Arzneimittel und Therapie

Spurenelemente: Nutzen einer Selensubstitution nicht nur in der Onkologie

Die Evidenz eines krebsprotektiven Potenzials von Vitaminen und Spurenelementen ist bisher noch zu schwach, um eine Supplementierung über den allgemeinen Bedarf hinaus zu empfehlen. Bei Krebspatienten finden sich allerdings oft stark erniedrigte Selenspiegel. Tierexperimentelle Studien und epidemiologische Befunde legen einen Zusammenhang zwischen Selenstatus und Tumorwachstum nahe. Auch Patienten mit Sepsis oder Schilddrüsenerkrankungen könnten zukünftig von einer Selensubstitution profitieren.

Eiweiß- und cholesterinreiche tierische Nahrungsmittel (Fleisch, Eier, Fisch) stellen für den Menschen die Hauptquelle für das Spurenelement dar. Die durchschnittliche Selenversorgung der Bundesbürger ist mit 47 µg pro Tag für den Mann und 38 µg für die Frau im internationalen Vergleich gering, liegt aber noch im Bereich der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung von 20 bis 100 µg pro Tag.

Deutschland – ein Selenmangel-Gebiet?

Den vom National Research Council der USA empfohlenen Wert 1 µg pro kg Körpergewicht am Tag erreichen 80% der Deutschen mit einer normalen Nahrungsaufnahme nicht. Der Selengehalt in und die Verfügbarkeit des Selens aus Ackerböden schwankt stark und ist in alkalischen und gut durchlüfteten Böden am höchsten. Sowohl auf der Süd- als auch auf der Nordhalbkugel existiert eine selenarme Zone.

Neuseeland und Finnland sind typische Selenmangel-Länder. Deutschland liegt am Rand der nördlichen selenarmen Zone und weist ein deutliches Nord-Süd-Gefälle auf. Vor allem im Norden enthalten die Nutzpflanzen aufgrund saurer Böden wenig Selen, was zu selenarmen tierischen Nahrungsmitteln aus dieser Region führt. Trotzdem kann man nicht von einem allgemeinen Selenmangel in Deutschland sprechen, da keine endemisch vorkommende Symptomatik vorliegt. Allerdings gibt es in Populationen mit niedriger Selenaufnahme durchaus Risikogruppen, bei denen Mangelerscheinungen manifest werden können. Zeichen eines Selenmangels sind, neben Myopathien des Herz- und Skelettmuskels, der Anstieg von Transaminasen und die Hellfärbung von Haut, Haaren und Nägeln.

Baustein zahlreicher Enzyme

Die Resorption von Selen erfolgt im oberen Dünndarm und liegt bei organisch gebundenem Selen bei 90%. Die Bioverfügbarkeit von anorganisch gebundenem und elementarem Selen ist deutlich geringer. Seine biologische Wirkung entfaltet es in Form von Selenoproteinen, von denen bis heute über zwanzig bekannt sind. So fungiert Selenocystein als essenzieller Bestandteil zahlreicher Enzyme wie der Glutathionperoxidase. Dieses antioxidativ wirkende Enzym findet sich im Zytosol von Leber- und Blutzellen, extrazellulär im Plasma und an Phospholipide der Zellmembranen gebunden und schützt die Zellen vor oxidativer Zerstörung.

Zu den selenhaltigen Enzymsystemen gehören weiterhin die Iod-Thyronin-Deiodasen der Schilddrüse und die Thioredoxinreduktase, die ubiquitär vorhanden ist und ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Modulation des Redoxhaushaltes der Zellen spielt. Auch eine immunmodulierende Wirkung und die Regulierung von Transkriptionsfaktoren wurde beschrieben.

Weniger Nebenwirkungen für Tumorpatienten

Diese immunmodulierenden und antioxidativen Eigenschaften des Selens werden in der komplementären Therapie von Tumorerkrankungen genutzt. Viele Nebenwirkungen einer Zytostatikabehandlung beruhen auf der Generierung freier Sauerstoffradikale, die auch gesunde Zellen angreifen.

Erste Studien – und vor allem die Erfahrungen aus der Praxis – zeigten, dass eine Chemotherapie nach Gaben von 300 µg Natriumselenit ohne Wirkverlust besser vertragen wird. So sanken die Nephrotoxizität von Cisplatin und die Kardiotoxizität von Adriamycin in der Selengruppe signifikant. Aufgrund seiner antioxidativen Eigenschaften kann Natriumselenit auch die Nebenwirkungen einer Strahlentherapie günstig beeinflussen. Bisher fehlen aber noch eindeutige wissenschaftliche Belege, die der Selentherapie den Zugang zur evidenzbasierten Tumortherapie verschaffen könnten.

Widersprüchliche Studienlage bei Krebsprävention

Tierversuche und In-vitro-Studien geben Hinweise auf eine tumorprotektive Wirkung höherer Selengaben. Die möglicherweise schützende Selenaufnahme von 200 bis 300 µg pro Tag lässt sich auch mit einer Ernährung, die reich an Getreide und Meeresfisch ist, erreichen. Eine ökologische Studie konnte bereits vor 40 Jahren einen Zusammenhang zwischen selenreicher Ernährung und dem reduzierten Risiko für eine bösartige Neubildung herstellen.

