Arzneimittel und Therapie

„Melatonin ist kein Schlafhormon!“

Erfahrungen eines Kinder- und Jugendarztes

Melatonin gilt bei vielen Verbrauchern als „natürliches Schlafmittel“. Nicht selten könnten daher auch Eltern mit dem Gedanken spielen, ihrem schlaflosen Nachwuchs mit dem „Schlafhormon“ zu mehr Nachtruhe zu verhelfen. Wir haben mit Dr. Alfred Wiater, Kinder- und Jugendarzt/Schlafmedizin, Vorstandsreferent der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin und Buchautor, über seine Erfahrung mit Melatonin in der Pädiatrie gesprochen.

DAZ: Viele Verbraucher, die sich mit schlechtem Schlaf plagen, greifen neuerdings zu Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln, in der Hoffnung, „das Schlafhormon“ könne ihnen helfen. Was weiß man über die physiologischen Zusammenhänge?

Wiater: Melatonin ist kein Schlafmittel im Sinne des Wortes, ebenso wie Melatonin kein Schlafhormon ist. Melatonin ist ein Hormon, dessen Ausschüttung durch die Dunkelheit initiiert wird. Das gilt im Übrigen auch für nachtaktive Tiere. Beim Menschen besteht ein Zusammenhang zwischen Melatonin und dem Schlaf, der noch weiterer Forschung bedarf. Möglicherweise spielt der Einfluss auf das Absinken der Körperkerntemperatur dabei eine relevante Rolle. Die Körperkerntemperaturkurve des Menschen zeigt einen sinusförmigen Verlauf mit dem Minimum am frühen Morgen, dem Zeitpunkt des höchsten Melatonin-Spiegels. Melatonin gilt daher eher als Chronotherapeutikum als als Schlafmittel, was auch den Einsatz bei Jetlagbeschwerden rechtfertigt.

Foto: Panova/AdobeStock

Melatonin war auch Thema bei der diesjährigen Interpharm im Vortrag„Melatonin in aller Munde“ von Dr. Verena Stahl.

Erst wenn andere Maßnahmen nicht wirksam waren

DAZ: Melatonin werden nur begrenzte klinische Effekte bei der Verkürzung der Einschlafzeit zugeschrieben. Wann darf es eingesetzt werden und was können Sie uns aus Ihrer Erfahrung als Kinder- und Jugendarzt berichten?

Wiater: Der Einsatz von Melatonin muss differenziert betrachtet werden. Melatonin ist nicht das Schlafmittel par excellence. Zulassungen für Melatonin bei Schlafstörungen bestehen für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen und dem seltenen Smith-Magenis-Syndrom, bei denen andere Therapiemaßnahmen unwirksam sind, und bei Menschen ab 55 Jahren. Außerhalb dieser Indikationen handelt es sich um einen Off-­Label-Use. Ein ärztlich indizierter und überwachter Behandlungsversuch mit Melatonin erscheint mir nur sinnvoll, wenn andere medikamentöse und nichtmedikamentöse Maßnahmen nicht wirksam sind. Meine diesbezüglichen Erfahrungen bei Kindern sind unterschiedlich. Eine positive Wirkung kann bereits innerhalb weniger Tage eintreten. Bei Patienten, bei denen das nicht der Fall war, war weder die Fortsetzung der Therapie noch eine Dosissteigerung erfolgreich. Andere Schlafmediziner berichten aus ihrer praktischen Erfahrung im Erwachsenenbereich Ähnliches, auch hier sieht man schnell einen Effekt, meist innerhalb von zehn bis vierzehn Tagen. Sprechen Erwachsene nicht auf eine Dosis von 2 mg Melatonin an, so ist eine Dosissteigerung, nach Einschätzung von Experten, in der Regel ohne Wirkung.

Gute Erfahrungen bei Autismus-Spektrum-Störungen

DAZ: Sprechen wir zunächst über die in der Pädiatrie zugelassenen Indikationen. Wie wirkt sich Melatonin auf den Schlaf von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen aus?

