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Multiple Sklerose: Standard und Alternativen in der MS-Therapie

Viele interessierte Pharmazeuten, aber auch viele Betroffene wollten es wissen: "Gibt es alternative Methoden in der Therapie der Multiplen Sklerose?" Auf einer Vortragsveranstaltung der DPhG am 10. Januar in München befasste sich Prof. Dr. Wolfram Hänsel, Chef der Abteilung Pharmazeutische Chemie der Universität Kiel, mit dem viel diskutierten und mit vielen Hoffnungen besetzten Thema.

Mit einem glatten Nein beantwortete Hänsel vorab die von ihm selbst aufgeworfene Frage nach alternativen Heilkonzepten. Er wolle keine falschen Hoffnungen wecken, bedeute die Diagnose Multiple Sklerose (MS) doch sehr häufig lebenslanges Leid für die Betroffenen. Nach wie vor ist die Krankheit unheilbar. Die Therapiefortschritte in den letzten Jahren seien jedoch beachtlich (s. auch DAZ Nr. 13, S. 33 von 1997).

Zerstörung des Myelins

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine Entmarkungserkrankung von Neuronen des ZNS. Zum Ausbruch der Erkrankung kommt es, wenn durch eine Störung der Blut-Hirn-Schranke autoreaktive T-Lymphozyten ins ZNS gelangen, dort die "Isolierschicht" der Nervenzellen, das Myelin, angreifen und in einem pathologischen Prozess Axonen freilegen. Als Folge ergibt sich eine Störung der Impulsfortleitung, die mit fortschreitender Erkrankung in einen völligen Ausfall bestimmter Areale des ZNS übergehen kann. Klinisch äußert sich die in Schüben verlaufende Krankheit dann in mehr oder weniger ausgeprägten neurologischen Ausfällen.

Verbesserte Diagnosemöglichkeiten mithilfe der Kernspintomographie erlauben heute aber bereits eine frühzeitige Diagnose und einen entsprechend frühen Behandlungsbeginn.

Autoimmunerkrankung unbekannter Ursache

Die Ursachen für das Auftreten der MS sind bislang nicht vollständig geklärt. Diskutiert werden genetische Dispositionen, auch die Auslösung durch noch unbekannte Viren wird in Betracht gezogen, wobei Zusammenhänge zwischen vorpubertären, vielleicht ganz banalen viralen Infekten und einem späteren Ausbruch der Krankheit vermutet werden. Geographische Einflüsse – MS tritt vorwiegend in den gemäßigten Zonen der nördlichen Hemisphäre auf, man spricht von einem MS-Breitengürtel – und sogar extraterrestrische Einflüsse werden nicht ausgeschlossen (Sonnenflecken und MS-Erkrankungen stehen hochsignifikant in Relation). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liegt der Erkrankung aber ein Autoimmungeschehen zugrunde.

Glucocorticoide, Beta-Interferone und Copolymer 1

Die Therapie mit Immunsuppressiva gehört daher zu jenen therapeutischen Verfahren, die am ehesten als kausal angesehen werden können. Nach wie vor kann im akuten Schub auf die – zwar eher unspezifische – Therapie mit Glucocorticoiden nicht verzichtet werden. Andere Immunsuppressiva, die sich z.T. in der Presse einen Namen machten, führte Hänsel nur mit Vorbehalten auf.

In jüngster Zeit erlebten die spezifisch wirkenden und mit weniger Nebenwirkungen belasteten Beta-Interferone (beta-1a und beta-1b) sowie Copolymer 1 den therapeutischen Durchbruch. Während die b-Interferone wie die körpereigenen Interferone wirken, simuliert das Copolymer 1, ein synthetisches Polypeptid, das basische Myelinprotein; als Wirkprinzip von Copolymer 1 nimmt man an, dass es die autoaggressive Reaktion kompetitiv auf sich zieht.

Kaliumkanalblocker

Weniger bekannt ist die Möglichkeit zur spezifischen symptomatischen Therapie der MS. Im Verlauf der Entmarkung myelinisierter Neuronen werden vermehrt Ionenkanäle freigelegt, welche an der Steuerung des axonalen Kaliumausstroms beteiligt sind. Eine Hyperpolarisierung der betreffenden Neuronen entsteht, die Impulsfortleitung wird dadurch gestört. Eine Verminderung des Kaliumausstroms durch Kaliumkanalblocker sollte der Hyperpolarisation positiv entgegenwirken. Schon in der Zeit vor Einführung der Interferone wurden erste Untersuchungen zu dieser Hypothese mit 4-Aminopyridin durchgeführt.

