Misoprostol in der Geburtseinleitung

Zusatznutzen für Angusta ist nicht belegt

Stuttgart - 05.05.2022, 10:45 Uhr

„Im Wehensturm“ hieß ein Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“, der das Arzneimittel Misoprostol kurzzeitig auch in den Publikumsmedien bekannt machte. (x / Foto: Samantha Gehrmann / Stocksy)

„Im Wehensturm“ hieß ein Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“, der das Arzneimittel Misoprostol kurzzeitig auch in den Publikumsmedien bekannt machte. (x / Foto: Samantha Gehrmann / Stocksy)


Es hatte sich schon zuvor abgezeichnet, dass der G-BA für das neu zugelassene Misoprostol-Präparat Angusta in der Geburtseinleitung keinen Zusatznutzen aussprechen würde. Dazu hätte der Zulassungsinhaber zusätzliche Daten vorlegen müssen – was er offenbar nicht getan hat. Mit Abschluss der Nutzenbewertung dürfte Misoprostol in der Geburtseinleitung zwar nun dennoch weniger diskutiert werden. Wissenschaftlich betrachtet, sind aber noch manche Fragen offen.  

Es ist nun schon über zwei Jahre her, als der Wirkstoff Misoprostol und dessen Einsatz in der Geburtseinleitung über einen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ erstmals medial in den Fokus rückte. Im Januar 2022 diskutierte man schließlich (immer noch) über den Zusatznutzen von Misoprostol in der Geburtseinleitung gegenüber der Vergleichstherapie Dinoproston.

Grund für die Diskussion über einen Zusatznutzen mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) war, dass zum 1. September 2021 Misoprostol zur Geburtseinleitung in dem oralen Arzneimittel Angusta überhaupt erstmals zugelassen auf den Markt kam. Zuvor hatten Ärzte und Ärztinnen in der Geburtshilfe das Präparat Cytotec off-Label eingesetzt, wobei insbesondere die Dosierung problematisch war, da je Tablette 200 µg Misoprostol enthalten waren — Angusta enthält 25 µg je Tablette.

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Aus dem Wortprotokoll zur mündlichen Anhörung im Nutzenbewertungsverfahren am 10. Januar 2022 ging schließlich hervor, dass Angusta in der Praxis mittlerweile angekommen ist. Jedoch befand man sich hinsichtlich der Nutzenbewertung weiterhin in einem Dilemma, das der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Professor Josef Hecken so beschrieb: „Wir haben hier einen seit geraumer Zeit im Bereich der Geburtseinleitung bei der unreifen Zervix eingesetzten Wirkstoff. Wir haben aber eben aufgrund des Umstands, dass es in der Vergangenheit keine Zulassung gab und diese jetzt eher aufgrund bibliografischer Daten erfolgte, ein kleines Problem im hiesigen AMNOG-Prozess.“ 

Deshalb diskutiere man den Zusatznutzen im Wesentlichen im Kontext der klinischen Praxis und begründe das damit, dass der Einsatz im geburtshilflichen Alltag schon länger (auch in Leitlinien) etabliert sei. Doch: „Natürlich genügt das klassischerweise den Anforderungen des AMNOG [Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz] nicht. Aber ich stelle mir folgende Frage: Wie kann man es jetzt in irgendeiner Form noch hinkriegen?“ Mehrfach wurde in dem Wortprotokoll des G-BA zur mündlichen Anhörung betont, dass die Wirksamkeit und Sicherheit von Angusta überhaupt nicht infrage gestellt würden. Probleme machten allerdings für die abschließende Nutzenbewertung noch fehlende Bioäquivalenz-Daten.

Zu viele verschiedene Darreichungsformen, Dosierungen und Dosierschemata 

Bereits im Februar ist schließlich die Entscheidung gefallen. In den tragenden Gründen zum Beschluss des G-BA heißt es, dass für schwangere Frauen mit Indikation zur Geburtseinleitung bei unreifer Zervix (Bishop Score < 7) ein Zusatznutzen für Misoprostol nicht belegt ist. Grund für das Urteil ist – wie so häufig –, dass der pharmazeutische Unternehmer nicht ausreichende Daten vorgelegt hat: „Zur Ableitung des Zusatznutzens zieht der pharmazeutische Unternehmer ausgewählte Ergebnisse aus zwei Cochrane-Reviews zur Anwendung von Misoprostol in der Geburtseinleitung heran, die aber aufgrund unterschiedlicher Darreichungsformen, Dosierungen und Dosierungsschemata sowohl für die eingesetzte Intervention als auch für die eingesetzte Vergleichstherapie für die Nutzenbewertung nicht geeignet sind. Zudem wurden neben Dinoproston-haltigen Präparaten in einem großen Teil der eingeschlossenen Studien auch andere Vergleichstherapien eingesetzt“, heißt es. 

