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Melatonin soll den Schlaf fördern

Unsere innere Uhr ist neben äußeren Einflussfaktoren Taktgeber über Schlafen und Wachen. Dabei sorgen zahlreiche neurophysiologische Vorgänge dafür, dass wir müde werden, verschiedene Schlafstadien wellenförmig durchlaufen, träumen und regenerieren. An der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus ist unter anderem endogenes Melatonin beteiligt, welches in der Epiphyse (Zirbeldrüse) gebildet wird. In Deutschland kann Melatonin als Arzneimittel zur Behandlung von Schlafstörungen nur bestimmten Patientenpopulationen verschrieben werden (Circadin® und Slenyto®). | Von Verena Stahl

Melatonin ist ein Peptidhormon und wird in spezialisierten Zellen der Epiphyse (syn. Glandula pinealis), den Pinealozyten, gebildet (siehe Abb. 1). Es entsteht unter Einfluss von Noradrenalin durch N-Acetylierung und Methoxylierung aus Serotonin bzw. dessen Vorläufer Tryptophan [1]. Die deutsche Bezeichnung der Epiphyse, „Zirbeldrüse“, rührt vermutlich von ihrer Gestalt her, die Anatomen an Zapfen der Zirbelkiefer (Pinus cembra) erinnerte. Das Si­gnal zur Synthese und Freisetzung von Melatonin erhält die Epiphyse unter anderem lichtabhängig, hierzu steht sie über den Hypothalamus mit der Retina in Verbindung (retino-hypothalamischer Trakt, RHT). Eine entscheidende Funktion übernimmt an dieser Stelle der Hauptschrittmacher der inneren Uhr im Bereich des vorderen Hypothalamus, der Nucleus suprachiasmaticus (SNC). Detektieren die Fotorezeptoren der Netzhaut (fotosensitive Ganglienzellen) Licht, bewirkt dies eine Hemmung sympathischer Fasern und dadurch eine Reduktion der Noradrenalin- und nachfolgend der Melatonin-Freisetzung. Bei beginnender Dunkelheit verläuft der Prozess genau umgekehrt: Eine gesteigerte Noradrenalin-Freisetzung wirkt sich positiv auf die Synthese und Sezernierung von Melatonin aus [1]. Die Konzentration des „Schlafhormons“ erreicht für gewöhnlich zwischen zwei und vier Uhr nachts ihren Höhepunkt und fällt anschließend wieder ab, es zeigt sich eine ausgeprägte zirkadiane Rhythmik [2]. In Blut und Liquor verzeichnet man im Maximum Spiegel, die im Vergleich zur Helligkeit um mehr als das Zehnfache höher liegen [3]. Säuglinge sezernieren ungefähr ab dem dritten oder vierten Lebensmonat Melatonin, eine Phase, ab der erste Erfolge beim nächtlichen Durchschlafen verzeichnet werden können. Im Laufe des Lebens nimmt die Melatonin-Sekretion hingegen ab, vermutlich bedingt durch eine altersabhängig zunehmende Calcifizierung der Zirbeldrüse und weiterer Faktoren. Niedrige Melatonin-Spiegel führen allerdings nicht zwangsläufig zu Schlafstörungen.

Abb. 1: Vereinfachte Darstellung des Einflusses von Licht und Dunkelheit auf die Melatonin-Produktion und -freisetzung in der Zirbeldrüse. Werden Photorezeptoren der Netzhaut belichtet, erhält der Hauptschrittmacher unserer inneren Uhr, der Nucleus suprachiasmaticus entsprechende Informationen über den retino-hypothalamischen Trakt. Der über mehrere Synapsen verlaufende Weg führt über das verlängerte Rückenmark und das obere Zervikalganglion zur Zirbeldrüse, wo die Produktion und Sekretion von Melatonin gehemmt wird. Bei beginnender Dunkelheit kommt es umgekehrt zu einer Stimulation der Melatonin-Produktion und anschließendem Übertritt des Peptidhormons in Blut und Liquor.

