Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen

Suizidhilfe ist möglich – aber nicht durch den Staat

Berlin - 03.02.2022, 10:45 Uhr

Seit Jahren befassen sich deutsche Gerichte mit der Frage, ob schwerkranken Menschen der Zugang zu einer tödlichen Dosis eines Betäubungsmittels zu gewähren ist. (Foto: IMAGO / sepp spiegl)

Seit Jahren befassen sich deutsche Gerichte mit der Frage, ob schwerkranken Menschen der Zugang zu einer tödlichen Dosis eines Betäubungsmittels zu gewähren ist. (Foto: IMAGO / sepp spiegl)


Auch wenn in Deutschland das Sterbehilfeverbot vor zwei Jahren gekippt wurde: Das BfArM ist nicht verpflichtet, schwerkranken und suizidwilligen Menschen den Erwerb des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zu erlauben. Den Betroffenen sei es zumutbar, sich anderweitig Suizidhilfe, etwa bei einem Arzt, zu suchen. Das hat das Oberverwaltungsgericht NRW am gestrigen Mittwoch entschieden. Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht hat es zugelassen.

Seit Jahren befassen sich deutsche Gerichte mit der Frage, ob schwerkranken Menschen der Zugang zu einer tödlichen Dosis eines Betäubungsmittels zu gewähren ist – und zwar durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Schon im März 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der Staat im Einzelfall einem schwer und unheilbar kranken – aber entscheidungsfähigen – Patienten in einer extremen Notlage diesen Zugang nicht verwehren darf. Dazu hatte es die für eine mögliche Erlaubniserteilung einschlägigen Normen des Betäubungsmittelgesetzes (§ 3 Abs. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG) im Lichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Gebots der Menschenwürde ausgelegt.

Dieses Urteil führte dazu, dass in der Folge mehr als 100 Sterbewillige beim BfArM die Erlaubnis beantragten, eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital erwerben zu dürfen. Doch keinem der Anträge wurde stattgegeben. Das Bundesgesundheitsministerium hatte die zu seinem Geschäftsbereich gehörende Bundesoberbehörde 2018 ausdrücklich aufgefordert, derartige Anträge abzulehnen. Zudem berief sich die Behörde auf ein Gutachten des Ex-Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio, wonach das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts „verfassungsrechtlich nicht haltbar“ sei.

Da die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht umgesetzt wurde, klagten zwei Männer aus Rheinland-Pfalz und Niedersachsen und eine Frau aus Baden-Württemberg, die an verschiedenen schwerwiegenden Erkrankungen wie Multipler Sklerose und Krebs leiden, wiederum vor dem Verwaltungsgericht Köln. Sie verlangen vom BfArM, ihnen jeweils eine Erlaubnis zum Erwerb von 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zu erteilen, um mithilfe dieses Betäubungsmittels ihr Leben zu beenden.

Doch das Verwaltungsgericht wollte sich mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht abfinden. Es rief daher in drei Verfahren 2019 das Bundesverfassungsgericht an. Die Kölner Richter meinten, eine verfassungskonforme Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG sei unmöglich. Denn es widerspreche dem „erkennbaren historischen und aktuellen Willen des Gesetzgebers“, die Erwerbserlaubnis für ein Betäubungsmittel zur Selbsttötung zu erteilen. Dabei verwies das Verwaltungsgericht auch auf das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Da sich das Verwaltungsgericht an diese gesetzgeberische Entscheidung gebunden sah, sollte das Bundesverfassungsgericht klären, ob die BtM-Vorschriften verfassungsgemäß sind.

Im Mai 2020 befand das Bundesverfassungsgericht die Kölner Vorlagen allerdings für unzulässig – nachdem es im Februar 2020 in anderen Verfahren das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB alt) kassiert hatte. Den Karlsruher Richtern genügte die Begründung für ein solches Normenkontrollverfahren nicht – jedenfalls nicht angesichts seiner drei Monate zuvor gefassten Entscheidung.

Betäubungsmittelgesetz erfordert therapeutischen Einsatz von BtM – keinen tödlichen Einsatz

Und so landeten die drei Rechtsstreitigkeiten letztlich vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen, das am gestrigen Mittwoch die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln bestätigte: Das OVG hält das BfArM nicht für verpflichtet, schwerkranken Menschen, die den Entschluss zum Suizid gefasst haben, hierfür den Erwerb des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zu erlauben.

