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Die Entdeckung der Quasikristalle

Als Dan Shechtman 1982 die Quasikristalle entdeckte, hat er die Kristallografie in Aufregung versetzt. Heute sind Quasikristalle ein eigenes Forschungsfeld. Es ist allerdings sehr schwierig, die Struktur dieser besonderen Festkörper zu verstehen.
Foto: J.W. Evans
Atommodell eines Aluminium-Palladium-Mangan-Quasikristalls Aus: Ünal B, et al. Physical Review B 2007;75. Foto: J.W. Evans, The Ames Laboratory, US Department of Energy

"Verbotene" Symmetrien

Dan Shechtman hatte bereits zwei Jahre einen schweren Stand, als er 1984 gemeinsam mit drei Mitstreitern die Physiker dieser Welt mit Quasikristallen konfrontierte. Der Titel ihrer damaligen Publikation lautet frei übersetzt: "Metallische Phase mit Fernordnung, aber ohne Translationssymmetrie". Damals war der Begriff "Quasikristall" noch nicht geboren.

Zwei Jahre zuvor hatte Shechtman vor seinem Elektronenmikroskop in Gaithersburg (bei Washington) gesessen und hier im Zentrum für Materialwissenschaften seinen neuen Kristall aus Aluminium und zehn bis 14 Prozent Mangan untersucht. Er hatte die Schmelze der Legierung gegen eine rotierende Scheibe gespritzt und damit abrupt um über 1 Million °C abgekühlt, damit sie amorph erstarrt. Denn es war bekannt, dass die sehr schnelle Abkühlung den Atomen keine Zeit lässt, Kristalle auszubilden.

Als Shechtman sich das Beugungsmuster, das die Gamma- oder Röntgenstrahlen hervorrufen, am Bildschirm ansah, zählte er zehn Punkte rund um einen zentralen Punkt. Diese Punkte zeigen nicht die einzelnen Atome an, sondern spiegeln die Symmetrie des Kristallgitters wider. Er zählte noch einmal und kam wieder auf die Zehn. Eine solche radiale Struktur konnte es bei Kristallen aber nicht geben, denn sie passt zu keiner Gittersymmetrie. Das war zunächst für Shechtman selbst ein Schock, aber noch viel mehr für seine Fachkollegen weltweit. Immerhin 70 Jahre lang, seitdem Beugungsmuster von Kristallen sichtbar gemacht werden konnten (erstmals 1912 durch von Max von Laue, 1879 – 1960; Nobelpreis 1914), zeigte sich stets ein periodisches Muster, ob bei Metallen, Mineralien oder Keramiken. Und im Jahr 1985 bekamen Herbert Hauptman und Jerome Karle den Nobelpreis für die mathematische Bestimmung der Kristallstruktur. Deren Arbeiten waren zwar schon fast 30 Jahre alt, aber immer noch preiswürdig.

Die bis heute gültige Definition aller Kristalle lautet: Ein Kristall besteht aus regelmäßig angeordneten identischen Bausteinen, die sich in einem dreidimensionalen Muster wiederholen. Die Bausteine (oder Elementarzellen) können theoretisch unendlich oft auf‑, neben- und übereinander geschichtet werden, ohne dass Lücken entstehen. Eine Mauer kann man sich als Kristall aus identischen Quadern vorstellen. Dreht man einen Quader um 180° an seinen drei Rotationsachsen, die senkrecht und mittig zu den Oberflächen stehen, geht er in eine zur Ausgangslage identische Position über.

Kristalle haben eine Nah- und eine Fernordnung: Die Position einer Elementarzelle bestimmt nicht nur die Position der benachbarten Elementarzelle (Nahordnung), sondern auch die der weit entfernten Elementarzellen (Fernordnung).