Wiater: Die Prävalenzangaben für Schlafstörungen betragen bei den Betroffenen im Elternurteil bis zu 80% und stellen häufig eine massive Belastung des familiären Alltags dar. Nach Ansicht von Experten ist Melatonin ­dabei die am besten untersuchte Substanz, mit positiven Effekten auf die Schlafdauer, die Häufigkeit nächtlichen Aufwachens und die Schlaflatenz. Eine zusätzliche kognitive Verhaltenstherapie kann das Ergebnis noch weiter verbessern. Zu erwähnen ist, dass wir auf eine kindgerechte, retardierte Darreichungsform zurückgreifen können. Man sollte jedoch an mögliche unerwünschte Wirkungen des Melatonins denken, wie zum Beispiel morgendliche Müdigkeit, verstärktes Einnässen, Kopfschmerzen und Diarrhö sowie Verschlechterung von Verhaltenssymptomen bei einigen Kindern.

Foto: Privat

Dr. med. Alfred Wiater

DAZ: Sollten bei diesen kleinen Patienten gezielte Therapiepausen - und wann - eingelegt werden, um die weitere Notwendigkeit der Therapie zu überprüfen?

Wiater: Grundsätzlich sollte zunächst nach maximal dreimonatiger Behandlung und im Verlauf spätestens alle sechs Monate der Behandlungserfolg ärztlich kontrolliert werden, um über die Fortsetzung der Therapie zu entscheiden.

Und wie sieht es bei ADHS aus?

DAZ: Ist Melatonin auch bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) eine Option? Hier ist der Schlaf doch oft erheblich beeinträchtigt.

Wiater: Tatsächlich ist mehr als jeder Zweite bei ADHS von Schlafstörungen betroffen. Neben verzögerten Einschlafzeiten tritt häufiges nächtliches Erwachen mit unruhigem Schlaf, aber auch frühes Erwachen und morgendliche Müdigkeit auf. Hierbei spielt nicht nur die zugrunde liegende Regulationsstörung der Vigilanz-, Arousal- und Aufmerksamkeitsfunktionen eine Rolle, sondern ebenso die Behandlung mit Psychostimulanzien. Auch besteht ein Zusammenhang mit chronotypo­logischen Kriterien, den Spättypen. Leider wurden bisher keine systema­tischen Metaanalysen zum Einsatz von Melatonin bei Kindern mit ADHS publiziert. In einigen Untersuchungen konnte eine circa vierwöchige Melatonin-Gabe in der Personengruppe eine Verkürzung der Einschlaflatenz, eine Vorverlagerung des Dim Light Mela­tonin Onset (DLMO) und eine erhöhte Nachtschlafdauer bewirken. Der DLMO gilt als Phasenmarker für die circadiane Rhythmik und signalisiert den Körperzellen, dass es dunkel ist. Die ADHS-Symptome, das Verhalten und die Lebensqualität besserten sich in diesen Studien jedoch nicht. Eine andere Untersuchung berichtet hingegen neben der Verbesserung von Schlaf auch über eine Verbesserung des Verhaltens und der Stimmung bei 71 beziehungsweise 61% der Patienten.

Weitere Indikationen

DAZ: Welche Kinder können noch von einer Melatonin-Gabe profitieren?

