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Therapie der Multiplen Sklerose

Im Rahmen des Vortragsprogramms der Landesgruppe Berlin-Brandenburg der DPhG referierte PD Dr. med. Martin Stangel von der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin am 4. Juli 2002 zum Thema "Immunmodulatorische Therapie der Multiplen Sklerose".

Die Multiple Sklerose (MS, Encephalomyelitis disseminata) ist eine Erkrankung, die in der Regel erstmalig im jungen Erwachsenenalter, zwischen 25 und 35 Jahren, auftritt. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer, es besteht weltweit ein Nord-Süd-Gefälle.

Verlaufsformen und Symptome

In etwa 85 Prozent der Fälle beginnt die Erkrankung schubförmig mit akuten neurologischen Symptomen wie Ataxie, Tremor, Schwindel, Paresen, sensiblen Störungen, Visusminderung und Blasenfunktionsstörungen.

Zwischen den Schüben treten zunächst praktisch keine Symptome auf (Remission), man spricht daher von einem schubförmig-remittierenden Verlauf. Bei etwa 40 bis 45 Prozent dieser Patienten schließt sich ein (sekundär) chronisch-progredientes Stadium an. Die Zahl der Krankheitsschübe nimmt zwar ab, die Heilung ist jedoch nach jedem Schub inkomplett, sodass schließlich eine schleichende Verschlechterung des Zustandes eintritt.

Bei etwa 15 Prozent aller MS-Patienten zeigt sich ein primär chronisch-progredienter Verlauf, das heißt, der Zustand verschlechtert sich von Beginn an schleichend, Schübe treten dagegen kaum auf. Die Langzeitfolgen der MS sind unterschiedlich: Etwa einem Drittel der Patienten ist die Krankheit kaum anzusehen, ihre Berufsfähigkeit bleibt erhalten. Ein weiteres Drittel ist zwar berufsunfähig, kann sich aber weitgehend allein versorgen, während das letzte Drittel der Patienten auf Hilfe angewiesen ist.

Noch viele offene Fragen

Die Multiple Sklerose gilt heute als Autoimmunerkrankung, bei deren Pathogenese genetische Faktoren und Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Welcher Umweltfaktor die Erkrankung begünstigt, ist jedoch noch unbekannt. Auch Viren und Bakterien kommen in Betracht.

Der Pathomechanismus der Multiplen Sklerose ist sehr komplex. Nach heutiger Erkenntnis beginnt die Erkrankung damit, dass T-Helferzellen vom Typ 1 durch den noch unbekannten Triggerfaktor aktiviert werden. Sie sind dann in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Im ZNS findet eine Reaktion mit dem Myelin-basischen Protein (MBP), dem Hauptbestandteil der Myelinscheiden statt. Es kommt anschließend zu einer Freisetzung proinflammatorischer Zytokine wie beispielsweise Interleukin-2 (IL-2), Tumor-Nekrose-Faktor α (TNF-α) und Interferon-β (IFN-β).

Auch andere Zellen wie aktivierte B-Lymphozyten, die die Blut-Hirn-Schranke überwunden haben, sowie Mikrogliazellen des ZNS sind in der Lage, im Zusammenwirken mit Komplementfaktoren und Makrophagen die Myelinscheiden zu attackieren.

Als Folge entstehen lokale Entzündungsherde, die sich im ZNS immer weiter ausbreiten und zu einer Schädigung der Myelinscheiden (Demyelinisierung) bis hin zur Zerstörung ganzer Axonen führen. Nach Abklingen der Entzündung kommt es teilweise zu Kompensationserscheinungen (Remyelinisierung).

Die Art der klinischen Symptome hängt davon ab, in welchem Bereich des ZNS sich die Entzündungsherde befinden. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung treten neben den genannten ersten Symptomen starke Spastiken, starke Schmerzen, Koordinationsprobleme, Störungen der Gehfähigkeit und weitere schwere Behinderungen auf.

Therapie nach einheitlichen Richtlinien angestrebt

In den deutschsprachigen Ländern haben sich etwa 70 Neurologen zur MS-Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) zusammengeschlossen und veröffentlichen regelmäßig Therapieleitlinien. Zu unterscheiden ist zwischen der Basis- und der Schubtherapie. Das Ziel der Basistherapie besteht darin, die Zahl der Schübe zu verringern, das Fortschreiten der Krankheit teilweise aufzuhalten und die Lebensqualität zu erhöhen. Eine Heilung ist damit jedoch nicht möglich.

Die größte Bedeutung in der Basistherapie haben Beta-Interferone und Glatirameracetat, außerdem werden Cyclophosphamid, Azathioprin, Mitoxantron (besonders bei rasch fortschreitendem Krankheitsverlauf) und intravenöse Immunglobuline (IVIG) angewendet.

