Gesundheitspolitik

EU-Versandapotheken müssen deutsche Arzneimittel-Festpreise akzeptieren

Gemeinsamer Senat entscheidet pro BGH – EU-Versender wollen vor den EuGH ziehen

Berlin/Karlsruhe (jz/ks). Auch EU-ausländische Versandapotheken wie die Europa Apotheek Venlo (EAV) oder DocMorris dürfen ihren Kunden keine Boni nach Belieben gewähren. Wie ihre deutsche Konkurrenz sind sie an das hiesige Arzneimittelpreisrecht gebunden, wenn sie Arzneimittel nach Deutschland versenden. Das hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe am 22. August entschieden. Er sieht in den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage, um die Arzneimittelpreisverordnung auf ausländische Versandapotheken zu erstrecken. (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe, Beschluss vom 22. August 2012 – Az. GmS-OGB 1/10)

Für die neun Richterinnen und Richter sowie die Anwälte war der Termin am letzten Mittwoch eine ungewohnte Situation: Der Gemeinsame Senat, dem auch die fünf Präsidentinnen und Präsidenten der obersten Gerichtshöfe angehören, tritt äußerst selten zusammen. Seit dem Jahr 2000 hat er gerade einmal vier Entscheidungen getroffen. Der Gemeinsame Senat wird angerufen, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen will. Vorliegend war es der 1. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH), der bei der Frage, ob die EAV ihren Kunden Boni bis zu 15 Euro pro Rx-Packung gewähren darf, von einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) abweichen wollte. Nämlich der, ob die Arzneimittelpreisverordnung auch für ausländische Versandapotheken mit deutschen Kunden gilt.

Während der mündlichen Verhandlung ließen weder die Vorsitzende Marion Eckertz-Höfer, Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts, noch ihre Kollegen durchblicken, in welche Richtung sie entscheiden würden. Kläger- und Beklagtenseite hatten jedoch nochmals Gelegenheit, zu vier Punkten, die ihnen der Senat vorgegebenen hatte, Stellung zu beziehen. Dabei ging es zunächst um die Frage der Divergenz zwischen BGH und BSG: geht es wirklich um die gleiche Rechtsfrage und ist diese Abweichung entscheidungserheblich? Der Rechtsvertreter der klagenden Darmstädter Apothekerin, Prof. Achim Krämer, äußerte bereits hierzu seine Zweifel. Schließlich ging es in dem Fall, den das BSG (Urteil vom 28. Juli 2008, Az.: B 1 KR 4/08 R) zu entscheiden hatte, um die Frage, ob ein Pharmaunternehmen der holländischen Versandapotheke DocMorris die in Deutschland vorgesehenen gesetzlichen Herstellerrabatte einräumen muss. Denn die Kassen kürzten auch ihre DocMorris-Rechnungen um diese Rabatte. Das BSG lehnte das Begehren der holländischen Versandapotheke seinerzeit mit verschiedenen Argumenten ab. Auch damit, dass DocMorris nicht den deutschen Preisvorschriften für Arzneimittel unterliege. Mittlerweile haben die holländischen Versender das Problem für sich gelöst: Der Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V wurde angepasst und ermöglicht seit 2010 unter gewissen Voraussetzungen auch ausländischen Apotheken den Beitritt – mit der Folge, dass diese auch Herstellerrabatte geltend machen können. Krämer sah zwar eine "gewisse Affinität" zwischen dem Fall des BSG und der Boni-Frage, die der BGH zu beantworten hatte – aber auch große Unterschiede. Ganz anders sein Kollege Dr. Matthias Siegmann – für ihn war die Divergenz "eindeutig".

