Komplementärmedizin

Krebs und Selen

Die Anwendung von Selenit ist heute in der onkologischen Komplementärmedizin so gut abgesichert, dass man Selenit geradezu als Prototypen der Evidenz-basierten Komplementärmedizin (EbK) bezeichnen kann. Die EbK etabliert sich heute neben der kurativen, der supportiven und der palliativen Tumortherapie als vierte Säule der Evidenz-basierten Krebsmedizin. Der folgende Beitrag fasst die aktuellen Kenntnisse zu Selen in diesem Einsatzgebiet zusammen, zieht daraus Schlussfolgerungen für die Anwendung und gibt insbesondere nützliche Informationen für die pharmazeutische Beratung von Personen, die ein Selenpräparat anwenden wollen.

 

Selen in der Evidenz-basierten Medizin und Komplementärmedizin

Wenn noch immer Vorbehalte gegen die Anwendung von Selen in der Krebsmedizin bestehen, hat dies wahrscheinlich damit zu tun, dass die Ergebnisse der Untersuchungen zu Selen zum Teil in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind, die vom Arzt oder Apotheker nicht regelmäßig zur Kenntnis genommen werden. Unsere positiven Aussagen über Selen beruhen auf

  • einer möglichst vollständigen Literaturrecherche bis einschließlich 2005;
  • Ergebnissen einer Umfrage bei Krebspatienten zur Anwendung und Präferenz von Mikronährstoffen in der Krebsmedizin;
  • Erfahrungen aus der Selen-Hotline des ADEXA-Netzwerks Patientenkompetenz. Der Abdruck der entsprechenden Daten, Quellen und Begründungen der Empfehlungen sowie der Pharmakologie und Physiologie in aller Ausführlichkeit würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Wir haben diese Dokumentation jedoch ins Internet gestellt, wo sie unter www.patientenkompetenz.org, Link "Publikationen", nachgelesen werden kann.

Stellenwert von Selen in der Krebsmedizin

Selen ist ein lebensnotwendiger Bestandteil unseres Stoffwechsels und muss dem Körper obligat von außen zugeführt werden. In der Literatur wird Selen den Mikronährstoffen, Antioxidanzien oder Spurenelementen zugeordnet. Es spielt eine Schlüsselrolle bei vielen Gesundungs- und Erkrankungsprozessen – so auch bei Krebs. Es ist zwar kein Krebsmittel wie etwa die Krebs-Chemotherapeutika. Aber es ist von zentraler Bedeutung bei der Krebsprävention und Krebsabwehr, beim Umgang des Körpers mit der Krebstherapie und deren Folgen sowie bei der Stabilisierung des Organismus in der Phase der Rehabilitation nach abgeschlossener Krebsbehandlung.

Selen ist der heute wissenschaftlich am besten dokumentierte Wirkstoff in der onkologischen Zusatztherapie. Die Datenlage ermöglicht entsprechend eine wissenschaftlich fundierte, Evidenz-basierte pharmazeutische Beratung.

Allgemeine Anwendungsbereiche

Wie andere Mikronährstoffe auch, kann Selen in vier unterschiedlichen Anwendungsbereichen zum Einsatz kommen:

  • als Nahrungsergänzungsmittel,
  • als ergänzende bilanzierte Diät,
  • als Arzneimittel aus eigener Rezeptur,
  • als Fertigarzneimittel.

Nahrungsergänzungsmittel

Es gibt keine etablierte, naturwissenschaftliche Begründung, gesunden Personen Selen als Monopräparat zu empfehlen. Im Allgemeinen kommen deswegen zur Ergänzung der Ernährung im Rahmen einer allgemein gesundheitsbewussten Lebensweise Selenhefe-haltige Mikronährstoff-Kombipräparate zum Einsatz. Auch im Rahmen einer vollwertigen Ernährung, d. h. wenig Fleisch, wird zuwenig Selen aufgenommen, weil pflanzliche Lebensmittel hierzulande in der Regel selenarm sind. Steht ein Selen-Monopräparat zur Diskussion, so gilt als Tagesdosis 1 x 50 µg Selen in Form von Natriumselenit, welches allerdings getrennt von anderen Nährstoffen aufgenommen werden muss (s. u.).

