Arzneimittel und Therapie

Herz und Schmerz(mittel)

Eine kritische Nachbetrachtung zum Valentinstag von Prof. Dr. med. Thomas Herdegen

Vor Kurzem erschien in der amerikanischen Zeitschrift „Policy Insights from the Behavioral and Brain Sciences“ eine Übersichts­arbeit zum Thema „Können OTC-Analgetika unser Denken und unsere Gefühle beeinflussen?“. Sie fand auch in den Medien ein lebhaftes Echo. Was ist passiert, dass – um im valentinst(r)agischen Bild zu bleiben – aus den Kontraindikationen koronare Herzkrankheit und/oder Herzinsuffizienz für nicht-­steroidale Analgetika (NSAR) eine „Indikation“ für Herzschmerz und Liebeskummer werden kann?

Die Übersichtsarbeit von Ratner et al. diskutiert die Ergebnisse mehrerer Publikationen, die nahelegen, dass NSAR mehr als nur den physischen Schmerz lindern [1]. Die zentralen Befunde und Kernaussagen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Gehirnregionen wie der dorsale anteriore cinguläre Kortex (dACC), die durch körperlichen Schmerz aktiviert werden, werden auch durch sozialen Schmerz wie „ausgeschlossen werden von gemeinschaftlichen Spielen“ aktiviert. Das ergab eine Untersuchung mittels funktioneller Magnetresonanztomografie [2].
  • Zweimal täglich 1000 mg Paracetamol verminderte im Vergleich zu Placebo die neuronalen Antworten auf sozial negative Gefühle: Nicht nur im dACC, sondern auch in anderen Kerngebieten, die in die aversive Einfärbung von körperlichem Schmerz eingebunden sind [3].
  • Die tägliche Erinnerung an unangenehme („schmerzhafte“, „verletzende“) Gefühle wurde unter zweimal täglich 500 mg Paracetamol im Vergleich zu Placebo verringert. Positive Gefühle wurden davon nicht beeinflusst [3].
  • Paracetamol reduzierte in zwei doppelblinden Placebo-kontrollierten Studien die Empathie: Die Probanden litten weniger mit, wenn andere Personen physischen oder sozialen Schmerz erfuhren. Die allgemeine Grundstimmung wurde dabei nicht verändert [4].
  • Reaktionen auf verschiedene kognitive Konflikte, wie beispielsweise den Gedanken an die eigene Sterblichkeit, waren unter 1000 mg Paracetamol abgeschwächt [5 – 7]. Ebenso verminderte Paracetamol in einer Studie die Empfindung gegenüber positiven und negativen Reizen, in diesem Fall gegenüber Bildern [8].
  • Unter 400 mg Ibuprofen empfanden Frauen weniger „sozialen Schmerz“, Männer hingegen mehr [9].

Doch was ist von diesen Ergebnissen bei kritischer Betrachtung der Daten wirklich neu und bedeutsam? Die folgende Analyse setzt sich mit der Übersichtsarbeit kritisch auseinander.

„Wahrscheinlich sind die sprachlichen Schmerzbilder, mit denen wir körperliche und emotional-seelische Verletzungen zu fassen versuchen, doch mehr semantischer und weniger neurobiologischer Natur...“

Prof. Dr. med. Thomas ­Herdegen, Kiel

Paracetamol ist speziell

Paracetamol ist ein nicht-saurer Hemmstoff der Cyclooxygenase-2 (COX-2) mit einer schwachen bis mittelstarken analgetischen Wirkung, jedoch ohne Entzündungshemmung. Somit ist Paracetamol kein klassisches NSAR. Wichtig im Zusammenhang der zu diskutierenden Übersichtsarbeit ist die wahrscheinliche Modulation des Endocannabinoid-­Systems. So bildet Paracetamol den Metaboliten N-Arachidonoylphenol­amin (AM404), der ein Ligand an Cannabinoid-Rezeptoren ist. Der nicht­selektive COX-1- und COX-2-Hemmer Ibuprofen wurde nur in einer Studie untersucht, mit für Frauen und Männern entgegengesetzten – um nicht zu sagen widersprüchlichen – Ergebnissen. Die bisherigen Daten deuten also weniger auf einen Effekt der COX-Hemmung als auf eine eventuelle Paracetamol-spezifische endocannabinoide Wirkung hin. Was auch mit der bekannten entspannenden und affektverflachenden Wirkung von Cannabinoiden im Einklang steht.