In einer weiteren Studie wurde kritisiert, dass darin der Wirkstoff Misoprostol in Form von geteilten Tabletten des Präparats Cytotec eingesetzt wurde. Der Nachweis einer Bioäquivalenz der beiden Misoprostol-Präparate Cytotec und Angusta liegt jedoch offenbar weiterhin nicht vor. Hinzu kommt, dass im Vergleichsarm der Studie Dinoproston in dem Präparat Prostin (Vaginalgel) eingesetzt wurde, das in Deutschland für die Anwendung in der Geburtseinleitung jedoch nicht zugelassen ist. Das vergleichbare Produkt auf dem deutschen Markt wäre Minprostin Vaginalgel, das jedoch anders als Misoprostol in Angusta zur Geburtseinleitung bei „ausreichender Geburtsreife der Cervix uteri“ angewendet wird. Damit seien also weder die eingesetzte Intervention noch die Vergleichstherapie geeignet, die für die vorliegende Nutzenbewertung relevante Intervention und zweckmäßige Vergleichstherapie adäquat abzubilden, heißt es.

Vor- und Nachteile von Prostaglandinen in der Geburtseinleitung

Wie die AkdÄ (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft) im Dezember 2021 in einer Stellungnahme erklärte, bietet Misoprostol trotz des nicht anerkannten Zusatznutzens Vorteile: „Misoprostol bietet Vorteile gegenüber anderen zur Geburtseinleitung zugelassenen Prostaglandin-E2-Präparaten (v. a. Dinoproston) sowie Oxytocin. Im Gegensatz zu Dinoproston hat Misoprostol keine bronchokonstriktorische Wirkung und kann daher bei Patientinnen mit Asthma eingesetzt werden.“ Bei der Weheneinleitung zeichne sich Misoprostol auch durch den Vorteil der oralen Anwendbarkeit aus, was das Infektionsrisiko (insbesondere bei Blasensprung) gegenüber vaginalen Prostaglandin-Präparaten senke und die Akzeptanz bei Schwangeren erhöhe.

Zur weiteren Einordnung erklärte die AkdÄ, dass zu den Therapiestandards (bei unreifem Zervixbefund) ab der 37. Schwangerschaftswoche (SSW) neben Misoprostol gemäß der aktuellen S2k-Leitlinie Geburtseinleitung der AWMF, dem Cochrane-Review „Low-dose oral misoprostol for induction of labour“ und den Empfehlungen des NICE zur Geburtseinleitung 

  • vaginal anzuwendendes Dinoproston in seinen verschiedenen Zubereitungen,
  • Foley-Ballonkatheter und Dilatatoren (beide nur bei intakter Fruchtblase) zählen.

Zu den in Deutschland zugelassenen vaginalen Dinoproston-Darreichungen gehörten

  • Minprostin® Gel 1 bzw. 2 mg (Indikation: bei Schwangeren am Termin oder nahe am Termin mit ausreichender Geburtsreife der Cervix uteri (Bishop-Score 4 und größer) und Einlingsschwangerschaft),
  • Minprostin® Vaginaltabletten 3 mg (Indikation: zur Geburtseinleitung bei Patientinnen mit ausreichender Geburtsreife der Cervix uteri) und
  • Propess® Freisetzungssystem 10 mg (Indikation: zur Einleitung der Zervixreifung in der Spätschwangerschaft ab Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche).

Außerdem wird in der Lauer-Taxe noch das niedriger dosierte „Perpidil Gel“ gelistet, mit der Indikation: „Medizinisch indizierte Geburtseinleitung bei Schwangeren mit unreifer Zervix (Bishop-Score bis zu 5).“

Am 28. Juni 2021 war ein Rote-Hand-Brief (RHB) zu den dinoprostonhaltigen Arzneimitteln Minprostin, Prepidil und Propess veröffentlicht worden. Wie im ursprünglich medial diskutierten Fall Cytotec ging es dabei um uterine Hyperstimulationen. Sicherheitshinweise, die für Misoprostol gelten, müssen also auch bei anderen Prostaglandinen in der Geburtseinleitung beachtet werden. 

Ansonsten ist der Fall Misoprostol zumindest wissenschaftlich nicht komplett abgeschlossen, beispielsweise ist die optimale Dosierung noch nicht ganz geklärt: 

„Problematisch und weiterhin unklar ist die optimale Dosierung, da eine Erhöhung der Dosis zwar zu einer besseren Effektivität führt, jedoch die Nebenwirkungen (v. a. uterine Überstimulation) ebenso höher sind“, heißt es beispielsweise in der aktuellen Leitlinie zur Geburtseinleitung

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Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
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