Arzneimittel und Therapie

Orale MS-Therapeutika werden Interferone ergänzen

Standen in der Pathophysiologie der multiplen Sklerose (MS) bislang die T-Zellen im Brennpunkt, hat sich der Fokus der Forschung in den letzten Jahren zu den B-Zellen verschoben. Das führte zu neuen Ansätzen für die Therapie. Geprüft werden Fusionsproteine wie Atacicept, die zerstörerische B-Zellen in MS-Läsionen aufspüren und angreifen. Aber auch der Weg über autoreaktive T-Lymphozyten verspricht Erfolg. Das orale Fingolimod hindert sie an ihrer Wanderung ins ZNS. Eher unspezifisch greift das Zytostatikum Cladribin beide Lymphozytenstämme an.
Ursachenforschung Die Pathogenese von Autoimmunerkrankungen ist sehr komplex und lässt sich nicht auf einen verantwortlichen Mechanismus zurückführen. Neben genetischen Faktoren, die eine gewisse individuelle Prädisposition bedingen, können auch immunologische sowie mikrobielle Faktoren und Umweltfaktoren eine Autoimmunerkrankung wie die multiple Sklerose hervorrufen.
Foto: Bayer AG

Die Basistherapie bei schubförmig verlaufender multipler Sklerose besteht heute in Injektionen von Interferonen oder Glatirameracetat. Sie vermindern die Häufigkeit von Schüben und können den Verlauf der Krankheit abmildern. Ähnliche Wirkungen versprechen verschiedene oral applizierbare Substanzen, die derzeit Phase-III-Zulassungsstudien durchlaufen, wurde auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Hamburg Herbst 2008 berichtet. Mit der Reduktion subkutaner, intramuskulärer oder intravenöser Anwendung wäre für MS-Patienten ein Gewinn an Lebensqualität verbunden – und eine bessere Compliance.

Cladribin: Zytostase für Lymphozyten

Eine aussichtsreiche Substanz ist Cladribin, das aufgrund seiner zytostatischen Eigenschaften schon seit 1997 in der Behandlung der Haarzell-Leukämie eingesetzt wird. Es handelt sich um ein chloriertes Analog des körpereigenen Desoxyadenosin mit hoher Spezifität für lymphoide Zellen. Cladribin wird durch Phosphorylierung aktiviert, die in hohem Maße in Lymphozyten und Monozyten abläuft. Da Cladribin durch das Chloratom nicht für die Adenosin-Desaminase angreifbar ist, akkumulieren aktive Cladribin- Phosphorverbindungen in den Immunzellen. Dies sichert eine gewisse Selektivität des Zytostatikums Cladribin und stellt die Rationale für seinen Einsatz bei MS dar. Die gestörte DNA-Synthese hemmt die Neubildung der Lymphozyten und steigert ihre Apoptose. "Cladribin reduziert die Zahl der T-Lymphozyten, die die Entzündung ins Gehirn tragen", erklärte Prof. Dr. B. Kieseier aus Düsseldorf bei einer Veranstaltung der Firma Merck Serono. Der Effekt auf CD4-positive T-Zellen übersteigt den auf CD8-Zellen. "Da ein hohes CD4-/CD8-Verhältnis mit einer stärkeren MS-Aktivität assoziiert zu sein scheint, könnte neben der ausgeprägten Lymphozyten-Depletion die Minderung dieses Quotienten ein sinnvoller Therapieansatz sein", sagte Kieseier, der eine Ambulanz für MS-Patienten leitet. In Cladribin sieht der Experte den aussichtsreichsten Kandidaten für die erste orale Therapie der multiplen Sklerose. Eine initiale Gabe von zwei oder vier Tabletten senkt für mehrere Monate die Aktivität vor allem der CD-4-T-Zellen. Hingegen sollen rote Blutkörperchen und Thrombozyten nicht wesentlich tangiert werden; eine niedrige Dosierung soll eine generalisierte Immunsuppression vermeiden. Denn ein Problem könnte in opportunistischen Infektionen bestehen; bislang wurden z. B. einige Herpes-zoster-Fälle unter höherer Cladribindosierung beobachtet. Wirksamkeit und Sicherheit von Cladribin werden derzeit in zwei Phase-III-Studien geprüft. Die größte, Clarity (Cladribin tablets in treating MS orally) untersucht über 1300 Patienten mit schubförmig verlaufender multipler Sklerose. In der zweiarmigen Verumgruppe soll u. a. geklärt werden, ob eine viermalige Gabe des Wirkstoffes zu Behandlungsbeginn vorteilhafter ist als die zweimalige Anwendung. Ergebnisse werden im laufenden Jahr erwartet.