Ergänzende bilanzierte Diät

Wenn bei bestehenden Krankheiten oder Beschwerden die gewohnte Ernährung zur Bedarfsdeckung nicht mehr ausreicht, können bilanzierte Diäten gemäß den Anwendungsrichtlinien eingesetzt werden. Dabei geht es in der Regel um eine längerfristige und regelmäßige Einnahme bestimmter Mikronährstoffe. Dieses Anwendungsgebiet kann für Krebspatienten zutreffen, deren Tumortherapie und Rehabilitation abgeschlossen ist, die sich im Übergang zum früher gewohnten Alltag befinden und sich ausgeglichen ernähren. Weitere Voraussetzung ist, dass kein Grund für eine gezielte Substitution von Selen als Monosubstanz vorliegt.

Hier stützt sich die Evidenz-basierte Beratung auf die Erkenntnisse der modernen Ernährungsphysiologie und der Mikronährstoffbiochemie, auf die Pharmakologie (Sicherheit der langfristigen Arzneimittelanwendung) sowie auf die praktischen Erfahrungen, die Krebspatienten selbst im Rahmen ihrer Selbsthilfeprogramme gemacht haben.

Falls die Personen jedoch ein Selenmonopräparat verlangen, liegen Empfehlungen von 50 bis 300 µg Selen als Natriumselenit pro Tag im sicheren Bereich. Allerdings werden anorganische Selenpräparate als Arzneimittel eingestuft und sind entsprechend ihrer Zulassung ab einer Selendosis von mehr als 100 µg pro Darreichungsform verschreibungspflichtig.

Arzneimittel aus eigener Rezeptur

Unser Körper kann unter Extrembelastungen, bei anhaltender Mangelernährung, beim Vorliegen chronischer Erkrankungen und in vielen anderen Situationen überdurchschnittlicher Anforderungen relativ rasch in den Zustand einer negativen Mikronährstoffbilanz geraten. Es ist gesichert, dass derartige Negativbilanzen, wie sie zum Beispiel beim chronischen oxidativen Stress vorliegen, auf Dauer zu schweren Gesundheitsstörungen führen können. Solche Situationen sind speziell auch bei Krebspatienten anzunehmen, und zwar unter folgenden Bedingungen:

  • Ungewollter Gewichtsverlust von über 10% innerhalb weniger Wochen,
  • Eingeschränkte Zufuhr einer mineralstoffreichen Ernährung über mehrere Wochen,
  • Kau- und Schluckstörungen, vor allem bei chronischen Entzündungen der oberen Verdauungswege,
  • Chronische Durchfälle oder Resorptionsstörungen,
  • Chemotherapie mit ausgeprägten Magen-Darm-Symptomen,
  • Erschöpfungszustände.

Vitamin- und Mineralstoffmängel, oxidativer Stress und andere Mangelerscheinungen können durch Blutanalysen nachgewiesen werden. Der Apotheker kann dann je nach Resultat der Analyse eine auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Mikronährstoffkombination herstellen.

Ein Selenmangel ist vermutlich mit einem erhöhten Krebsrisiko, insbesondere für Prostatatumoren, assoziiert. Bei der Selensubstitution im Rahmen der individuellen Mikronährstoff-Rezeptur wird Selen in der Regel im Dosisbereich von 100 µg bis 200 µg (als Selenit oder Selenat) verabreicht.