Die Rolle von Prostaglandinen und Cyclooxygenasen im Gehirn

Wenn man von NSAR spricht, muss man sich mit Prostaglandinen auseinandersetzen. Die Wirkungen von Prostaglandinen und Cyclooxygenasen auf neurobiologische-psychische Prozesse sind vielfältig. Als Beispiel mag eine Patientin mit schwerster therapieresistenter bipolarer Störung dienen, bei der der COX-2-Hemmer Celecoxib das „Rapid Cycling“, also den raschen Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen, um die Hälfte entschleunigen konnte [10]. Interessanterweise markieren Expressions­änderungen von Prostaglandin-metabolisierenden Enzymen den Beginn des Winterschlafes bei Tieren: Eventuell spiegelt bipolares „Zyklieren“ also das evolutionär alte Muster des Winterschlafes wider [10]. Neuronen und Mikroglia exprimieren Cyclooxygenasen: Ihre Rolle bei der Gedächtnisbildung, der Aufmerksamkeit und der Schlafregulation sowie bei neuroinflammatorischen Prozessen ist bekanntes neurobiologisches Grundwissen. COX-Hemmer wirken sowohl auf das periphere wie auch das zentrale Schmerz- bzw. Nervensystem. Störungen von Kognition und Aufmerksamkeit gelten als bekannte neurologische Nebenwirkungen. Andererseits werden COX-Hemmer immer noch als eine wichtige neuroprotektive Therapieoption betrachtet, beispielsweise gegen das Fortschreiten einer Demenz.

Paracetamol als Tranquilizer?

Mit den Benzodiazepinen und Neuroleptika stehen Tranquilizer zur Ver­fügung, die hochwirksam und sofort schwerste affektive und psychomotorische Unruhezustände zu beheben vermögen. Selbst eingefleischte HSV-Anhänger würden unter Einnahme dieser Neuropharmaka den Abstieg ihrer Mannschaft aus der Bundesliga nur noch achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Ob Paracetamol Ähnliches leisten kann, darf bezweifelt werden: Paracetamol zeigte erst nach 11-tägiger Einnahme eine signifikante Änderung der Bewertung innerer Gefühle (die Abnahme bzw. Zunahme unter Paracetamol bzw. Placebo betrug lediglich 0,1 – 0,2 Punkte auf einer 3-Punkte-Skala) [3]. So lange sollte man bei Liebeskummer oder Mobbing nicht warten.

Foto: voltornist – stock.adobe.com
Paracetamol und Co. sollen auch psychische Leiden lindern. Das legt zumindest eine aktuelle Übersichtsarbeit nahe.

Wie gleich sind Herzschmerz und Verletzungsschmerz?

Immer wieder weisen Ratner et al. darauf hin, dass die emotionale Komponente beim körperlichen Verletzungsschmerz ähnlich der beim sozialen oder psychischen Schmerz sein kann. Ihre zentrale Schlussfolgerung lautet daher: Wer Schmerzen unterdrückt, unterdrückt auch Emotionen. Doch ist das aversive „Schmerzgefühl“, das Verletzungssschmerzen und Liebeskummer teilen, zwar teilweise ähnlich, aber eben nicht gleich. So decken sich einschießende Parästhesien bei radikulärer Pathologie oder Allodynie beim Sonnenbrand offensichtlich nicht mit der Verzweiflung bei Todesfällen oder der Enttäuschung, wenn man „sitzengelassen“ oder „ausgeschlossen“ wird. Wahrscheinlich sind die sprachlichen Schmerzbilder, mit denen wir körperliche und emotional-seelische Verletzungen zu fassen versuchen, doch mehr semantischer und weniger neurobiologischer Natur, wie Ratner et al. uns glauben lassen möchten. Körperliche und psychische Schmerzen können aus neuropsychologischer Sicht vielmehr eine „Endstrecke“ teilen: ein Kerngebiet im Gehirn (oder eine zelluläre Reaktion) wird von verschiedenen Bahnen und Auslösern erreicht bzw. stimuliert. Die Hemmung dieser „Endstrecke“ verändert aber nicht die Systeme, die in diese „Endstrecke“ münden.