Je nach ihrer Struktur haben Kristalle Rotationssymmetrien mit zwei, drei, vier oder sechs Achsen. Bereits 1848 hatte der Franzose Auguste Bravais (1811 – 1863) erkannt, dass es im dreidimensionalen Raum nur 14 verschiedene Elementarzellen geben kann, die die Eigenschaften eines Kristalls erfüllen, die er so definierte: Die Elementarzelle ist die einfachste sich wiederholende Einheit eines Kristalls. Die sich gegenüberstehenden Flächen der Elementarzellen sind parallel. Jeder Rand einer Elementarzelle verbindet äquivalente Stellen.

Vom Schachbrett …

Auf die Zweidimensionalität reduziert, kann ein Kristall wie ein Schachbrett aussehen. Das einzelne Feld bestimmt die Lage nicht nur des benachbarten Feldes in der Nahordnung, sondern die aller anderen Felder in der Fernordnung. Dabei besitzt es vier Rotationsachsen (wenn man es um 180° dreht, erhält man ein identisches Bild).

Die Honigwabe besteht aus lauter sechseckigen Hohlräumen. Sie weist dementsprechend sechs Rotationssymmetrien auf, bei denen bei jeder regelmäßigen Rotationsspiegelung keinerlei Lücken zwischen den "Bausteinen" entstehen.

Bei amorphem (d. h. nichtkristallinem) Glas klingt die Nahordnung nach wenigen Perioden der atomaren Bausteine ab. Jedes Siliciumatom ist tetraedrisch von vier Sauerstoffatomen im Abstand von 1,62 Angström umgeben. Es bildet sich aber keine regelmäßige Struktur. Zu einem Kristall fehlt dem Glas somit die Fernordnung.

… zum Penrose-Parkett

Shechtmans Kristall zeigte eine fünffache Rotationssymmetrie und die räumliche Struktur eines Ikosaeders. Das ist ein Würfel mit zwanzig Oberflächen. Das Beugungsmuster sprach für eine innere Ordnung dieser Ansammlung von Ikosaedern. Das Problem war unter anderem, dass das diese Ordnung aperiodisch sein musste. Denn wenn man Ikosaeder in einem regelmäßigen Gitter schichtet, entstehen Lücken.

Der englische Mathematiker Roger Penrose hatte diese Problematik bereits 1973 mit seiner Penrose-Parkettierung theoretisch durchdacht. Er konnte zeigen, dass mit fünfeckigen Fliesen eine aperiodische Ordnung entsteht, die "unzulässige" Muster ergibt. Sein Parkett, das man als zweidimensionalen Quasikristall auffassen kann, zeigt sowohl eine Nah- als auch eine Fernordnung, aber nicht die bei Kristallen gegebene Translationssymmetrie (d. h. man kann eine Elementarzelle nicht um eine Position im Kristallgitter verschieben).

Die Periodizität der Quasikristalle ist wegen ihrer mangelhaften Nahordnung schwer zu erkennen. Die Penrose-Parkettierung zeigt das sehr anschaulich. Aus der Nähe betrachtet, ist zunächst keine regelmäßige Ordnung zu erkennen, da eben Lücken zwischen den Elementarbausteinen bestehen. Erst ab einer gewissen Anzahl von Elementarbausteinen wird erkennbar, dass die komplexen Muster wiederkehren.

Mut zur Lücke

Shechtman veröffentlichte seine Ergebnisse trotz der großen Skepsis unter seinen Fachkollegen weltweit. Seine Leistung besteht also nicht nur in der Entdeckung und der korrekten Deutung der Quasikristalle. Das Nobelkomitee würdigte auch, dass Shechtman deren Bedeutung sofort erkannte und ihre Existenz gegen alle Widerstände der Skeptiker verteidigte. Er löste dadurch nicht nur eine sehr lebhafte Debatte aus, sondern auch enorme Aktivitäten, weitere Quasikristalle zu synthetisieren. Innerhalb weniger Jahre gelang es, Quasikristalle mit fünf-, zehn- oder zwölfzähliger Symmetrie herzustellen. Darüber hinaus sind innerhalb jeder Symmetrieklasse der Quasikristalle verschiedene Hyperraumgruppensymmetrien entdeckt worden. Beispielsweise liegen die ikosaedrischen Quasikristalle in den Typen P und F vor.