Wirkweise

Melatonin unterstützt bei Dunkelheit die Schlafbereitschaft des menschlichen Körpers, wirkt aber nicht schlaferzwingend. Zum Vergleich: Auch nachtaktive Tiere wie Nager oder Fledermäuse schütten nachts am meisten Melatonin aus. Exogen zugeführt ist es daher kein klassisches Hypnotikum wie Benzodiazepine oder Z-Substanzen, sondern vorrangig mit einer Erhöhung der Schlafneigung assoziiert [2]. Entscheidend scheint sein Beitrag zur Stabilisierung des Tag-Nacht-Rhythmus zu sein. Hierbei sind retardierte Formulierungen klar von Vorteil, weil sie die natürliche Hormonausschüttung imitieren [4]. Melatonin greift agonistisch an melatonergen MT1- und MT2-Rezeptoren an, welche sich unter anderem im Schrittmacher der inneren Uhr, dem Nucleus suprachiasmaticus (MT1-Rezeptoren) und in der Retina und dem Hippocampus (MT2-Rezeptoren) befinden. Beide Rezeptoren können durch supraphysiologisch hohe Melatonin-Spiegel desensibilisiert werden [3]. Ein unerwünschter Aspekt, der bei missbräuchlichem Gebrauch zu hoher Melatonin-Dosen über einen verlängerten Zeitraum zum Tragen kommen könnte! Pharmakologisch interessant ist die Anwendung des dualen Melatoninrezeptor-Agonisten (DMRA) Tasimelteon (Hetlioz®) bei Blinden, die das sogenannte Nicht-24-Stunden-Schlaf-Wach-Syndrom (kurz Non-24) aufweisen. In Ermangelung einer Hell-Dunkel-Wahrnehmung treten bei etwa jedem Zweiten mit vollständiger Blindheit Abweichungen in den zirkadianen Rhythmen physiologischer Prozesse auf. Dies rührt daher, dass das Lichtempfinden zur Adjustierung der inneren Uhr auf eine Periodenlänge von 24 Stunden pro Tag benötigt wird (vergleiche Terminologie: zirkadian = ungefähr einen Tag lang). Betroffene weisen dann eine fortlaufende Verschiebung der Schlaf- und Wachrhythmen auf. Hier imitiert das seit 2015 als Orphan Drug zugelassene Arzneimittel die Wirkung von endogenem Melatonin und unterstützt bei regelmäßiger Einnahme zu gleichen Uhrzeiten die innere Uhr.

Strenge Indikationen zugelassener Arzneimittel

In Deutschland sind zwei Melatonin-haltige verschreibungspflichtige Arzneimittel im Handel: Circadin® bereits seit 2008, 2019 kam Slenyto® hinzu. Die Präparate sind bei ganz unterschiedlichen Patientengruppen zur Behandlung von Schlafstörungen bestimmt, die Indikation ist dabei streng eingeschränkt.

Circadin® ist bei Personen ab 55 Jahren mit primären Insomnien zugelassen, welche durch schlechte Schlafqualität gekennzeichnet sind [2]. Primäre Insomnien beschreiben Ein- und/oder Durchschlafstörungen, die über mindestens einen Monat andauern, mit einer Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit oder der Leistungsfähigkeit am Tag einhergehen und nicht durch organische oder psychiatrische Grunderkrankungen hervorgerufenen werden. Das Präparat enthält 2 mg Melatonin in retardierter Formulierung und kann für eine Behandlungsdauer von bis zu dreizehn Wochen eingesetzt werden. Wenn man versucht, die altersabhängige Abnahme der endogenen Melatonin-Sekretion bei der Zielgruppe durch exogene Hormonzufuhr zu kompensieren, wäre theoretisch jedoch eine Langzeitanwendung sinnvoll. Für diese oder eine wiederholte Anwendung kürzerer Einnahmeintervalle fehlen allerdings belastbare Studiendaten. Einem Therapieversuch bei Patienten ab 55 Jahren sollten idealerweise gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Schlafhygiene vorausgehen.