Die Psyche macht Schmerzen

Dass neuropsychiatrische Krankheiten wie Depression, Fibromyalgie oder Morbus Parkinson zu einer veränderten Wahrnehmung körperlicher Schmerzen führen, ist eine längst bekannte Tatsache. Dies reflektieren auch die gängigen Klassifikationen, wie die Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD). Auch dass umgekehrt z. B. Antidepressiva den körperlichen Schmerz dämpfen, zeigt den Schmerz-Seele-Zusammenhang.

Schmerz, Sucht und Dopamin

(Chronische) Schmerzen führen zu neurobiologischen Veränderungen des dopaminergen Systems, wie sie auch bei Suchtkrankheiten beobachtet werden [11]. So ist der Bedarf an bzw. das Verlangen nach Schmerz­mitteln möglicherweise Ausdruck des Nervensystems, sein dopaminerges Defizit zu decken (ähnlich wie bei suchtbedingten Entzugsreaktionen). Leider werden solche und andere essenzielle Beziehungen zwischen psychischen und körperlichen Reaktionen bei Ratner et al. nicht diskutiert.

Was macht der körperliche mit dem psychischen Schmerz?

In den eingangs beschriebenen Untersuchungen waren alle Probanden gesund und ohne Schmerzen. NSAR einschließlich des Paracetamols werden jedoch gegen Schmerzen eingesetzt. Patienten mit Schmerzen haben eine andere Wahrnehmung von Gefühlen, der Schmerz dominiert das Bewusstsein. Der Einfluss von Schmerzen auf die (Neben-)Wirkung von Analgetika ist enorm: Beispielsweise führt selbst die intravenöse Gabe von Heroin, die gegen einen schweren Schmerz „titriert“ wird, zu keiner bzw. einer anderen Abhängigkeit wie Heroin beim Gesunden. Wie mag sich die empathische Empfindung verändern, wenn ich gegen Kopfschmerz oder Knochenschmerz Paracetamol einnehme? Wir wissen nicht, was Paracetamol noch bewirken kann, wenn das Gehirn in einer emotionalen Krise Kopf steht oder der Liebeskummer uns mit Haut und Haaren auffrisst. Ich bezweifle, dass Paracetamol bei stärkeren körperlichen Schmerzen die emotionalen Begleitumstände beeinflusst.

Welch ein Glück: Schmerz­hemmung schützt vor Mitleid

Wir müssen uns immer klar machen, dass unser Körper und unser Gehirn nicht für ein postmodernes und postfaktisches Leben entwickelt wurden. Das Schmerzsystem musste sich bis vor Kurzem weniger damit auseinandersetzen, dass man sich ständig gemobbt und ausgeschlossen fühlt. Da waren andere Dramen für unsere Entwicklung relevanter: Ständige kriegerische Auseinandersetzungen, von Hunger getriebene Raubzüge oder Naturkatastrophen, von schlechter Ernährung („hard food“ statt „fast food“) ganz zu schweigen. Wenn ich neben vielen Verletzten und inmitten verstümmelter Toter auf dem Schlachtfeld liege oder nach einer Plünderung im Dorf zurückbleibe, dann kann ich nur hoffen, dass zum eigenen Schmerz nicht noch das Mitgefühl für das Drama meines Nächsten kommt und dass schmerzlindernde Maßnahmen mir auch helfen, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Liegt nicht ein großer evolutionärer Vorteil darin, dass körperlicher Schmerz und emotionaler Schmerz die gleichen Kerngebiete ansteuern, weil dadurch der körperliche Schmerz den emotionalen Schmerz verdrängen kann und eine Schmerztherapie mich bis zur Gesundung aus der Umfeld-Katastrophe fernhält? Das schließt natürlich nicht aus, sich gegenseitig in Gefahr und Not zu helfen.

