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Dipyridamol plus ASS bei Schlaganfall ohne Vorteil?

Dipyridamol plus ASS (Aggrenox®) ist einer Monotherapie mit ASS oder Clopidogrel in der Sekundärprophylaxe des Schlaganfalls nicht überlegen, im Gegenteil. Die Kombination soll vor allem das Risiko für schwere Blutungen erhöhen. Das ist die Quintessenz eines soeben veröffentlichten Abschlussberichts des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Diese Bewertung kann der Hersteller von Aggrenox® , Boehringer Ingelheim, nicht nachvollziehen. Man sieht einen Widerspruch zu deutschen und internationalen Leitlinien (s. Stellungnahme). Prof. Dr. Matthias Endres, Direktor der Klinik für Neurologie, Charité Berlin, und Vorstandsmitglied der Deutschen Schlaganfallgesellschaft, kritisiert die Art der Studienbewertung und plädiert dafür, die Verordnungsfähigkeit für das Kombinationspräparat zu erhalten.

Im Rahmen von Aufträgen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hatte das IQWiG zunächst den Nutzen von Clopidogrel im Vergleich zu ASS in der Sekundärprävention des Schlaganfalls bewertet und war zu dem Schluss gekommen, dass Clopidogrel gegenüber ASS keine Vorteile aufweist. Wie Clopidogrel und ASS ist Dipyridamol plus ASS für die Sekundärprävention des ischämischen Schlaganfalls zugelassen.

Im Juli 2009 hatte der G-BA das IQWiG beauftragt, eine Nutzenbewertung einer Dipyridamol/ASS-Behandlung in der Sekundärprävention nach ischämischem Schlaganfall oder TIA im Vergleich zu einer anderen medikamentösen Behandlung oder Placebo hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte durchzuführen.

Die ausgewerteten Studien

Dazu hat das IQWiG eine placebokontrollierte und zwei ASS-kontrollierte Kurzzeitstudien mit einer Dauer von sieben bis 30 Tage sowie drei länger dauernde Studien mit Beobachtungszeiträumen zwischen einem und 4,5 Jahren ausgewertet. In einer Langzeitstudie war ASS plus Dipyridamol mit ASS, in einer zweiten mit Clopidogrel und in einer dritten mit Placebo und ASS verglichen worden.

Das Fazit

In seiner Nutzenbewertung kommt das IQWiG zu dem Schluss, dass es zwar einen Hinweis auf einen Nutzen der Kombinationsbehandlung mit Dipyridamol plus ASS bezüglich der Verhinderung nicht-tödlicher Schlaganfälle und transitorisch ischämischer Attacken in der Langzeittherapie (Behandlungsdauer mindestens 12 Monate) gebe, jedoch keinen Beleg dafür, dass die Kombinationsbehandlung die Mortalität reduziert. Dem Hinweis auf einen Nutzen würden Hinweise auf einen Schaden durch das Auftreten von schwerwiegenden und nicht schwerwiegenden Blutungen, Studienabbrüchen wegen unerwünschter Ereignisse sowie unerwünschten Ereignissen insgesamt gegenüberstehen.

Weiterhin sieht das IQWiG keinen Beleg dafür, dass die Kombinationsbehandlung mit Dipyridamol plus ASS einen Zusatznutzen gegenüber einer Monotherapie mit ASS oder Clopidogrel hat. Dem fehlenden Zusatznutzen steht nach Auffassung des IQWiG ein größerer Schaden insbesondere aufgrund häufiger auftretender schwerwiegender Blutungen in der Langzeittherapie gegenüber.

Diskussion um ESPRIT-Studie

Nicht eingeschlossen wurde die sogenannte ESPRIT-Studie (s. a. Stellungnahmen von Boehringer-Ingelheim und Prof. Dr. Matthias Endres). Begründet wird dies damit, dass die Wirkstoffe in dieser Studie weder im Prüf- noch im Kontrollarm entsprechend der Zulassung in Deutschland eingesetzt worden sind. So hätte Dipyridamol sowohl in freier Kombination als auch als Fixkombination verabreicht werden können. Zudem sei ASS anders, in der Regel niedriger dosiert, worden.

Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG, erklärte, dass man mangels geeigneter Studien nicht wisse, ob die unterschiedlichen Dosierungen von ASS gleichwertig waren, insbesondere auch dann, wenn ASS zusammen mit Dipyridamol gegeben wurde.

Das IQWiG habe aber geprüft, wie sich ein Einschluss der Ergebnisse der ESPRIT-Studie auswirken würde: "Am Fazit des Berichts hätte sich auch dann nichts geändert", so Kaiser.


Quelle

IQWiG-Abschlussbericht vom 14. Februar 2011

Pressemitteilung des IQWiG vom 11. April 2011


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Prof. Dr. Matthias Endres

Stellungnahme: "Nicht alle Studien angemessen berücksichtigt!"


Der G-BA hat das IQWiG mit der Bewertung von Dipyridamol plus ASS zur Sekundärprävention nach Schlaganfall oder TIA beauftragt. Hierbei kommt das IQWiG in seinem nun vorgelegten Abschlussbericht zu dem Schluss, dass es einen Nutzen für die Kombinationsbehandlung mit Dipyridamol plus ASS bezüglich der Verhinderung nicht-tödlicher Schlaganfall und TIAs in der Langzeittherapie gibt (d. h. Behandlungsdauer mindestens 12 Monate), jedoch keinen Beleg, dass die Kombination die Mortalität reduziert; zudem liegen Hinweise auf einen Schaden durch das Auftreten von Blutungen und unerwünschten Ereignissen vor. Zusammenfassend sieht das IQWiG keinen Zusatznutzen für die Kombinationsbehandlung mit Dipyridamol plus ASS vs. einer Monotherapie (ASS oder Clopidogrel).

Bei der vom IQWiG verwendeten Methodik fällt auf, dass wichtige Studien, wie insbesondere die im Lancet 2006 publizierte ESPRIT-Studie gar nicht berücksichtigt wurden (industrieunabhängig, offenes Studiendesign, verblindete Endpunkte). Die Studie war zur Überprüfung der ESPS-2-Zulassungsstudie initiiert worden und wurde in einer Reihe von Metaanalysen u. a. der "Cochrane Collaboration" ebenso berücksichtigt wie in vielen Leitlinien (wie der American Heart Association, der European Stroke Organisation oder der Deutschen Gesellschaft für Neurologie). Somit wurden nicht alle vorhandenen Studien angemessen berücksichtigt.

Das IQWiG kommt zu dem Schluss, dass in der Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses kein Zusatznutzen für die Kombinationsbehandlung besteht. Hierbei resultiert die Bewertung des Schadens durch höhere Blutungsraten jedoch im Wesentlichen aus dem Vergleich gegenüber Clopidogrel (ein Ergebnis der Profess Studie, während die ESPS-2 wie auch die ESPRIT-Studie keinen Nachteil der Kombination gegenüber ASS gezeigt haben). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in der Profess-Studie der Netto-Nutzen der Kombinationsbehandlung gleich dem Netto-Nutzen einer Clopidogrel-Behandlung war, da zwar die Zahl der Hirnblutungen unter der Kombination höher war, die Zahl der ischämischen Schlaganfälle dafür aber niedriger war.

Als Konsequenz der Nutzenbewertung steht eine Verordnungseinschränkung der Kombinationsbehandlung Dipyridamol + ASS zu befürchten, was einen Nachteil für viele Schlaganfallpatienten bedeuten würde. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sowie der Deutschen Schlaganfallgesellschaft empfehlen den Einsatz der Kombinationsbehandlung (oder von Clopidogrel) bei Schlaganfallpatienten mit einem hohen Rezidivrisiko. Im Sinne dieser Patienten sollte die Kombinationsbehandlung auch zukünftig zur Verhinderung weiterer Schlaganfälle verordnet werden können.


