Medikationsanalyse

Arzneimittelbezogene Probleme - viel mehr als nur Interaktionen!

Stuttgart - 27.10.2022, 07:00 Uhr

Neue Pennadeln kommen bei vielen Diabetiker:innen nur selten zum Einsatz. Bei Medikationsanalysen fällt das oft auf.  (Foto: abidika /AdobeStock)

Neue Pennadeln kommen bei vielen Diabetiker:innen nur selten zum Einsatz. Bei Medikationsanalysen fällt das oft auf.  (Foto: abidika /AdobeStock)


Die Medikationsanalyse ist das Herzstück der erweiterten Medikationsberatung bei Polymedikation. Das Ziel dabei: arzneimittelbezogene Probleme (ABP) aufdecken und lösen. In der Debatte scheinen ABP oft mit Interaktionen gleichgesetzt zu werden und die Medikationsanalyse mit einem besseren Interaktionscheck. Doch dahinter steckt viel mehr.

Fünf pharmazeutische Dienstleistungen können Apotheken seit einiger Zeit erbringen – drei komplexe und drei einfache. Die komplexen beinhalten jeweils eine Medikationsanalyse. Diese dürfen nur Apotheker:innen durchführen, die eine entsprechende Schulung nach dem Curriculum der Bundesapothekerkammer absolviert haben. Im Rahmen dieser Medikationsanalyse werden arzneimittelbezogene Probleme (ABP) detektiert und oft auch gelöst – je nachdem, um welches Problem es sich handelt, gemeinsam mit den Patient:innen oder mit den Ärzt:innen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist wohl die Interaktion das Paradebeispiel für ein ABP. 

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Und ja, Interaktionen sind ein Thema. Je mehr Arzneimittel eingenommen werden, desto komplexer werden die Wechselwirkungen. Ganz häufige haben manche Ärzte mittlerweile auch auf dem Schirm. Aber Interaktionen sind eben nur eins von unendlich vielen möglichen ABP. Das zeigt die Nachfrage der DAZ bei Apotheker:innen, die bereits viel Erfahrung mit Medikationsanalysen haben.

Lagerung auf der Fensterbank

Ziemlich oft gibt es zum Beispiel Probleme bei der Handhabung und Anwendung von Arzneimitteln, berichtet Krankenhausapothekerin und PharmD Ina Richling. 

Sie hat dazu eine ganze Reihe Fälle aus ihrer Praxis parat:

  • Aufgrund von Arthrose können Tabletten zum Beispiel nicht entblistert werden. Daher wurden die Tabletten im Blister belassen, aus dem Blister ausgeschnitten und im Ganzen geschluckt. Die Folge waren Verletzungen am Oseophagus.
  • Ein Patient, der alle Tabletten (100er Packungen) in einen Dübelkasten mit Klarsichtdeckel ausgeblistert hat.
  • Lagerung von ausgeblisterten Blutdruck-Tabletten auf der Fensterbank, was zu für den Arzt nicht erklärbaren Schwankungen in der Wirksamkeit führte.
  • Tabletten wurden in eine weiße Dosette gestellt und nicht genommen, weil sie nicht gesehen wurden. Die Lösung war der Wechsel auf eine hellblaue Dosette.
  • Der Inhaler Relvar Ellipta wurde aus der Verpackung genommen, das Trockenmittel (die Tüte) aufgeschnitten, der Inhaler aufgeklappt und das Trockenmittel in das Mundstück gefüllt und inhaliert (Frage: Warum nur eine Dosis da drin ist?)
  • durch Wechsel des Devices auf den Rabattvertrag Verschlechterung der Lungenfunktion,
  • fehlender Nadelwechsel bei Insulinanwendung

Tabletten von der Nachbarin „bei Bedarf“

Eine weitere Baustelle ist laut Ina Richling der Medikationsabgleich. Sie erlebe oft Patienten mit mehreren Medikationsplänen vom Facharzt, Hausarzt etc., die alle nicht deckungsgleich sind. Zudem fehlten auf den Medikationsplänen oft wichtige Angaben, zum Beispiel der Grund, warum etwas eingenommen wird, sowie wichtige Einnahmehinweise (nüchtern).

Auch komme es häufig vor, dass Patienten Arzneimittel vom Ehemann, der Ehefrau, der Freundin, der Nachbarin nehmen. Die Krankenhausapothekerin hatte kürzlich in der Aufnahmemedikation eine Dame, die Quetiapin zum Schlafen nahm, weil die Nachbarin ihr einen Blister geliehen hatte (die schlief nämlich so gut davon...).

Ein weiterer Klassiker, über den Ina Richling berichtet: Patienten mit mehreren Quellen für Arzneimittel, die bei unterschiedlichen Handelsnamen den gleichen Wirkstoff enthalten, zum Beispiel Calcium und Vitamin D: Dekristol einmal wöchentlich vom Arzt verschrieben, selbst gekaufte Calcium+ Vit D Kautabletten täglich zweimal, das gleiche nochmal als Brausetablette vom Enkel und dazu nochmal Vigantol Tabletten.

Für Medikationsfehler sorgt auch die Dosierungsangabe „bei Bedarf“. Das sei für den Patienten missverständlich und könne zur Fehlanwendung führen. Zudem sei diese Angabe für ambulante Pflegedienste und Altenheime fatal, da der medizinische Dienst der Kassen auf diese Angaben besteht. Hier muss der Bedarf, die Einzeldosis, die Tagesmaximaldosis und das Intervall aufgeführt werden. Laut der Apothekerin gab es Todesfälle im Altenheim, wo Colchicin „bei Bedarf“ dann stündlich gegeben worden ist.