Wiater: Zu nennen sind hier vorrangig Kinder mit neurologischen Entwicklungsstörungen, bei denen sich durch Melatonin die Einschlaflatenz verkürzen und die Schlafdauer verlängern lässt. Teilweise war bei den untersuchten Kindern die Aufwachzeit jedoch früher, und das Verhalten am Tage besserte sich nicht signifikant. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die fetalen Alkoholspektrumstörungen (Fetal Alcohol Spectrum Disorders, FASD), die mit einer hohen Prävalenz von Schlafstörungen, nämlich 58 bis 85%, einhergehen. Interessant ist, dass in einer Untersuchung 79% der Kinder auffällige Melatonin-Profile aufwiesen! Auch wenn bisher keine Studien zur Wirksamkeit von Melatonin bei Kindern mit FASD und Einschlafstörungen unternommen wurden, liegt es aufgrund des gleichzeitigen Vorliegens von Schlafstörungen und den gezeigten Veränderungen der Melatonin-Spiegel nahe, dass diese Kinder im Einzelfall von einem Therapieversuch mit Melatonin profitieren könnten. Es handelt sich hier aber um eine Off-Label-Anwendung.

Bei hohen Dosierungen drohen circadiane Rhythmusstörungen

DAZ: Kommen wir nun zu Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln. Schlaf­lose wenden es an, ohne zu wissen, ob bei ihnen ein Mangel besteht. Erzielt man mit den teils hochdosierten Präparaten supraphysiologische Spiegel und wie können sie sich auswirken?

Wiater: Eine Melatonin-Einnahme ohne ärztliche Aufsicht, in Dosierungen nach dem Motto „viel hilft viel“, ist absolut abzulehnen. Melatonin ist ein Hormon. Hormone haben vielfältige Wechselwirkungen im Organismus. Niemand käme auf die Idee, eigenmächtig Schilddrüsenhormone einzunehmen oder sich einfach so Insulin zu spritzen. Melatonin greift als Chronotherapeutikum in unseren physiologischen Schlaf-Wach-Rhythmus ein und kann bei unkontrollierter Einnahme in höherer Dosis circadiane Rhythmusstörungen verursachen.

DAZ: Nicht nur die Dosis, sondern auch das Timing der Melatonin-Einnahme scheint die innere Uhr durcheinanderbringen zu können, nicht wahr?

Wiater: Ja, richtig. Nehmen wir an, eine Person schläft zwar gut ein, wacht aber regelmäßig in den frühen Morgenstunden, so gegen 3 Uhr, auf und kann dann nicht wieder in den Schlaf finden. Erfolgt zu diesem Zeitpunkt eine Melatonin-Gabe, könnte es dosisabhängig zu einer Verschiebung des circadianen Rhythmus mit morgendlicher Schläfrigkeit kommen.

Selbsttherapie nicht empfohlen

DAZ: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Schlafstörungen im Kindesalter und haben vermutlich unzählige frustrierte und hilflose Eltern kennengelernt, die schon einiges probiert haben, damit die Sprösslinge endlich gut schlafen. Können Sie sich vorstellen, dass Eltern in ihrer Not auch zu Selbstversuchen mit Melatonin für ihre Kinder greifen werden?

Wiater: Aus meiner Erfahrung sind die meisten Eltern, die sich bei Schlafstörungen ihres Kindes an einen Arzt wenden, vorsichtig bei der Verabreichung von Medikamenten. Und das ist durchaus wünschenswert. Diese Einschätzung ist aber geprägt von den differenzierter denkenden Menschen, denen ich begegnet bin. Man darf nicht vergessen, dass Schlafstörungen vielfältige Ursachen haben können und diese sollten über die Kinderärztin oder den Kinderarzt schlafmedizinisch abgeklärt und behandelt werden. Im Einzelfall kann Melatonin dabei eine Rolle spielen.

Buchtipps

Im „Praxishandbuch Kinderschlaf“ geben Dr. Alfred Wiater und Kollegen detaillierte Einblicke in die vielen Facetten des Schlafs und der Schlafstörungen von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen – inklusive Tipps für die Elternberatung. Während sich dieses Werk an Fachkreise richtet, ist „Ticken Sie richtig?“ etwas für alle, die sich näher mit unserer inneren Uhr beschäftigen möchten. Die Leserschaft erwartet unterhaltsame Informationen zum Schlaf-Wach-Rhythmus, auch wie man das eigene Schlafverhalten optimieren kann.

