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Ein Hormon in aller Munde

Was Melatonin bei Schlafstörungen leisten kann

rs | Entgegen werbelastiger Aus­sagen sollte Melatonin nicht als „Schlafhormon“, sondern entsprechend seiner physiologischen Rolle als Dunkelheitshormon angesprochen werden. Ein Hormon bleibt es aber, und als solches hat es Wirkungen, die über die Regelung des Schlaf-Wach-Rhythmus hinausgehen, betonte Dr. Verena Stahl. Deshalb sieht sie die leichtfertige Anwendung von Nahrungsergänzungsmitteln kritisch. Für verschreibungspflichtige Melatonin-haltige Arzneimittel bestehen hingegen klare Indikationen. Unabhängig von der Deklaration sind bei Melatonin-Anwendung gewisse Einnahmehinweise zu beachten.
Foto: DAZ/Alex Schelbert

Dr. Verena Stahl erinnerte daran, dass Melatonin eindeutige pharmakologische Effekte bewirkt und nur bei klarer Indikation angewendet werden sollte.

Nehmen die photosensitiven Ganglienzellen in der Netzhaut keine Umgebungshelligkeit wahr, sendet der mit der Netzhaut verschaltete Nucleus suprachiasmaticus (SNC) an die Zirbeldrüse (Epiphyse) den Auftrag zur Ausschüttung von Melatonin: „Es ist dunkel!“ ist das Signal an die Körperzellen. Es starten Prozesse, die vorwiegend nächtens ablaufen. In der Regel zwei bis drei Stunden nach Beginn der Melatonin-Ausschüttung setzt der Schlaf ein. Umgekehrt folgt der Lichteinwirkung auf die Netzhaut über den circadianen Taktgeber SNC ein Stopp der Melatonin-Ausschüttung, was der normalen Aufwachphase am Morgen entspricht. Eine Verringerung (aber auch eine Erhöhung) des Melatonin-Spiegels im Blut kann Schlafstörungen auslösen.

Das aus der essenziellen Aminosäure Tryptophan gebildete Hormon ist indes nicht nur an der Regelung des Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt. Melatonin verteilt sich über Blut und Liquor, seine Rezeptoren finden sich in vielen Organen. Unter anderem beeinflusst es die Körpertemperatur, die Insulinsensitivität und die Bildung von Somatotropin (Wachstumshormon). „Das wird oft leichtfertig vergessen, wenn Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel empfohlen wird“, warnte Stahl. Die Vertreiber der zahlreichen Melatonin-haltigen Produkte stellen es gerne als „natürlichen Botenstoff“ ohne physiologische Wirkung dar. Dabei habe Melatonin klare pharmakologische Effekte und werde auch vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) schon seit 1995 entsprechend klassifiziert.

Retardiertes Melatonin als Arzneimittel

Melatonin als Arzneimittel ist unabhängig von der Dosis verschreibungspflichtig. In der retardierten 2-mg-Dosis ist Melatonin (als Circadin®) in Monotherapie indiziert für die kurzzeitige Behandlung der primären, durch schlechte Schlafqualität gekennzeichneten Insomnie bei Patienten ab 55 Jahren. Die Rationale für die Altersgrenze ist die durch Calcifizierung der Zirbeldrüse im Alter nachlassende Melatoninproduktion. Die S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“ empfiehlt Melatonin aufgrund geringer Wirksamkeit und schwacher Studienlage aber nicht generell bei Insomnien. Ein Therapieversuch kann laut der S2k-Leitlinie „Insomnien bei neurologischen Erkrankungen“ bei Patienten mit Morbus Parkinson, Multipler Sklerose, Schädel-Hirn-Traumata, Epilepsie oder Insomnie bei Kopfschmerzen erfolgen. Hingegen ist Morbus Alzheimer keine Indikation.

Stahl riet bei Melatonin-Anwendung zu folgenden Beratungshinweisen: Die Einnahme soll einmalig ein bis zwei Stunden vor dem Zubettgehen und nach der letzten Mahlzeit erfolgen. Fetthaltiges Essen verringert sowohl Resorption als auch erreichbare Plasmaspiegel massiv. Raucher müssen wegen der Induktion von CYP1A2 mit stärkerem Melatoninabbau rechnen. Zur Vermeidung von Hangover-Phänomenen sollen mindestens sechs Stunden Schlafdauer eingehalten werden. Bei nächtlichem Aufwachen niemals nachdosieren! Und: Jeder schlafgestörte Patientin sollte an die Regeln der Schlafhygiene erinnert werden und bei Melatonin-Anwendung konstante Einnahme-, Zubettgeh- und Aufstehzeiten einhalten. Die Therapiedauer ist auf Basis der Studienlage auf bis zu 13 Wochen begrenzt.

In Retardtabletten mit einer Dosierung von 1 und 5 mg (Slenyto®) steht Melatonin für Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis 18 Jahren mit Autismus Spektrum-Störungen (ASS) und/oder Smith-Magenis-Syndrom zur Verfügung, wenn Maßnahmen zur Schlafhygiene unzureichend waren. Metaanalysen zeigen eine Verkürzung der Einschlafzeit um ca. 35 Minuten und eine Verlängerung der Gesamtschlafdauer. Das kann die familiäre Belastung erheblich verringern, wenngleich das kindliche Verhalten am Tag nicht beeinflusst wird. Pädiater verordnen gelegentlich eine Melatonin-Suspen­sion (2 mg/ml, NRF 17.6.). Mangels Retardierung eignet sie sich lediglich bei Einschlafstörungen oder z. B. OP-Angst.

NEM: Unsinnige Kombinationen

Melatonin findet sich in einer Unzahl von als Nahrungsergänzungsmittel firmierenden Tabletten, Tropfen und Sprays. Die erlaubten gesundheits­bezogenen Aussagen (Health Claims) sind begrenzt auf die Verkürzung der Einschlafzeit (1 mg, nicht retardiert) und auf die Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung (0,5 bis 5 mg). Im letzteren Fall kann die Einnahme zur abendlichen Ortszeit zwei Stunden vor dem Zubettgehen für maximal zwei bis fünf Tage hilfreich sein. Eine klare Absage erteilte Stahl den Kombina­tionen mit „absolut unterdosierten“ Pflanzenextrakten z. B. aus Baldrian, Hopfen, Melisse und Lavendel. Abzuraten sei auch von der Anwendung der nicht retardierten Produkte bei Durchschlafstörungen. Überhaupt solle man in Erinnerung rufen, wo Melatonin nicht hilft: etwa bei organisch, psychisch oder Arzneimittel-bedingten Schlafstörungen (Cave: Anticholiner­gika, Diuretika, Glucocorticoide), bei mangelnder Schlafhygiene und schon gar nicht zur Optimierung des Schlafs von Gesunden – weil es nicht hilft. |

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