Fingolimod: soll T-Zellen binden

Ein oraler Wirkstoff, der an einer späteren Stelle in die inflammatorische Kaskade der multiplen Sklerose eingreift, ist Fingolimod (FTY720, Novartis Pharma). Fingolimod unterbricht die Migration der autoreaktiven T-Zellen aus der Peripherie ins ZNS. FTY720 ähnelt strukturell dem körpereigenen Sphingosin. Fingolimod bindet an Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptoren auf Thymozyten und Lymphozyten, wodurch diese Rezeptoren internalisiert, nach innen gekehrt werden. Dadurch verlieren die T-Zellen den notwendigen "Schlüssel", um das Lymphgewebe zu verlassen und ins Blut überzutreten. "Die Entzündungszellen bleiben in den Lymphknoten hängen", so Kieseier. Die Zahl der im Blut zirkulierenden Lymphozyten sinkt. Ihre Funktionsfähigkeit soll aber erhalten bleiben.

In klinischen Studien reduzierte Fingolimod bei MS-Patienten signifikant Läsionen und Schubfrequenz. Der Effekt blieb unter einer niedrigen Dosis auch nach 24 Monaten erhalten.

Wiederum liegt der Knackpunkt des Therapieprinzips bei unerwünschten immunsuppressiven Wirkungen. Fingolimod bindet relativ unspezifisch an vier der fünf Subtypen von S1P-(Sphingosin-Phosphat-)Rezeptoren. Diese finden sich nicht nur auf Lymphozyten als Zielstruktur, sondern ubiquitär; sie beeinflussen nicht nur immunologische, sondern auch vaskuläre und andere Funktionen. Vor allem in der höheren der beiden Studiendosierungen (1,25 und 5 mg) kam es häufig zu Nebenwirkungen wie Nasopharyngitis, Kopfschmerzen, Übelkeit, aber auch zu viralen Infektionen, die in Einzelfällen letal endeten.

Atacicept: soll B-Zellen bremsen

Bestimmte B-Zelllinien lassen sich in frühen, aber noch stärker in chronischen, jahrelang persistierenden MS-Läsionen im ZNS nachweisen. B-Zellen bilden nach Differenzierung in Plasmazellen Antikörper. Sie verstärken und unterhalten Immunreaktionen, indem sie T-Zellen Antigene präsentieren und Zytokine sezernieren. Ein Rezeptor, der für das Überleben der B-Zellen eine Rolle spielt, ist TACI (Transmembrane Activator and CAML-Interactor). Dieser Rezeptor wurde in dem Fusionsprotein Atacicept an humanes Immunglobulin gekoppelt; das Fusionsprotein wird auch als TACI-Ig bezeichnet. Atacicept ist frei löslich und fängt Liganden ab, die normalerweise an B-Zellen binden. Die B-Zellen werden in ihrer Funktion behindert, die Apoptoserate steigt. Da B-Zellen als Gedächtniszellen eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Chronifizierung von Autoimmunkrankheiten spielen, erwartet man von diesem Ansatz auch eine günstige Beeinflussung der multiplen Sklerose. Randomisiert-doppelblinde klinische Studien sind für Atacicept im Gange.

Was passiert immunologisch bei multipler Sklerose?

Die Pathogenese der multiplen Sklerose stellt man sich so vor, dass bei entsprechender genetischer Disposition eine fehlgeleitete Immunreaktion gegen Myelin-Antigene einsetzt. Ein exogener, wahrscheinlich infektiöser Stimulus aktiviert zunächst periphere T-Lymphozyten und versetzt sie in die Bereitschaft, sich gegen körpereigene Strukturen zu wenden. Wenn diese "autoreaktiven" T-Zellen die Blut-Hirn-Schranke penetrieren, erkennen sie auf anitgenpräsentierenden Zellen wie Mikroglia oder dendritischen Zellen das entsprechende Antigen, proliferieren und setzen proinflammatorische Mediatoren frei. Der lokalen Entzündungsreaktion folgt die Demyelinisierung (Markscheiden-Abbau).

[Quelle: INFO Neurologie & Psychiatrie CME Spezial 2/2006: Multiple Sklerose: Zertifizierte Fortbildung]

Fumarsäure: antientzündlich auch bei MS?

Die in der Psoriasistherapie zugelassenen Fumarsäureester wirken immunmodulatorisch und entfalten in vitro bzw. im Tier-Modell womöglich neuroprotektive Wirkungen. Eine erste Phase-II-Studie mit einem neuen Fumarsäureester (BG-12) hat als "proof of principle" eine Reduktion von Nervenläsionen nach 24 Wochen gezeigt, ermittelt durch Magnetresonanztomographie. Sicherheit und Verträglichkeit waren gut. Phase-III-Studien zur Prüfung der Langzeitwirksamkeit dieser Substanz sind im Gange. "Es besteht Hoffnung, dass sich das therapeutische Spektrum zur Behandlung der multiplen Sklerose in naher Zukunft um wirksame und sichere Medikamente wird erweitern lassen", schloss der Neurologe.

 

Quelle
Prof. Dr. med. Bernd C. Kieseier, Düsseldorf: "Blickpunkt Zukunft: Eine neue Dekade der MS-Therapie", im Rahmen des 81. Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Hamburg 12. September 2008, veranstaltet von der Merck Serono GmbH, Darmstadt. 

 


Apotheker Ralf Schlenger

 

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