück, wenn die Temperatur wieder den ursprünglichen Wert erreicht.

Unzerstörbar

Brillengestelle aus Formgedächtnislegierungen sind nahezu unzerstörbar. So ein Brillenbügel ist zwar enorm plastisch verformbar, lässt sich aber dennoch auf Dauer nicht verformen.

Internet Kunststoffpolymere mit Formgedächtnis www.tu-berlin.de/fb6/polymer/stent.html

Angeborene Herzfehler werden mit Schirmchen kuriert www.uni-wuerzburg.de/blick/2002-2/022d02-t.htmln

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