Slenyto® ist bei Kindern und Jugendlichen von zwei bis 18 Jahren mit Schlafstörungen zugelassen, die unter einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS, ASD) und/oder dem seltenen genetisch bedingten Smith-Magenis-Syndrom (SMS) leiden [6]. Zuvor müssen Maßnahmen zur Verbesserung der Schlafhygiene ergriffen worden sein, die sich als unzureichend erwiesen haben. Viele Betroffene mit Autismus-Spektrum-Störungen haben veränderte Melatonin-Spiegel. Man geht davon aus, dass ein genetisch bedingter Enzymdefekt im Melatonin-Syntheseweg, der einige Individuen mit einer Autismus-Spektrum-Störung betrifft, hierfür ursächlich ist [7]. Es wurde aber auch postuliert, dass ein verlangsamter Melatonin-Metabolismus durch Einzelnucleotidpolymorphismen im CYP1A2-Gen eine Rolle spielt. Da CYP1A2 für den Melatonin-Abbau verantwortlich ist, könnten erhöhte Melatonin-Spiegel am Tag zu einer Störung der zirkadianen Rhythmik führen [8]. Schlaf­störungen können in dieser vulnerablen Patientengruppe kognitive Leistungsdefizite und Verhaltensprobleme verschlimmern und die Familie auf eine ständige Belastungsprobe stellen. Das Präparat liegt in zwei Wirkstärken vor und enthält entweder 1 mg oder 5 mg retardiertes Melatonin. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt in diesem Indikationsbereich 2 mg und kann bei unzureichendem Ansprechen auf 5 mg gesteigert werden, die Tagesmaximaldosis liegt bei 10 mg. Ärzten wird empfohlen, erstmals nach drei Monaten den Behandlungserfolg zu überprüfen und dann mindestens alle sechs Monate zu beurteilen, ob das Arzneimittel weiterhin indiziert ist. Die Ärzte werden angehalten, es nur bei vorhandenem Benefit für den Patienten weiter zu verordnen.

Studienlage

In einzelnen klinischen Studien mit retardiertem Melatonin konnten bei älteren Patienten mit Schlafstörungen Verbesserungen bezüglich verschiedener Schlafparameter nachgewiesen werden. Gegenüber Placebo konnte es die Einschlafzeit verkürzen, die Gesamtschlafdauer verlängern und die subjektiv bewertbare Schlafqualität verbessern [4]. Zudem war die Melatonin-Einnahme mit einem Anstieg der gesundheitsbezogenen Lebensqualität assoziiert. Die beobachteten Effekte ließen insgesamt auf einen geringen therapeutischen Nutzen schließen. Definitiv fehlen jedoch belastbare, qualitativ hochwertige und nicht gesponsorte Untersuchungen, um die Wirksamkeit von Melatonin bei Insomnien im Allgemeinen zu belegen [9]. Die S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“ agiert konsequent und empfiehlt Melatonin aufgrund geringer Wirksamkeit nicht generell zur Behandlung von Insomnien [10]. Es ist angesichts der auch bei Personen ab 55 Jahren relativ schwachen Studienlage empfehlenswert, die Therapie mit Melatonin durch den Einsatz von Schlaftagebüchern zu begleiten. So kann das individuelle Ansprechen auf die Behandlung z. B. bezüglich unerwünschter Wachperioden, der Schlafdauer und -qualität überprüft und mit dem verordnenden Arzt diskutiert werden.

In einer placebokontrollierten klinischen Studie mit 125 Kindern und Jugendlichen, die unter neurologischen Erkrankungen (einschließlich Autismus-Spektrum-Störungen und Smith-Magenis-Syndrom) litten, zeigten sich in der Melatonin-Gruppe deutliche Effekte auf die Gesamtschlafdauer, die zum Einschlafen benötigte Schlaf­latenz und die Länge der Schlafepisoden ohne Unterbrechung [11]. Die Melatonin-Dosierung betrug in der Verum-Gruppe initial 2 mg und konnte nach drei Wochen bei mangelnder Wirksamkeit auf 5 mg eskaliert werden. Nach einer Anwendungsdauer von 13 Wochen schliefen die Patienten durchschnittlich 58 Minuten pro Nacht länger als vor Therapiebeginn, in der Placebo-Gruppe schliefen die Patienten immerhin neun Minuten mehr. Für die Gesamtschlafdauer ergab sich nach Adjustierung dieser Werte ein Vorteil der Therapie gegenüber Placebo von 32,43 Minuten (p = 0,034). Darüber hinaus schliefen Kinder unter Melatonin-Einnahme etwa 40 Minuten früher als normal ein, ohne entsprechend früher aufzuwachen, während Kinder, die ein Placebo erhielten, circa 13 Minuten schneller einschliefen. Dies ist insofern beachtlich, da bei den untersuchten Kindern die mittlere Schlaflatenzzeit zu Studienbeginn erschreckend lange anderthalb Stunden betrug (95,2 Minuten in der Slenyto®- und 98,8 Minuten in der Placebogruppe) [11].