Nach Ansicht der MSTKG sind Immunglobuline zur Schubprophylaxe in der Basistherapie der schubförmigen MS dann gerechtfertigt, wenn Kontraindikationen für Interferone und Glatirameracetat vorliegen oder die bisherige IVIG-Therapie zu einer gut dokumentierten Stabilisierung des Krankheitsverlaufes geführt hat. Es liegt jedoch keine Zulassung für die MS-Therapie vor, sodass eine Behandlung mit Immunglobulinen zur Zeit nur in Einzelfällen von den Krankenkassen erstattet wird. Als Standardtherapie des akuten MS-Schubes gilt die intravenöse Applikation von hochdosiertem Methylprednisolon (jeweils 500 – 1000 mg) an drei bis fünf aufeinanderfolgenden Tagen (Corticosteroid-Puls).

Beta-Interferone in der Basistherapie

Der Wirkmechanismus der Beta-Interferone (siehe Tab. 1) ist noch nicht vollständig geklärt. Nach bisherigen Erkenntnissen hemmen sie beispielsweise die Aktivierung und den Durchtritt von T-Lymphozyten durch die Blut-Hirn-Schranke, verschieben das Gleichgewicht zugunsten antiinflammatorischer Zytokine wie IL-10 und Transforming Growth Factor α≠ (TGF-α≠) und blockieren die schubauslösenden Effekte von TNF-α und IFN-β.

Als häufigste Nebenwirkung treten grippeartige Symptome auf. Mittels einer einschleichenden Therapie und durch Prophylaxe mit Paracetamol oder Ibuprofen wird versucht, diese Symptome zu mildern. Weitere Nebenwirkungen sind Schmerzen, vereinzelt Nekrosen an der Einstichstelle, vorübergehende Zunahme der Spastik und das Auftreten neutralisierender Antikörper. IFN-β 1b ist auch zur Therapie der sekundär chronisch-progredienten MS zugelassen. Nach Ansicht des Referenten ist dieser Einsatz jedoch nur bei hoher immunologischer Aktivität sinnvoll.

Glatirameracetat – neues Basistherapeutikum

Seit September 2001 steht in Deutschland zur Verringerung der Schubfrequenz bei schubförmig verlaufender MS der Wirkstoff Glatirameracetat (Copaxone®) zur Verfügung Es handelt sich dabei um ein synthetisches Polypeptid aus den Aminosäuren L-Glutamin, L-Lysin, L-Alanin und L-Tyrosin im Verhältnis 1,4 : 3,4 : 4,2 : 1,0. Die Molekularmasse liegt zwischen 4700 und 13 000 Dalton. Die Zusammensetzung ähnelt damit dem MBP der Myelinscheiden.

Der Wirkmechanismus von Glatirameracetat ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Man geht davon aus, dass der Wirkstoff in der Peripherie an Antigen-präsentierende Zellen bindet. Es kommt zur Bildung Glatirameracetat-spezifischer TH2-Zellen, die durch die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS gelangen. Im Rahmen einer Kreuzreaktion mit dem MBP der Myelinscheiden werden diese Zellen reaktiviert und als Folge davon antiinflammatorische Zytokine (z. B. IL-4 und IL-10) und neurotrophe Substanzen (z. B. TGF-α) sezerniert.

Glatirameracetat scheint nach bisherigen Erfahrungen besser verträglich zu sein als andere Therapeutika. Grippeartige Symptome wie bei einer Beta-Interferon-Therapie treten nicht auf. Antikörper haben keinen Effekt auf die biologische Aktivität. Als häufigste Nebenwirkung treten lokale Irritationen an der Einstichstelle auf. Bei einigen Patienten kommt es zur akuten systemischen Postinjektionsreaktion mit Flush, Unwohlsein, Angstzuständen, Dyspnö und Brustschmerz; nach maximal 30 Minuten klingen die Symptome jedoch ohne Folgen ab.

Blick in die Zukunft

Der Referent gab auch einen Ausblick, wie sich die Therapie der Multiplen Sklerose in Zukunft gestalten könnte. So wird darüber nachgedacht, ob bei den Beta-Interferonen eine Veränderung des Applikationsortes (oral, nasal), der Applikationsfrequenz oder der Dosis zur Verbesserung der therapeutischen Wirksamkeit führen könnte. Auch Kombinationstherapien, wie beispielsweise Mitoxantron + Glatirameracetat oder Beta-Interferon + Azathioprin, werden in Zukunft auf ihre Wirksamkeit hin getestet werden.

In Tierversuchen wurden IGF-1 (ein Myelin-Wachstumsfaktor), Anti-Integrine (sie sollen den Durchtritt aktivierter T-Lymphozyten durch die Blut-Hirn-Schranke hemmen) und die Plasmaphorese von Antikörpern untersucht. Auch den Einsatz der Stammzelltherapie hielt der Referent, wenn auch in ferner Zukunft, prinzipiell für möglich.

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