Kein Methadon im Gefängnis

Menschenrechte von Ex-Häftling in Bayern verletzt

Straßburg - 01.09.2016, 17:20 Uhr

Kein Methadon im Gefängnis: Deutschland verstieß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. (Foto: dpa)

Kein Methadon im Gefängnis: Deutschland verstieß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. (Foto: dpa)


Erst kürzlich sind Gefangene in Würzburg für Methadon in den Hungerstreik getreten, nun hat Straßburg in einem ähnlichen Fall entschieden: Die Menschenrechte eines Gefangenen in Bayern wurden verletzt, da Behörden seine Gesundheitsversorgung nicht ausreichend sichergestellt haben. Der Fall könnte dazu führen, dass deutsche Gefängnisse bei der Drogensubstitution umdenken müssen.

Als rund 40 Gefangene der Justizvollzugsanstalt (JVA) Würzburg im Juli in Hungerstreik gegangen sind, haben sie wohl nicht angenommen, dass der Menschengerichtshof in Straßburg so eindeutig in einem ähnlichen Fall entscheiden würde. Sie protestierten für ein Recht auf eine Substitution mit Methadon, die in ihrem Gefängnis nicht möglich war, da ein ausreichend qualifizierter Arzt fehlte. In Straßburg haben die bayerischen Justizbehörden laut des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgetragen, dass eine Substitutionstherapie weder medizinisch notwendig noch für die Rehabilitation des Gefangenen angemessen ist. Laut den Behörden sei der Hauptgrund für eine Ersatztherapie, Armut und Straffälligkeit zu verhindern – für beides hätte es in dem Gefängnis in Kaisheim keine Gefahr gegeben.

Dies sah der Menschengerichtshof anders, wie er am Donnerstag in seiner Entscheidung bekannt gab (Az. 62303/13). Es sprächen wichtige Gründe dafür, dass eine Substitutionstherapie aus medizinischen Gründen notwendig war – wie sie auch vielerorts in deutschen Gefängnissen durchgeführt wird. Die Richter stellten in ihrem Urteil fest, dass ein Verstoß gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention vorliegt, nach dem niemand „Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“ unterworfen werden darf. Die Richter beurteilten zwar nicht, ob der Betroffene tatsächlich Methadon benötigte – sondern nur, ob sein Gesundheitszustand von den Behörden angemessen beurteilt wurde. Er war durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht gezogen, das seinen Antrag im April 2013 ohne Angabe von Gründen abgewiesen hatte (Az. 2 BvR 2263/12).

Lange Odyssee

Der 1955 geborene Mann wurde schon mit 17 Jahren heroinabhängig. Zwei Jahre später erkrankte er an Hepatitis C, mit 32 Jahren wurde HIV festgestellt. Der Mann war als schwerbehindert anerkannt. Von 1991 bis 2008 erhielt er eine Substitutionstherapie. Auch durch fünf stationäre Rehabilitationstherapien habe der Betroffene – vergeblich – versucht, seine Drogensucht zu behandeln, wie das Gericht schreibt. Ab 2005 reduzierte der Mann die Methadon-Dosis und nahm zusätzlich wieder Heroin, drei Jahre später wurde er wegen des Verdachts auf Drogenhandel festgenommen und später zu insgesamt sechs Jahren Haft verurteilt.

Nach einem wiederum erfolglosen Aufenthalt im Jahr 2009 in einer Suchtklinik in Günzburg zum „kalten Entzug“, wurde der Mann nach heimlichem Methadon-Konsum im darauffolgenden Jahr wieder ins Gefängnis in Kaisheim gebracht. Aufgrund einer Polyneuropathie und Schmerzen in den Füßen, im Nacken und der Wirbelsäule, lag er laut Menschengerichtshof an vielen Tagen überwiegend im Bett und wurde nur mit Schmerzmitteln behandelt. Auch in Bezug auf die mit dem Drogenkonsum verbundene Schmerzsymptomatik empfahl ein Arzt, dass ein Spezialist die Aussichten einer Methadon-Substitution prüfen solle.