A. Wiater, G. Lehmkuhl, D. Alfer
Praxishandbuch Kinderschlaf
Taschenbuch, 216 Seiten
2020, Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH
39,00 €
ISBN 978-3437234415

 

C. Schöbel, A. Wiater
Ticken Sie richtig?
Gebundene Ausgabe, 176 Seiten
2021, Scorpio Verlag
18,00 €
ISBN 978-3958033351

 

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Achtung Pubertät

DAZ: Welche Probleme sehen Sie, wenn es zum unkritischen Dauergebrauch bei Kindern und Jugendlichen kommt?

Wiater: In der Pubertät kommt es physiologisch zu einem time-shifting in Richtung Spättyp. Die innere Uhr bedingt dann, dass die Jugendlichen erst später müde werden und entsprechend später einschlafen können. In dieser Phase unkontrolliert ein Chronotherapeutikum einzunehmen, ist strikt abzulehnen. Langzeitfolgen sind nicht absehbar.

DAZ: Können Eltern chronisch müder Jugendlicher stattdessen Herangehensweisen an die Hand gegeben werden, die langfristig wirksam sind? Das „Erfolgsrezept“ gibt es vermutlich nicht?

Wiater: Der elterliche Einfluss auf Jugendliche ist sehr begrenzt. Deshalb ist die Eigenverantwortlichkeit der Adoleszenten herausgefordert. Unnötige Verzögerungen des Einschlafens, zum Beispiel durch Mediennutzung, sind zu vermeiden. Tagsüber wirkt sich der morgendliche halbstündige Aufenthalt im Freien, z. B. auf dem Schulweg, ebenso positiv aus wie die körperliche Aktivität am Nachmittag. Leider kommen viele Jugendliche durch den zu frühen Schulbeginn in eine chronische Schlafmangelsituation, die als sozialer Jetlag bezeichnet wird. Deshalb sollte versucht werden, das Schlafdefizit unter der Woche möglichst durch längeres Schlafen am Wochenende zu kompensieren.

Mediale Auszeit vor dem Schlafen

DAZ: Schauen wir zum Abschluss noch einmal genauer auf die Mediennutzung. Hier geht es bei Smartphones, Tablets, Fernsehern, Computern oder Spielekonsolen ja nicht nur um den Blaulichtanteil der Endgeräte, sondern auch um die stimulierende Wirkung der Inhalte.

Wiater: Korrekt, die abendliche und nächtliche Mediennutzung erhöht den individuellen Erregungslevel. Dadurch werden das Einschlafen und das Wiedereinschlafen erschwert. Deshalb sollten sich auch Jugendliche am Abend und in der Nacht eine mediale Auszeit gönnen. Eine britische Studie spricht aber eine andere Sprache, hier konnte man zeigen, dass manche Jugendliche bis zu zehnmal in der Nacht auf ihr Smartphone schauen! An Schlaf ist da nicht zu denken. Neben der ständigen kognitiv-emotionalen „Alarmbereitschaft“ muss auch eine mögliche Melatonin-Suppression berücksichtigt werden. Diese stellt sich bei längerer Nutzung der Geräte durch das ausgestrahlte, kurzwellige Blaulicht ein, wobei der Effekt bis zu 15 Minuten anhält, nachdem das Licht beziehungsweise das elektronische Gerät ausgeschaltet wurde. Zu begrüßen ist dabei ein Blaulichtfilter im sogenannten Nachtmodus vieler Geräte. Neuere Studien kommen zu dem Schluss, dass nicht nur das blaue Spektrum, sondern auch die Beleuchtungsstärke einbezogen werden muss. Das ist auch der Grund dafür, dass man sich nach der Einnahme von Melatonin-Präparaten nicht dem meist hellen Badezimmerlicht aussetzen sollte.

DAZ: Herr Dr. Wiater, ich bedanke mich für das ausführliche Gespräch! |

Apothekerin Dr. Verena Stahl

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