Fertigarzneimittel

Die folgenden Dosierungen beziehen sich auf Grund der Studienlage auf das Präparat Selenase®:

  • Extreme Belastungen, Intensivmedizin: 500 bis 1000 (2000) µg,
  • Nachgewiesener Selenmangel bei Operation, Chemo- oder Radiotherapie: 1000 µg,
  • Extremitäten-Lymphödem: akut 1. bis 3. Tag 1000 µg, ab 4. Tag 500 µg, chronisch über 6 Wochen 300 µg, anschließend Dosisanpassung gemäß Selen-Vollblutspiegel,
  • Lymphödem bei Kopf-Hals-Tumoren: 3 x 200 µg über 8 Wochen,
  • Mundboden- und Zungenkarzinome sowie Prävention Gesichtsödeme: 1000 µg über 3 Wochen.

Allgemeine Anwendungshinweise Dosierungen

Organische Selenpräparate (Selenhefe) sind geeignet für den gesunden Menschen zur Ergänzung der Ernährung (in Deutschland: 50 bis maximal 100 µg Selen pro Tag). In den USA werden allerdings auch hier höhere Dosierungen (bis zu 200 µg täglich) über lange Zeiträume empfohlen. Anorganische Selenpräparate (Natriumselenit) können sowohl zur Eigen-Supplementierung als auch in der Therapie des Selenmangels eingesetzt werden. Hier sind je nach Selen-Status bis zu 2000 µg täglich sinnvoll.

Einnahmevorschriften

Natriumselenit soll nicht zusammen mit Vitamin C eingenommen werden, da es durch Vitamin C zum unwirksamen elementaren Selen reduziert wird. Da Vitamin C dabei oxidiert wird, ist die Folge, dass beide Substanzen ihre Funktionen nicht mehr erfüllen können. Es wird empfohlen, Selenit früh morgens nüchtern einzunehmen und mit der Aufnahme von Vitamin C oder Vitamin-C-haltigen Speisen (vor allem Zitrusfrüchte und Säfte) mindestens eine Stunde zu warten. Bei einer intravenösen Injektion von Selen sollte darauf besonderer Wert gelegt werden.

Selen in Monotherapie oder Kombination?

Was die Einnahme von Antioxidanzien bei Krebs anbelangt, wird heute eher zu Kombinationspräparaten geraten bzw. von Monotherapie, abgeraten. Selen macht von dieser Regel eine Ausnahme. Es wird auch in den gegenwärtig laufenden prospektiven Studien zur Prävention des Prostatakarzinoms als Monosubstanz in einer Richtdosis von 200 µg Selen/Tag eingesetzt.

Kombination von Selen und Chemotherapie

Es wird immer wieder die Meinung vertreten, dass Antioxidanzien nicht gleichzeitig mit Zytostatika verabreicht werden sollen. Angeblich würden Antioxidanzien die auf der Bildung von Radikalen beruhende Wirksamkeit der Zytostatika abschwächen. Hierzu gibt es jedoch keine klinischen Belege. Andererseits ist gut dokumentiert, dass Chemotherapeutika bei gleichzeitiger Applikation von Antioxidanzien/Selen besser vertragen werden. Mit anderen Worten, die Kombination von Zytostatika und Antioxidanzien ist eher indiziert als kontraindiziert. Gleiches gilt für eine Kombination von Selen mit der Radiotherapie.

Kombination von Selen mit Mistelpräparaten

Die weitaus häufigste Kombination komplementärmedizinischer Mittel bei Krebs besteht aus dem Selenitpräparat Selenase® und dem Mistelpräparat Iscador® Patienten erklärten ihre Präferenz für das Selenitpräparat mit der wissenschaftlichen Fundierung, den günstigen Effekten auf den oxidativen Stress sowie auf Entgiftungs- und Abwehrprozesse, der guten Verträglichkeit selbst bei belastetem Darm und der günstigen Bioverfügbarkeit; bei dem Mistelpräparat schätzten sie insbesondere die Verbesserung der Selbstregulation. Die Berücksichtigung von Patientenpräferenzen bei der Arzneimittelabgabe ist insofern wichtig, als eine positive Identifikation des Patienten mit einem Präparat zur Compliance beiträgt.