Einnahmehinweise

Damit es die innere Uhr bestmöglich unterstützen kann, muss Melatonin nach Ansicht von Experten mit hoher Konstanz zum gleichen Zeitpunkt eingenommen werden [5]. Der optimale Einnahmezeitpunkt variiert interindividuell und muss im klinischen Alltag gefunden werden. Die Empfehlung in der Fachinformation von Circadin® lautet dementsprechend wenig konkret, das Präparat ein bis zwei Stunden vor dem Zubettgehen einzunehmen [2]. Den jungen Slenyto®-Anwendern wird empfohlen, das Präparat am Abend einzunehmen, 30 bis 60 Minuten vor dem Zubettgehen [6]. Auch hier ist eine pünktliche Einnahme zu einer individuell festzulegenden Uhrzeit ratsam, ebenso wie eine darauf abgestimmte, möglichst konstante Bettgehzeit und die Befolgung von Schlafroutinen. Durch Mahlzeiteneinfluss kommt es zu einer Resorptionsverzögerung von Melatonin, die erreichte Spitzenkonzentration verschiebt sich im Vergleich zum Nüchternzustand um ein bis zwei Stunden nach hinten [2, 6]. In der Fachinformation von Circadin® wird empfohlen, das Präparat nach der letzten Mahlzeit einzunehmen [2]. Leider wird keine Aussage darüber getroffen, welcher Abstand zu Mahlzeiten empfehlenswert ist, um eine Resorptionsverzögerung so gut es geht zu vermeiden. Bei Slenyto® wird hingegen eine Resorptionsverzögerung scheinbar in Kauf genommen, vermutlich wegen der zeitlichen Nähe des Abendessens und Schlafengehens bei Kindern. In der Packungsbeilage wird empfohlen, „die Tabletten nach dem Abendessen, das heißt auf vollen Magen“ einzunehmen [12], in der Fachinformation findet sich der Hinweis, diese mit oder nach der Mahlzeit einzunehmen [6]. Besonders wichtig ist aber der Hinweis, die Tabletten im Ganzen zu schlucken, um das Retardierungsprinzip nicht durch Teilen, Zerdrücken oder Zerkauen zu zerstören. Die nur 3 mm im Durchmesser großen und geruchs- und geschmacksneutralen Slenyto®-Mini­tabletten lassen sich besonders gut schlucken (Abb. 2), können aber auch zur weiteren Erleichterung und Förderung der Therapietreue in Joghurt oder Eiscreme gegeben werden (dann unmittelbar verabreichen und nicht kauen!).

Foto: InfectoPharm Arzneimittel und Consilium GmbH

Abb. 2: Einfache Applikation Mit einem Durchmesser von nur 3 mm steht eine Minitablette mit retardiertem Melatonin ­(Slenyto®) zur Verfügung, die auch von Kindern leicht eingenommen werden kann. Zum Vergleich: ein tic®tac-Lutsch­dragee.

Interaktionen beachten

Melatonin wird extensiv hepatisch über Isoenzyme der Cytochrom-P450-Unterfamilie CYP1A verstoffwechselt. An der Entstehung des inaktiven Hauptmetaboliten 6-Sulfatoxymelatonin (6-SMT) ist möglicherweise auch CYP2C19 mitbeteiligt. Im Falle einer Leberzirrhose ist die Melatonin-Clearance folglich herabgesetzt, tagsüber zeigten sich deutlich erhöhte endogene Spiegel [2]. Daher sollte Melatonin bei Personen mit Leberinsuffizienz nicht eingesetzt werden, auch mangels Erfahrungen in dieser Personengruppe. Die Biotransformation über die Leber hat aber auch Auswirkungen auf den Bereich der pharmakokinetischen Arzneimittelinteraktionen, wenn weitere Arzneimittel des Patienten auf CYP1A hemmend oder induzierend wirken (siehe Tab. 1). Besondere Aufmerksamkeit sollte man dem Rauchstatus schenken und im Hinterkopf haben, dass nicht nur der Raucher selber von der potenziellen Arzneimittelinduktion und gegebenenfalls -deinduktion bei Rauchstopp betroffen ist. Auch Kinder, die Passivrauch ausgesetzt sind, zeigen veränderte Wirkspiegel von CYP1A2-Substraten (vergleiche Theophyllin), wenn ihre Eltern mit dem Rauchen anfangen oder damit aufhören. Daher sollten Eltern von Slenyto®-Anwendern den Arzt informieren, wenn sie oder das Kind während der Behandlung mit dem Rauchen anfangen oder aufhören [6]. Neben der zu vermeidenden Kombination mit Fluvoxamin sollte Melatonin aufgrund von pharmakodynamischen Wechselwirkungen auch nicht gleichzeitig mit Alkohol, Benzodiazepinen/Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika, Thioridazin und Imipramin angewendet werden. Beispielsweise schwächt Alkohol die Wirkung von Melatonin auf den Schlaf ab. Hingegen können die sedierenden Eigenschaften von Benzodiazepinen und Z-Substanzen verstärkt werden, mit negativen Auswirkungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistung und Koordination. Bei gleichzeitiger Anwendung mit Thioridazin zeigte sich im Vergleich zur Thioridazin-Monotherapie eine vermehrte Benommenheit und bei gleichzeitiger Anwendung von Melatonin mit Imipramin wurden im Vergleich zur Imipramin-Monotherapie eine übermäßige ­Ruhigstellung und Schwierigkeiten in der Bewältigung von Aufgaben festgestellt [2].