„Beim Doktor ist immer alles gut"

Ein weiteres Problem laut Richling ist, dass Patienten beim Arzt nicht von ihren Beschwerden berichten. „Beim Doktor ist immer alles gut, in der Apotheke werden dann Beschwerden, die mit Medikamenten zusammenhängen könnten, geschildert“, berichtet sie.

Auch Apothekerin Dr. Katja Renner, die unter anderem als Athina-Referentin tätig ist, fallen sofort zahlreiche ABP ein, die ihre bereits begegnet sind und nichts mit Interaktionen zu tun haben. Auf ihrer „Liste“ findet sich zum Beispiel folgendes:

  • Doppelmedikation: Metamizol-Tabletten und Novaminsulfon-Tropfen von verschiedenen Ärzten verordnet.
  • Adhärenzprobleme: Diuretikum wird dreimal pro Woche weggelassen, weil die Patientin morgens beim Einkaufen keine Toilette hat – der Arzt wundert sich über Blutdruckschwankungen.
  • Mundtrockenheit: Patient mit Wunsch nach Lutschbonbons hat mehrere Anticholingergika in der Dauermedikation, dazu noch OTC-Vomex gegen Übelkeit, die durch Metformin verursacht wird, und Hoggar zum Schlafen. Von letzterem weiß der Arzt natürlich nichts.
  • Sektorübergang: Umstellung der Medikation im Krankenhaus auf Xarelto – zu Hause war es noch Falithrom und Marcumar. Patient nimmt aus Unwissenheit alle drei Arzneimittel.
  • Dauer versus Bedarfsmedikation: Pantoprazol wird nur bedarfsmäßig genommen und wirkt nicht, Antazidum sei viel besser. Oder: Budesonid-Spray wird bedarfsmäßig eingenommen und mit einem Akutspray verwechselt.
  • Handhabung: Patient zermörsert Retardtabletten.

Studie deckt Diskrepanzen zwischen der verordneten und der tatsächlich eingenommenen Medikation auf

Apotheker und PharmD Dr. Olaf Rose, der sich seit Jahren in der DAZ im Rahmen der POP-Serie mit dem Thema Medikationsanalyse befasst, hat ebenfalls sofort eine Liste von ABP parat, die nichts mit Interaktionen zu tun haben.

  • Verordnung von vier verschiedenen Insulinen.
  • Unbeabsichtigte Verordnung eines anderen Insulins (das passiert laut Rose quasi täglich, scheint in der Arztsoftware wohl besonders unübersichtlich zu sein).
  • Verordnung eines ungeeigneten Antipsychotikums bei Parkinson, was zu verstärkter Parkinsonsymptomatik führt.
  • Gleichzeitige Einnahme von verschiedenen Levodopa Präparaten, die eigentlich je nach Darreichungsform über den Tag verteilt sein müssten.
  • Fehl-Verordnung aufgrund von Sound-Alikes (‚Mist, hört sich so ähnlich an‘)

Olaf Rose hat sich sogar schon wissenschaftlich mit dem Thema ABP beschäftigt. Im Jahr 2017 publizierte er unter anderem mit Professor Ullrich Jaehde, der in Bonn die Klinische Pharmazie leitet, eine Studie, die Diskrepanzen zwischen der verordneten und der tatsächlich eingenommenen Medikation aufdeckte. Bei 94,8 % dieser Patienten gab es Diskrepanzen zwischen dem, was der Hausarzt dachte, was eingenommen wird, und dem, was wirklich eingenommen wurde. Dabei handelte es sich nicht um Vitamine und Mineralstoffe, sondern bei 14 % der Patienten um Wirkstoffe mit einem erhöhten Sturzrisiko (FRIDs), bei 54 % der Patienten betraf die Diskrepanz einen Wirkstoff mit einem hohen Risiko für Hospitalisierung. Die Mehrzahl der dem Hausarzt unbekannten Wirkstoffe führte zu einem ABP (65,8 %). Die meisten dieser Wirkstoffe waren dabei ungeeignet oder in einer ungeeigneten Dosierung eingesetzt.

Medikationsanalyse gehört in die Apotheke 

Unsere kleine Stichprobe zeigt also: ABP sind weit mehr als nur Interaktionen. Dass es bei den Antworten kaum Doppelungen gab, zeigt, wie unfassbar vielfältig die Probleme sein können. Sie zeigt auch, dass die Medikationsanalyse bei den Apotheker:innen in guten Händen ist – auch wenn Ärztefunktionäre das anders sehen. Und das nicht nur, weil im Idealfall dort die ganze Medikation inklusive Verordnungen von Fachärzten und OTC zusammenlaufen kann, sondern weil viele der ABP, wie zum Beispiel falsche Lagerungsbedingungen, sehr pharmazeutischer Natur sind und Ärzte diese deswegen gar nicht auf dem Schirm haben (können) und Patient:innen sich offenbar zudem in der Arztpraxis schwerer tun, Probleme anzusprechen. Spätestens wenn die Lösung Änderungen an der Medikation erfordert, müssen die Ärzte dann natürlich ins Boot geholt werden, um die Probleme gemeinsam zu beseitigen.


Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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