Bioverfügbarkeit

Die in Trinkampullen vorliegenden anorganischen Selenpräparate weisen eine bessere Bioverfügbarkeit auf als organische oder in Tablettenform an-gebotene Mittel. Da bei Krebspatienten oft die Darmfunktion gestört ist, sollten bei ihnen bevorzugt flüssige anorganische Selenpräparate zum Einsatz kommen.

Überdosierung

Die momentan noch gültige Empfehlung der WHO (1996) für die maximale Aufnahme von Selen über einen Zeitraum von mehr als 3 Monaten gilt für den Menschen ohne Selenmangelsymptome und ohne größere Belastungen. Sie liegt bei 400 µg Selen/Tag. Menschen mit sehr niedrigen Selenspiegeln, konsumierenden Erkrankungen wie Krebs, schweren chronischen Entzündungen oder oxidativem Stress sind bei dieser Empfehlung nicht berücksichtigt und müssen gesondert betrachtet werden. Die notwendigen und auch verträglichen Dosierungen liegen bei derartigen Ausnahmesituationen in der Regel sehr viel höher, und zwar bei 200 bis 2000 µg pro Tag. Selenvergiftungen gehen obligat mit erhöhten Selenkonzentrationen im Blut und im Urin einher. Beim Menschen können Symptome ab etwa 1000 µg Selen pro Liter Vollblut auftreten.

Erstattungsfähigkeit

Organische Selenpräparate werden als Nahrungsergänzungsmittel eingestuft und sind weder verordnungsfähig noch erstattungsfähig.

Anorganische Selenpräparate werden als Arzneimittel eingestuft und sind entsprechend ihrer Zulassung ab einer Selendosis von mehr als 100 µg pro Darreichungsform verschreibungspflichtig und erstattungsfähig.

Selen-Beratung in der Apotheke

Bei der Anwendung von Selen, insbesondere in Form individueller Apothekenrezepturen, gibt es sehr viele Spezialfälle. In unklaren Situationen wird dem beratenden Apothekenpersonal empfohlen, Rücksprache mit einem Selen-Fachmann zu nehmen. Mitgliedsapotheken im ADEXA-Netzwerk Patientenkompetenz können sich an das Call-Center des Netzwerks wenden.

 

Danksagung:
Die Erstellung dieses Berichtes wurde ermöglicht durch einen Forschungsbeitrag der Stiftung Patientenkompetenz.

 

Korrespondenzanschrift:
Apotheker Uwe Gröber,
Rüttenscheider Str. 66,
45130 Essen
info@vitalstoffmedizin.de

 

 

Weitere Informationen

Wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung der Patientenkompetenz e.V. www.patientenkompetenz.org dort: Krebs und Selen – Dokumentation zu diesem Beitrag unter dem Link "Publikationen"

Stiftung Patientenkompetenz: www.stiftung-patientenkompetenz.org Krebs, Selbsthilfe und Selbstmedikation – Ergebnisse einer Umfrage zur Anwendung komplementärmedizinischer Mittel, siehe Link "Texte & Artikel

Selenspiegel-Messungen in Serum und Vollblut servicelabor@biosyn.de

Die Autoren 

Prof. em. Dr. med. Gerhard N. Schrauzer ist Leiter des Biological Trace Element Research Institute in San Diego, USA.

Apotheker Uwe Gröber ist anerkannter Experte auf dem Gebiet der orthomolekularen Medizin und Autor mehrerer Standardwerke.

Dr. med. Peter Holzhauer ist niedergelassener Onkologe/Hämatologe und ärztlicher Direktor der Veramed-Klinik in Brannenburg, Obb.

Prof. em. Dr. med. Gerd Nagel ist Gründer der Klinik für Tumorbiologie Freiburg und der Stiftung Patientenkompetenz. Dipl. oec. troph. Steffen Theobald ist Geschäftsführer der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Patientenkompetenz e.V. und Koordinator des Netzwerks Patientenkompetenz.

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