Weinraute

Von der Carl und Veronica Carstens-Stiftung sei seine Arbeitsgruppe dann mit der Untersuchung der Weinraute (Ruta graveolens) beauftragt worden, berichtete Hänsel weiter. Aus Südamerika war nämlich bekannt geworden, dass die Dauereinnahme von Weinrautentee günstige Wirkungen auf die Symptomatik der Multiplen Sklerose zeigen soll.

Aus der Vielzahl aktiver Inhaltsstoffe dieser altbekannten, von der Kommission E allerdings negativ beurteilten Arzneipflanze zeichneten sich das Alkaloid Kokusaginin und das Furanocumarin Bergapten als besonders starke Kaliumkanalblocker aus, ebenso auch viele weitere natürliche Psoralene und synthetische Abwandlungsprodukte.

Mit den leicht zugänglichen, in der photochemischen PUVA-Therapie bereits eingesetzten Psoralenen 5-MOP und Xanthotoxin wurden erste positive Untersuchungen an MS-Patienten durchgeführt: Ihr Gesichtsfeld (ein Parameter bei der Beurteilung der Krankheit) hatte sich nach Einnahme dieser Furanocumarine signifikant erweitert, und Spasmolytika konnten eingespart werden. Zwar waren für die untersuchten Substanzen noch relativ hohe Dosierungen nötig, dies wäre aber nach entsprechender Molekülabwandlung sicher besser in den Griff zu bekommen gewesen.

Trotz vielversprechender Ansätze wird die Ruta- bzw. Psoralenderivat-Forschung nach dem Durchbruch der Interferone und von Copolymer 1 in der MS-Therapie von der Industrie nicht mehr weiter verfolgt. Weinrautentee habe "keinen positiven, aber auch keinen negativen Einfluss auf die Krankheit", betonte Hänsel aufgrund seiner Forschungserfahrungen. Und im selben Atemzug: "MS ist extrem plazeboanfällig."

Alternative Therapien

Während vor dem Hintergrund des derzeitigen "Goldstandards" der Therapie mit Interferon beta bzw. Copolymer 1 bereits die spezifische symptomatische Therapie mit Kaliumkanalblockern als "alternativ" eingestuft wird, werden im umgangsprachlichen Gebrauch unter "alternativ" therapeutische Bemühungen verstanden, welche sich im Wesentlichen auf die Erfahrungsmedizin stützen. Hierbei stehen bestimmte Diäten im Vordergrund, von denen Hänsel solchen mit einem hohen Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren (z.B. Fischöl) im Hinblick auf die MS-Genese eine gewisse Glaubwürdigkeit bescheinigt.

Als arzneiliche Alternativ-Therapien wird in einschlägigen Ratgebern eine Vielzahl von Möglichkeiten angeboten: Lebertran, Johanniskraut, Schafgarbe, Frauenmantel, Weinraute, Eigenblut. Von der Kryotherapie werden gute Ergebnisse berichtet, Kneipp'sche Anwendungen und Massagen können im Einzelfall momentane Erleichterung bringen.

Paramedizinisches

Eine kaum noch zu überschauende Zahl weiterer Therapiebemühungen müsse aus naturwissenschaftlicher Sicht als "paramedizinisch" bezeichnet werden, so Hänsel, und er zählte auch hier die gängigsten Möglichkeiten auf: Hochpotenz-Homöopathie, Ordnungs-, Bioresonanz-, Farblicht- oder Lithotherapie, Erdstrahlenabschirmung oder etwa Elektrosmog-Beseitigung.

Diese Einstufung dürfe nicht als Bewertung gesehen werden und sage nichts über die Tauglichkeit im Einzelfall aus. Denn, betonte er noch einmal, gerade bei der Multiplen Sklerose können immer wieder überraschende Plazeboeffekte beobachtet werden.

Literatur Therapien der Multiplen Sklerose, 4. Auflage, Stand 1996, herausgegeben von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft.

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