Prof. Dr. Matthias Endres, Direktor der Klinik für Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Charitéplatz 1, 10117 Berlin

Mögliche Interessenskonflikte
Prof. Dr. Matthias Endres ist 3. Vorsitzender der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG) sowie Direktor am Centrum für Schlaganfallforschung Berlin (CSB), das durch das BMBF gefördert wird. Er ist und war in einer Reihe von "Advisory Boards" zu Schlaganfallthemen aktiv, u. a. für die Firmen Bayer, Sanofi-Aventis, Pfizer sowie Boehringer Ingelheim.


Stellungnahme von Boehringer Ingelheim


In Deutschland gibt es nur ein Arzneimittel, das eine Kombination der beiden Wirkstoffe 200 mg Dipyridamol und 50 mg Acetylsalicylsäure (ASS) enthält. Aggrenox® ist in Deutschland und mehr als 60 weiteren Ländern zugelassen zur Sekundärprävention von ischämischen Schlaganfällen und transitorischen ischämischen Attacken (TIA). Aus Sicht des forschenden Arzneimittelherstellers Boehringer Ingelheim ist die Analyse und Bewertung des IQWiG zur Nutzen-Risiko-Bilanz von Aggrenox® nicht nachvollziehbar. Dafür gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Gründen:

  • Die Bewertung des IQWiG [1] basiert auf einer Auswahl von Studien, die sich von allen anderen wissenschaftlichen Metaanalysen zur Bewertung von Aggrenox® unterscheidet. So wurden die Studien zu den beiden Vergleichstherapien Clopidogrel und ASS zusammengefasst (Aggrenox® wurde also nicht allein im Vergleich mit ASS betrachtet). Die für die deutsche Zulassungsbehörde relevante Studie ESPRIT [2] wurde im Abschlussbericht des IQWiG nicht berücksichtigt, wohingegen eine für Deutschland nicht zulassungsrelevante japanische Studie (JASAP [3]) in die Bewertungen mit einging [4].

  • In Aggrenox® werden mit ASS und Dipyridamol zwei Wirkstoffe kombiniert, die jeder für sich in der Sekundärprävention des ischämischen Schlaganfalls wirksam, d. h. einer Placebogabe überlegen waren (Studie ESPS-2) [5]. Die Kombination beider Wirkstoffe war erwiesenermaßen doppelt so wirksam wie die einzelnen Wirkstoffe ASS bzw. Dipyridamol. Für nicht-tödliche Schlaganfälle sowie für tödliche und nicht-tödliche Schlaganfälle insgesamt ist ein signifikanter Vorteil der Kombination von Dipyridamol plus ASS gegenüber ASS nachgewiesen.

  • Das Blutungsrisiko unter der Kombination von Dipyridamol plus ASS unterschied sich nicht von dem unter der Monotherapie mit ASS. Eine zweite, unabhängig finanzierte Studie (ESPRIT) hat die signifikante Überlegenheit einer Kombinationsbehandlung mit Dipyridamol und ASS im Vergleich zu einer Monotherapie mit ASS bestätigt. Auch hier war das Blutungsrisiko unter der Kombination nicht erhöht. Ein erhöhtes Blutungsrisiko war lediglich in einer einzigen direkten Vergleichsstudie von Aggrenox® mit Clopidogrel (PRoFESS [6]), nicht aber im Vergleich zu ASS aufgetreten.

  • Die Fachinformation von Aggrenox® [7], die auf den deutschen Zulassungsunterlagen beruht, führt zwei Studien an (ESPS-2 und ESPRIT), die die signifikante Überlegenheit einer Kombinationsbehandlung von niedrigdosiertem ASS und Dipyridamol bei der Verhinderung von Schlaganfällen nach einer zerebralen Ischämie nachweisen. Eine weitere Studie (PRoFESS) hat eine vergleichbare Wirksamkeit zu Clopidogrel gezeigt.

Die Überlegenheit von Aggrenox® gegenüber ASS wird auch in nationalen und internationalen Leitlinien [8 -12] gewürdigt. Die Bewertungen wurden für den IQWiG-Bericht offensichtlich nicht berücksichtigt. "Die Argumentation des IQWiG steht im Widerspruch zu den deutschen und internationalen medizinischen Leitlinien", erklärt Prof. Christian Gerloff, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universität Hamburg.