Gneis als Gold

Mancherlei deutet darauf hin, dass Ratner et al. hellen Gneis als Gold verkaufen. Die Zeitschrift „Policy Insights from the Behavioral and Brain Sciences“ – nicht zu verwechseln mit der alt-renommierten Zeitschrift „Behavioral and Brain Sciences“ mit einem Impact Factor von 14,5 – ist nicht in der Literaturdatenbank PubMed gelistet, in der wissenschaftliche Publikationen für gewöhnlich geführt sind. Die Artikel der Zeitschrift sind fast alle auch nicht öffentlich zugänglich und müssen gekauft werden. Die Titel der Veröffentlichungen erwecken den Eindruck, dass vor allem zeitgeistige Hotspots adressiert werden. Auch trivialisieren Ratner et al.: „So sei die Wirkung von NSAR auf affektive und kognitive Prozesse weitgehend unbekannt.“ Das ist schlicht Unfug. Auffallend ist ein „Katastrophisieren“ als Grundton: An zahlreichen Stellen wird Altbekanntes als Sensation verkauft wie das Fazit „...die beschriebenen Erkenntnisse sind alarmierend...“. Ratner et al. äußern sich auch nicht zur Rolle der Prostaglandine im Gehirn. Als ob es ein Geheimnis sei, an dem nur Auserwählte teilnehmen dürften. Stattdessen wird mit dem Ausdruck „psychische Wirkungen“ ein Unbehagen auslösendes Momentum geschaffen. Der Gipfel der Emotionalisierung ist die Aufforderung an die Politiker („policy makers“), sich darüber bewusst zu sein, dass Medikamente in niedriger Dosis andere Wirkungen haben können als in hoher Dosis. Und zu Herzen geht der Hinweis „Vielleicht ist weniger bekannt, dass ein Stoffwechsel­produkt von Paracetamol, das N-Acetyl-p-benzo­chinonimin (NAPQI), lebertoxisch ist“. Was mit dem Thema absolut nichts zu tun hat. Schließlich die (verantwortungslose) Effekthascherei: „Diese Medikamente könnten beim Umgang mit verletzten Gefühlen einen therapeutischen Nutzen haben.“ Was nun? Soll die Verbreitung von Paracetamol wegen seiner Gefährlichkeit ein­geschränkt oder Paracetamol als OTC-Alltagstranquilizer positioniert werden?

Fazit

Paracetamol oder NSAR taugen nicht als Beruhigungsmittel. Wenn dem übrigens wirklich so wäre, hätten wir mit 500 mg Paracetamol statt 500 ml Wein eine großartige und weitaus weniger schädliche Alternative zu Alkohol, unserem problematischen Sorgenkiller. Im Gegensatz zu Neurophar­maka – eine emotionale Verflachung bzw. affektive Veränderungen sind bei chronischem Gebrauch von Benzodiazepinen, Neuroleptika oder Opioiden seit Jahrzehnten ebenso bekannt wie die zugrunde liegenden neurobiologischen Prozesse – ist solch eine Wirkung der NSAR bei Schmerzpatienten nicht untersucht. Somit lassen sich aus den bisherigen Befunden bei bestimmungsgemäßem Gebrauch von NSAR auch keinerlei Warnszenarien ableiten. Es ist nicht sehr gescheit, ein weiteres Scheit auf den Scheiterhaufen der NSAR zu legen. |

Quelle

[1] Ratner KG et al. Can Over-the-Counter Pain Medications Influence Our Thoughts and Emotions? Policy Insights Behav Brain Sci 2018;5(1):82–89

[2] Eisenberger NI et al. Does rejection hurt? An FMRI study of social exclusion. Science 2003;302(5643):290-292

[3] DeWall CN et al. Acetaminophen reduces social pain: Behavioral and neural evidence.Psychol Sci 2010;21(7):931-937

[4] Mischkowski D et al. From painkiller to empathy killer: Acetaminophen (paracetamol) reduces empathy for pain. Soc Cogn Affect Neurosci 2016;11(9):1345-1353

[5] Randles D et al. The common pain of surrealism and death: Acetaminophen reduces compensatory affirmation following meaning threats. Psychol Sci 2013;24(6):966-973

[6] Randles D et al. Acetaminophen attenuates error evaluation in cortex. Soc Cogn Affect Neurosci 2016;11(6):899-906

[7] DeWall CN et al. Can acetaminophen reduce the pain of decision-making? J Exp Soc Psychol 2015;56:117-120

[8] Durso GRO et al. Over-thecounter relief from pains and pleasures alike: Acetaminophen blunts evaluation sensitivity to both negative and positive stimuli. Psychol Sci 2015;26(6):750-758

[9] Vangelisti AL et al. Reducing social pain: Sex differences in the impact of physical pain relievers. Pers Relatsh 2014;21(2):349-363

[10] Begemann M et al. Episode-specific differential gene expression of peripheral blood mononuclear cells in rapid cycling supports novel treatment approaches. Mol Med 2008;14(9-10): 546–552

[11] Herdegen, T. Pharmako-logisch! Update: Neuropathische Schmerzen, Opioide und Coffein. DtschApothZtg 2017;9:807-821

Prof. Dr. med. Thomas Herdegen

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