Zur Begründung der Urteile führte die Vorsitzende des 9. Senats laut Pressemitteilung des Gerichts aus, dass § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG einen zwingenden Versagungsgrund darstelle. Eine Erwerbserlaubnis, die darauf gerichtet ist, ein Betäubungsmittel zum Suizid zu nutzen, diene nicht dazu, die notwendige medizinische Versorgung sicherzustellen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung wäre es nötig, dass das Betäubungsmittel eine therapeutische Zielrichtung hat – also dazu dient, Krankheiten oder krankhafte Beschwerden zu heilen oder zu lindern. „Grundrechte von Suizidwilligen werden durch diese Auslegung des Betäubungsmittelgesetzes derzeit nicht verletzt“, konstatiert die Richterin.

Auszug aus den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG):

§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG:

Einer Erlaubnis des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte bedarf, wer

1. Betäubungsmittel anbauen, herstellen, mit ihnen Handel treiben, sie, ohne mit ihnen Handel zu treiben, einführen, ausführen, abgeben, veräußern, sonst in den Verkehr bringen, erwerben […] will.

§ 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG:

Die Erlaubnis nach § 3 ist zu versagen, wenn […]

6. die Art und der Zweck des beantragten Verkehrs nicht mit dem Zweck dieses Gesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, daneben aber den Missbrauch von Betäubungsmitteln oder die missbräuchliche Herstellung ausgenommener Zubereitungen sowie das Entstehen oder Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit soweit wie möglich auszuschließen, vereinbar ist […].

Verfassungsrechtliche Probleme hat das OVG mit einer solchen Auslegung nicht. Durch den im Betäubungsmittelgesetz geregelten Versagungsgrund werde das legitime öffentliche Interesse der Suizidprävention geschützt, er diene der staatlichen Schutzpflicht für das Leben, heißt es in der Mitteilung. Diese Schutzpflicht könne gegenüber dem Freiheitsrecht des Einzelnen den Vorrang erhalten, wo die Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährdet ist. „Vorkehrungen, die eine selbstbestimmte Entscheidung des Suizidenten gewährleisten, sieht das Betäubungsmittelgesetz nicht vor“. Sie könnten auch nicht in das Gesetz hineingelesen werden. 

Der Gesetzgeber ist gefragt

Ob ein Zugang zu Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung ermöglicht werden soll, müsse vielmehr der demokratisch legitimierte Gesetzgeber entscheiden, der dann auch ein entsprechendes Schutzkonzept entwickeln müsste. Die Fragen, welche Anforderungen an den freien Willen, die Dauerhaftigkeit des Selbsttötungsentschlusses oder die Information über Handlungsalternativen zu stellen wären und wie Miss- oder Fehlgebrauch verhindert werden könnte, müssten gesetzlich beantwortet werden, so die Richterin.

Nicht zuletzt weist die Vorsitzende darauf hin, dass diese Beschränkung nicht dazu führe, dass Suizidwillige ihr Recht auf Selbsttötung nicht wahrnehmen könnten. Da das Sterbehilfeverbot nicht mehr bestehe, gebe es einen zumutbaren Zugang zu freiwillig bereitgestellter – auch geschäftsmäßiger – Suizidhilfe. Das ärztliche Berufsrecht stehe dieser Hilfe nicht mehr generell entgegen. Und so gebe es Ärzte, die tödlich wirkende Arzneimittel verschreiben und andere Unterstützungshandlungen vornehmen sowie Sterbehilfeorganisationen. Für die Betroffenen sei es zumutbar, diese zu suchen – auch über den eigenen Wohnort hinaus – und in Anspruch zu nehmen. Abschließend heißt es seitens des Gerichts: „Das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben beinhaltet keinen Leistungsanspruch gegenüber dem Staat. Soweit Ärzte und Sterbehilfeorganisationen in Deutschland bisher wohl nicht Natrium-Pentobarbital als Mittel zur Selbsttötung einsetzen, stehen andere verschreibungspflichtige Arzneimittel zur Verfügung“.

Das letzte Wort ist nach wie vor nicht gesprochen. Der Senat hat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen. Derweil ist auch weiterhin der Gesetzgeber gefordert, eine gesetzliche Regelung zu finden, die den seit zwei Jahren bestehenden Schwebezustand beendet.

OVG NRW, Az: 9 A 146/21 (I. Instanz: VG Köln 7 K 13803/17), 9 A 147/21 (VG Köln 7 K 14642/17), 9 A 148/21 (VG Köln 7 K 8560/18)



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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