Widersprüchlich sind bisher die Ergebnisse von In-vivo-Studien. Es zeigte sich ein inverser Zusammenhang zwischen Selenstatus und der Inzidenz von verschiedenen Krebsarten der Lunge, des Darms, der Brust und des Magens. In einer kontrollierten Studie war das Risiko eines Prostatakarzinoms in der Gruppe mit dem höchsten Selengehalt in Zehennägeln um mehr als 50% reduziert. Dieser Befund konnte in vier weiteren prospektiven Studien allerdings nicht bestätigt werden.

Der World Cancer Research Fund (WCRF) stuft die Evidenz für ein kanzeroprotektives Potenzial von Selen nach dem gemeinsam mit dem American Institut for Cancer Research entwickelten Bewertungssystem als gering ein. Eine Verringerung des Lungenkrebsrisikos gilt als möglich. Die Evidenz für einen protektiven Effekt bei Magen-, Leber- und Schilddrüsenkrebs wird als unzureichend bewertet.

Spurenelement mit geringer therapeutischer Breite

Die Belege für einen tumorprotektiven Effekt ebenso wie für eine kardioprotektive Wirkung des Selens reichen bisher nicht aus, um eine allgemeine Supplementierung der Bevölkerung zu empfehlen. Dagegen spricht auch die Toxizität des Selens. Selen gehört zu den Spurenelementen mit geringer therapeutischer Breite.

Akute und chronische Selenvergiftungen wurden bei Kindern und Erwachsenen nach Überdosierung selenhaltiger Arzneimittel oder nach Verzehr selenhaltiger Nahrungsmittel beschrieben. In Venezuela traten in Gegenden mit sehr hohem Selengehalt der Böden Vergiftungen durch Muttermilch auf. Diese kann bis zu 90 µg Selen pro Liter enthalten. Zum Vergleich: In Selenmangelgebieten Chinas liegt der durchschnittliche Selengehalt der Muttermilch bei nur 2,6 µg pro Liter. Chronische Vergiftungssymptome können schon ab 800 µg Selen pro Tag auftreten. Die Symptome einer akuten Intoxikation sind mit Ausnahme des knoblauchartigen Geruchs der Ausatmungsluft uncharakteristisch. Es kann zu vermehrtem Schwitzen, Erbrechen, Muskelspasmen und Herzrhythmusstörungen bis zum Tod kommen.

Selen reduziert Mortalität bei Sepsis

Klinische Studien der Phase II belegen einen Einfluss von Selen auf die Mortalität von Sepsispatienten. An der Poliklinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie der Universitätsklinik Dresden konnte die Sterblichkeit durch einen Bolus von 2000 µg Natriumselenit und anschließende Gabe von 1000 µg Natriumselenit über zwei Wochen auf 15% im Vergleich zu 40% in der Kontrollgruppe gesenkt werden. Eine Münchner Studie mit niedrigeren Selendosen brachte mit der Senkung der Sterblichkeit auf 33% versus 55% ebenfalls ein signifikantes Ergebnis. Der genaue Mechanismus für die immunmodulierende Wirkung der Selenoproteine ist noch nicht bekannt.

Selenmangel führt zu Kretinismus

Ein weiteres Feld für die Erforschung der Selenoproteine existiert bei den Erkrankungen der Schilddrüse. Die Schilddrüse gehört zu den Organen mit dem höchsten Selengehalt, und die Biosynthese und Verstoffwechslung der Schilddrüsenhormone werden von drei selenhaltigen Deiodasen gesteuert. Eine Arbeitsgruppe unter Professor Köhrle in Würzburg untersucht die Bedeutung der Selenoproteine bei Schilddrüsenkarzinomen.

In Zaire kam es in einer Gegend mit ausgeprägtem Selen- und Jodmangel zu einer gehäuften Inzidenz von myxödematösem Kretinismus, der sich durch die Beseitigung des Jodmangels allein nicht beheben ließ. Erst die gleichzeitige Substitution von Jodid und Selen konnte das Auftreten von Kretinismus verhindern.

Kastentext: Risiko eines nutritiven Selenmangels

  • reine Vegetarier (Veganer)
  • Alkoholiker
  • extrem einseitige Ernährung
  • Patienten mit Sondennahrung
  • parenteral ernährte Patienten
  • Dialysepatienten
  • Anorexia nervosa oder Bulimie

    Kastentext: Risiko eines Selenmangels durch Verluste

    Verluste über den Stuhl

  • langanhaltende Diarrhö
  • Maldigestion und Malabsorption, z. B. bei chronischer Pankreatitis, Zöliakie und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
  • Laxanzienabusus

    Verluste über den Harn

  • Nierenschaden mit Proteinurie
  • nephrotisches Syndrom
  • negative Stickstoffbilanz
  • Diabetes insipidus
  • Diuretikatherapie

    Blutverluste

  • starke hämorrhoidale Blutungen
  • Hypermenorrhöen

    Verluste durch lange Stillzeit

    Quelle

    Prof. Dr. Josef Köhrle, Medizinische Poliklinik Universität Würzburg, Prof. Dr. Roland Gärtner, Universität München, Dr. Thomas Zimmermann, Poliklinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Dresden, Expertengespräch: "Selen/Natriumselenit: Bedeutung, Wirkungsweisen und Einsatzgebiete in der Medizin mit dem Schwerpunkt Onkologie und Intensivmedizin", Potsdam, 20. und 21. April 2002, veranstaltet von der biosyn Arzneimittel GmbH.

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