Nationale und internationale Zulassungsbehörden kamen ebenfalls zu einem anderen Ergebnis als das IQWiG. Die überlegene Therapie mit Dipyridamol plus ASS zur Sekundärprävention von ischämischen Schlaganfällen und transitorischen ischämischen Attacken (TIA) ist weltweit in mehr als 60 Ländern zugelassen. Das günstige Nutzen-Risiko-Verhältnis von Aggrenox® steht bei keiner Zulassungsbehörde in Frage.

  • Ein umfangreiches Studienprogramm hat die Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität von Aggrenox® nachgewiesen. "Das Nutzen-Risiko-Profil von Aggrenox® ist unverändert positiv", betont Dr. Sieghard Gera, Leiter Medizinische Wissenschaft, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG. Boehringer Ingelheim sei überzeugt, dass Aggrenox® ein verträgliches und hoch wirksames Präparat zur Sekundärprävention von Schlaganfällen und transitorischen ischämischen Attacken (TIA) mit einer bedeutsamen Überlegenheit gegenüber ASS sei. Eine Analyse von Graf von der Schulenburg et al. aus dem Jahr 2008 [13] sei zu dem Ergebnis gekommen, dass – alleine bezogen auf das Jahr 2005 – 7.500 Patienten noch am Leben wären, wenn einer Behandlung mit Dipyridamol plus ASS der Vorzug vor einer Monotherapie mit ASS in der Sekundärprävention des ischämischen Schlaganfalls gegeben worden wäre.


Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG, Ingelheim am Rhein


Referenzen
[1] IQWIG-Abschlussbericht_Dipyridamol_ASS_nach_Schlaganfall_oder_TIA.pdf www.iqwig.de.[2] The ESPRIT Study Group. Aspirin plus dipyridamole versus aspirin alone after cerebral ischaemia of arterial origin (ESPRIT): randomised controlled trial. Lancet 2006; 367: 1665 – 1673.

[3] The JASAP (Japanese Aggrenox Stroke Prevention vs. Aspirin Programme) Clinical Trial Report U09-2224-02 May 18, 2010 Boehringer Ingelheim Data on file.

[4] http://www.ema.europa.eu/docs/ en_GB/document_library/Report/ 2010/04/WC500089948.pdf

[5] Diener, HC et al. European Stroke Prevention Study 2. Dipyridamole and acetylsalicylic acid in the secondary prevention of stroke. J Neurol Sci 1996;143:1– 13.

[6] Sacco RL, et al, PRoFESS Study Group. Aspirin and extended-release dipyridamole versus clopidogrel for recurrent stroke. N Engl J Med 2008; 359 (12):1238 – 1251.

[7] Fachinformation Aggrenox® .

[8] Diener HC et al. Leitlinie Primär- und Sekundärprävention der zerebralen Ischämie. Hrsg. von der Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft. 4., überarbeitete und erweiterte Aufl., Thieme, 2008.

[9] http://www.eso-stroke.org/pdf/ESO08_Guidelines_German.pdf

[10] Albers G.W. et al. Antithrombotic and Thrombolytic Therapy for Ischemic Stroke. The Seventh ACCP Conference on Antithrombotic and Thrombolytic Therapy. Chest 2004;126:483S – 512S

[11] Sacco RL, Adams R, Albers G, Alberts MJ, Benavente O, Furie K, et al. Guidelines for prevention of stroke in patients with ischemic stroke or transient ischemic attack: a statement for healthcare professionals from the American Heart Association/American Stroke Association Council on Stroke, co-sponsored by the Council on Cardiovascular Radiology and Intervention. Stroke 2006; 37 (2):577– 617.

[12] National Institute for Health and Clinical Excellence: Clopidogrel and modified-release dipyridamole in the prevention of occlusive vascular events. Technology Appraisal 90, May 2005 www.nice.org.uk; rev. 2010.

[13] Claes C et al. Inkrementelle Kosteneffektivitaet von Dipyridamol + Acetylsalicylsaeure in der Sekundaerpraevention bei ischaemischem nichtkardioembolischem Schlaganfall. Med Klin 2008; 103 (11):778 – 787.



DAZ 2011, Nr. 15, S. 53

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