Tab. 1: Pharmakokinetische Wechselwirkungen Mögliche Hemmung oder Induktion des Melatonin-Metabolismus über CYP1A- und gegebenenfalls CYP2C19-Enzyme [2, 6].
Wirkstoff
Auswirkung auf den Melatonin-Spiegel
Maßnahme
Enzyminhibition durch CYP1A2- oder CYP2C19-Hemmer
Fluvoxamin
17-fach größere AUC
Kombination vermeiden
5- oder 8-Methoxy­psoralen (5 und 8-MOP)
Vorsicht geboten
Cimetidin
Estrogene (Kontrazeptiva oder Hormon­therapie)
Fluorchinolone:Ciprofloxacin und Norfloxacin
Enzyminduktion durch CYP1A2-Induktoren
Zigarettenrauchen
Vorsicht geboten, Dosis­anpassung erwägen
Carbamazepin
Rifampicin

Off-Label-Use bei REM-Schlaf-­Verhaltensstörung

Bei der sogenannten REM-Schlaf-Verhaltensstörung erleben die meist männlichen Betroffenen ihre Träume und Albträume sehr aktiv – sie wehren sich beispielsweise lautstark und mit Fäusten und Tritten vor vermeintlichen Angreifern oder versuchen zu flüchten. Dabei verletzen sie sich durch wilde Bewegungen der Extremitäten am Bett oder am Nachttisch oder stellen eine Gefahr für ihre Bettpartner dar. Normalerweise sind lebhafte Aktivitäten im REM-Schlaf nicht möglich, da die quergestreifte Muskulatur in dieser Schlafphase im Sinne eines Schutzreflexes gelähmt ist (Atonie). Bei Betroffenen mit einer rapid eye movement sleep behavior disorder (RBD) ist die Hemmung der Motorik jedoch teilweise aufgehoben. Man nimmt an, dass REM-Schlaf-Verhaltensstörungen ein Frühstadium neurodegenerativer Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder einer Lewy-Körperchen-Demenz darstellen. Ob sich durch die Off-Label-Einnahme von Melatonin ein möglicher Krankheitsbeginn verzögern lässt, soll durch Studien geklärt werden. Therapeutisch wird das interaktions- und nebenwirkungsträchtige Clonazepam zur Reduktion der muskulären Aktivität im REM-Schlaf eingesetzt, Melatonin gilt seit 2005 als vielversprechender Therapieversuch im Off-Label-Bereich [5].

Einfach mal abschalten

Genau vor 40 Jahren wurde die Erkenntnis gewonnen, dass nächtliche Melatonin-Spiegel durch starken und länger anhaltenden Lichteinfluss (2500 Lux für zwei Stunden) bis auf Tagesniveau abgesenkt werden können [13] (siehe auch neuere Experimente, Abb. 3). Die Unterdrückung der nächtlichen endogenen Melatonin-Produktion setzte dabei sehr schnell innerhalb weniger Minuten ein. Nach Ausschalten der künstlichen Lichtquelle, die heller Sonneneinstrahlung entsprach, stieg die Melatonin-Produktion im Schlaf wieder an [4]. Diese ersten Überlegungen zum Einfluss von künstlichem Licht auf die Melatonin-Sekretion wurden in der jüngeren Gegenwart durch einen anderen Aspekt wieder aufgegriffen: Die stark verbreitete Nutzung von Smartphones, Tablets oder Computern zur Schlafenszeit lassen viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht zur Ruhe kommen. Zu spannend sind die Videos, Nachrichten, Chats oder „Informationen“ in den sozialen Medien. Aber nicht nur durch digitale Ablenkungen und den Irrglauben, ständig erreichbar zu sein, wird das Einschlafen erschwert, auch die Melatonin-Ausschüttung leidet unter der späten und ausgedehnten Bildschirmnutzung. Die Geräte strahlen meist helles, kurzwelliges Licht mit hohem Blauanteil aus (446 bis 483 nm), sogenanntes blue light, wodurch Melatonin nur langsam und verzögert gebildet wird [15]. Vielfach haben Smartphone-Hersteller bereits reagiert und bieten den Verbrauchern an, generell oder in einem bestimmten Zeitfenster blaues Licht herauszufiltern (Nachtmodus). Noch besser erscheint jedoch eine Änderung der Lebensgewohnheiten: einfach mal abschalten, das sollte im Zusammenhang mit Bildschirmgeräten wörtlich genommen werden. |