Ein vom Betroffenen herangezogener Arzt empfahl dies unter Bezug auf Empfehlungen der Bundesärztekammer, da auch ein Entzug nur nach sehr kurzer Opiodabhängigkeit versucht werden solle. Auch hätte nach Ansicht des Arztes geprüft werden sollen, ob die Hepatitis C des Gefangenen weiter behandelt werden musste. 

Drogensubstitution war laut Arzt notwendig

Unter Bezugnahme auf den Arzt brachte der Mann vor, dass eine Drogensubstitution aufgrund seiner schlechten physischen und psychischen Gesundheit nötig sei, um eine Behandlung der Hepatitis mit Interferon zu ermöglichen. Auch habe sie wegen der Schmerzen geholfen und ermöglicht, dass er eine Ausbildung zum Software-Ingenieur abschliessen konnte. Doch das Gefängnis lehnte die Substitutionstherapie mehrfach als medizinisch nicht notwendig ab – auch nachdem das Amtsgericht Augsburg festgestellt hatte, dass eine erste Entscheidung nicht ausreichend begründet war. Inzwischen ist der Kläger wieder frei.

Nach den Aussagen der Straßburger Richter gibt es stichhaltige Indizien, dass eine Ersatztherapie angezeigt war. Gefangene dürften medizinisch nicht schlechter versorgt werden, betonten sie. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) schwankt der Prozentsatz der mit Methadon behandelten Gefangenen stark: In Nordrhein-Westfalen erhalten zehn Prozent aller Insassen die Therapie, in Berlin vier Prozent und in Bayern, laut Justizministerium im Jahr 2015, nur 45 der rund 11.000 Häftlinge – also 0,4 Prozent.

Werden nun Gesetze geändert?

Nach Schätzungen der DGS gibt es zwischen 2200 bis 3300 heroinabhängige Insassen in bayerischen Gefängnissen. Auf Anfrage von DAZ.online hatte eine Sprecherin des Justizministeriums gesagt, dass man im Rahmen eines „abstinenzorientierten Konzeptes“ auch auf die Substitutionstherapie zurückgreife – aber die Drogenabstinenz „primäres Ziel ist und bleibt“.

Das Urteil aus Straßburg ist noch nicht rechtskräftig. Das Bundesjustizministerium will bis zum Ablauf der Frist in drei Monaten prüfen, ob es Rechtsmittel einlegt, wie eine Sprecherin gegenüber DAZ.online sagte. „Nach erster Einschätzung und auf den ersten Blick ergibt sich kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf“, sagte sie – wobei die Strafvollzugspraxis Sache der Länder sei. Doch werde das Ministerium auch analysieren, ob nach der Entscheidung nicht doch auch Bundesgesetze geändert werden müssen. 

Bayern will sensibilisieren und fortbilden

„Selbstverständlich respektieren wir die heutige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“, erklärte das bayerische Justizministerium in einer Stellungnahme. Die Behörde betonte, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Anstaltsärzte einen Spielraum bei der Wahl der angemessenen Behandlungsmethode haben und nicht in jedem Fall einer Opioidabhängigkeit auch zwingend zu substituieren sei. „Wir werden die Entscheidung zum Anlass nehmen, die Anstalten nochmals zu sensibilisieren, um so künftig in vergleichbaren Konstellationen eine noch bessere Prüfung des jeweiligen Einzelfalls zu gewährleisten“, erklärte das Ministerium. 

Es bestünde durchaus im bayerischen Justizvollzug die Möglichkeit einer Substitutionsbehandlung in Haft. Wenn kein Arzt mit der nötigen Zusatzqualifikation am Gefängnis tätig ist, wie es in Würzburg der Fall war, käme eine Verlegung in eine andere Anstalt in Betracht, wie die Ministeriumssprecherin gegenüber DAZ.online sagte. Die Anstaltsärzte würden „nach Kräften“ bei der Qualifizierung unterstützt, um eine möglichst flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Möglicherweise würden auch Landesgesetze überarbeitet. „Wir werden das alles sorgfältig analysieren“, sagte die Sprecherin. 



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

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von Frank ebert am 01.09.2016 um 17:26 Uhr

Was diese Menschen der Gesellschaft ein Geld kosten, während die Oma Anna kaum mehr vernüftige Windeln bekommt. Auch Menschenunwürdig !

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