Das erste natürliche quasikristalline Mineral ist auf Kamtschatka entdeckt worden. Es ist die Aluminium-Kupfer-Eisen-Legierung Ikosaedrit (Al63 Cu24 Fe13).

Hyperräume

Zur vollständigen Beschreibung eines echten Kristalls ist der dreidimensionale Raum ausreichend. Bei aperiodischen Kristallen, zu denen die Quasikristalle zählen, sind mehr Dimensionen notwendig. Als erstes Mineral wurde das Calaverit (AuTe2) als aperiodisch identifiziert. Hier traten Beugungsmuster auf, die sich nicht mit ganzen Zahlen ausdrücken ließen. Der Kristall ließ sich also nicht mit einer einzigen dreidimensionalen Elementarzelle beschreiben, sondern nur mithilfe einer vierten Dimension.

Bei den Quasikristallen sind sogar bis zu sechs Dimensionen für die korrekte Beschreibung nötig. Man spricht von Hyperräumen. Der deutsche Physiker Carl Herrmann (1898 – 1961) hatte schon 1949 an der Universität Marburg einen Hyperraumformalismus entwickelt, um die modulare Struktur der Kristalle auf nichtkristalline Strukturen anzuwenden. Er beschrieb, wie nichtkristallografische Symmetrien eines dreidimensionalen Gitters kristallografisch darstellbar werden, wenn man sie in höherdimensionale Räume hebt.

Die zu Beginn der Erforschung der Quasikristalle erhobene Frage "Wo sind eigentlich die Atome?", kann heute mathematisch nur annähernd beantwortet werden (d. h. die theoretischen Modelle sind nach wie vor approximativ).

Perspektiven

Der erste stabile Quasikristall wurde 1987 aus einer Fe-Cu-Al-Legierung hergestellt. Im Jahr 2000 kam dann der Durchbruch mit binären Legierungen aus Kohlenstoff und Cadmium sowie aus Ytterbium und Cadmium. Später wurden Quasikristalle aus dendrimeren Flüssigkristallen und aus Polymeren erzeugt. Nanopartikel lassen sich selbstorganisierend zu quasikristallinen Strukturen aufbauen. Durch den Zuschlag von Quasikristallen wird Stahl sehr fest und beständig (wird bereits für chirurgische Werkzeuge genutzt). Auch zur Beschichtung und als Katalysatoren bei der Dampfreformierung von Methanol sollen Quasikristalle eingesetzt werden. Die Erforschung der Quasikristalle steht aber erst am Anfang.


Thema im Netz


Quasicrystal Research: Film von Alexander Tuschinski, Universität Stuttgart
http://vimeo.com/29590068

Website von Paul Steinhardt
www.phy.princeton.edu/~steinh/quasicrystals.html

Nichtperiodische Parkettierung
www.schoenleber.org/penrose/f-d-penrose.html


Literatur

Dan Shechtman, et al. Metallic Phase with Long-Range Orientational Order and No Translational Symmetry. Phys Rev Lett 1984;53(20):1951– 1953.

Horst Hänsel, Werner Neumann. Physik. Spektrum, Heidelberg 1996.

Dov Levine, Paul Steinhardt. Quasicrystals: A New Class of Ordered Structures. Phys Rev Lett 1984:53(26):2477– 2480

Carl Herrmann. Kristallographie in Räumen beliebiger Dimensionszahl. 1. Symmetrieoperationen. Acta Crystallographica 1949;2(3):139– 145.


Autor
Dr. Uwe Schulte, Osterholzallee 82, 71636 Ludwigsburg, E-Mail: schulte.uwe@t-online.de



DAZ 2011, Nr. 43, S. 104

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