Abb. 3:Melatonin-Sekretionsprofil aus Speichelproben eines jungen Erwachsenen während 24 Stunden in konstantem Dämmerlicht. Der abendliche Anstieg der Melatonin-Konzentration ist mit einem Pfeil gekennzeichnet (20:30 Uhr). Gegen 8:00 Uhr ist das niedrige Tagesniveau wieder erreicht (A). Die Melatonin-Sekretion im Dämmerlicht wird durch sehr helle Lichtexposition (gelbes Rechteck, 4000 Lux von 24:00 bis 02:00 Uhr) schnell und ausgeprägt verringert, steigt nach Ausschalten der künstlichen Lichtquelle aber wieder an (B), adaptiert nach [14].


Literatur

 [1] Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T, Hinz B, Ruth P. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Pharmakologie – Klinische Pharmakologie – Toxikologie. 11., völlig neu bearbeitete Auflage 2020, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

 [2] Fachinformation Circadin® 2 mg Retardtabletten (Melatonin). RAD Neurim Pharmaceuticals EEC SARL. Stand der Information: September 2019

 [3] Wurtman R et al. Physiology and available preparations of melatonin. UpToDate. www.uptodate.com/contents/physiology-and-available-preparations-of-melatonin

 [4] Lyseng-Williamson KA. Melatonin Prolonged Release in the Treatment of Insomnia in Patients Aged ≥ 55 years. Drugs Aging 2012;29:911–923

 [5] Kunz D. Melatonin taktet die innere Uhr neu. Neurologie & Psychiatrie 2012;14(1):38–43

 [6] Fachinformation Slenyto® 1 und 5 mg Retardtabletten. RAD Neurim Pharmaceuticals EEC SARL. Stand der Information: Mai 2020

 [7] Melke J et al. Abnormal melatonin synthesis in autism spectrum disorders. Mol Psychiatry 2008;13(1):90-98, doi: 10.1038/sj.mp.4002016

 [8] Braam W et al. CYP1A2 polymorphisms in slow melatonin metabolisers: A possible relationship with autism spectrum disorder? J Intellect Disabil Res 2013;57:993–1000

 [9] Gringras P et al. Efficacy and Safety of Pediatric Prolonged-Release Melatonin for Insomnia in Children With Autism Spectrum Disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2017;56(11):948-957.e4

[10] Auld F et al. Evidence for the efficacy of melatonin in the treatment of primary adult sleep disorders, Sleep Medicine Reviews 2016, doi: 10.1016/j.smrv.2016.06.005

[11] Riemann D et al. Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen – Kapitel „Insomnie bei Erwachsenen“. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, AWMF-Registernummer 063-003, Update 2016, Somnologie 2017;21:2–44

[12] Gebrauchsinformation Slenyto® 1 und 5 mg Retardtabletten. Infectopharm Arzneimittel und Consilium GmbH, Stand der Information: Mai 2020

[13] Lewy AJ et al. Light suppresses melatonin secretion in humans. Science 1980;210(4475):1267-1269

[14] Münch MY. Die Untersuchung von chronobiologischen Aspekten nicht-visueller Lichtwirkungen beim Menschen. Habilitationsschrift Charité Universitätsmedizin Berlin 2015. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/10741/Habil_M_Muench.pdf?sequence=1&isAllowed=y, Abruf 12. November 2020

[15] Shechter A et al. Blocking nocturnal blue light for insomnia: A randomized controlled trial. J Psychiatr Res 2018;96:196-202, doi: 10.1016/j.jpsychires.2017.10.015

Autorin

Dr. Verena Stahl ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landesweiten Drug Information and Pharmacy Resource Center ausgebildet. Ihre berufsbegleitende Dissertation fertigte sie zu einem Thema der Arzneimitteltherapiesicherheit an.

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