Gesetzgeber ist mit AMG-Änderung vorausgeeilt

Ein weiterer Punkt war die Frage, ob deutsches Recht überhaupt anwendbar ist. Hierauf gingen die Anwälte allerdings kaum ein – selbst die Beklagtenseite stritt dies nicht grundsätzlich ab. Und so ging es fließend über zum dritten Punkt: Ist die gesetzliche Grundlage für die Arzneimittelpreisverordnung – § 78 Arzneimittelgesetz (AMG) – eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage? Hier führte der ebenfalls für die Klägerin sprechende Rechtsanwalt Dr. Morton Douglas aus, dass der Gesetzgeber ohnehin beabsichtige, europäische Versandapotheken durch eine Änderung des § 78 AMG ausdrücklich der Arzneimittelpreisverordnung zu unterwerfen, so sie Kunden in Deutschland beliefern. Man könne – obwohl das Gesetz erst im Oktober in Kraft treten soll – schon von einer "Vorwirkung" sprechen. EAV-Vertreter Siegmann sah dies ganz anders: Im Bundesrat, den die 16. AMG-Novelle noch passieren muss, könne noch einiges passieren. Die Vorsitzende Richterin betonte, die künftige Rechtslage durchaus vor Augen zu haben. Doch auch diese müsse unter dem letzten vorgegebenen Gesichtspunkt – nämlich der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht – betrachtet werden. Wenn dies verneint würde, müsse sich der Senat fragen, ob er die Sache dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen hat. Auch hier waren die Positionen der Parteien klar: Douglas hegte keine Zweifel, dass das Gemeinschaftsrecht nicht verletzt sei, Siegmann sehr wohl.

Am Ende der etwa eineinhalbstündigen Verhandlung war nicht klar, ob am selben Tag noch eine Entscheidung fallen würde. Doch am frühen Abend war es dann so weit. Die Pressestelle des BGH vermeldete einen Beschluss des Gemeinsamen Senats: Insbesondere aus § 78 Abs. 1 und 2 AMG ergebe sich, dass auch Versandapotheken aus dem EU-Ausland sich bei der Belieferung deutscher Kunden an deutsche Arzneimittelpreise halten müssen. Die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes stellten eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage dar, ausländische Versandapotheken, die verschreibungspflichtige Arzneimittel im Inland an Endverbraucher abgeben, deutschem Arzneimittelpreisrecht zu unterwerfen. Diesem Ergebnis stehe weder primäres noch sekundäres Unionsrecht entgegen. Die deutsche Regelung verstoße insbesondere nicht gegen die Warenverkehrsfreiheit. Es handele sich gerade nicht um eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne von Art. 34 AEUV – dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Mit dieser Entscheidung unterstützte der Hohe Senat den BGH sowie die Linie der Politik.

Nun wird der 1. Zivilsenat des BGH sein Urteil im Rechtsstreit zwischen der Darmstädter Apothekerin und der EAV sprechen. Am 9. September 2010 hatte er bekanntlich einige sogenannte "Boni-Urteile" gefällt. Lediglich bei den EAV-Boni sah sich der Senat aus den genannten Gründen gehindert, eine Entscheidung zu treffen – auch wenn er schon damals seine Meinung dazu hatte. Nach dem Zwischenverfahren vor dem Gemeinsamen Senat kann er diese nun auch in ein Urteil gießen. Wie lange es dauern wird, bis diese – dann auch rechtskräftige – Entscheidung vorliegt, ist derzeit noch nicht zu sagen.

EU-Versandapotheken wollen weiter Boni gewähren

Der Europäische Verband der Versandapotheken (EAMSP) hat indes schon kundgetan, dass er sich mit dem Beschluss des Gemeinsamen Senats nicht zufriedengeben wird. Man werde bei der Kommission der Europäischen Union Beschwerde einreichen, erklärte der Verband unmittelbar nach Bekanntwerden der Entscheidung. Ob Apotheken aus den Niederlanden Rx-Boni an deutsche Kunden gewähren dürfen, muss aus Sicht der Verbandsmitglieder – darunter EAV, DocMorris, easyApotheke, Sanicare, Zur Rose – auf europäischer Ebene geklärt werden.

Während in Deutschland die Festpreisbildung gilt, müssen sich Apotheker in den Niederlanden lediglich an die Höchstpreisbindung für Rx-Arzneimittel halten. Die niederländischen Versandapotheken hätten in den vergangenen Jahren durch den Verzicht auf Marge finanzielle Vorteile in Höhe von vielen Millionen Euro an Patienten weitergegeben. Und weil das weiterhin möglich sein sollte, "wartet die EAMSP mit Spannung auf die endgültige Rechtsprechung vor dem Europäischen Gerichtshof", heißt es in einer Stellungnahme.

Und der Verband geht noch weiter: Er kündigte an, dass seine Mitgliedsapotheken – unbeeindruckt von der Entscheidung des Gemeinsamen Senats – den eigenen Kunden in Deutschland auch künftig Preisvorteile anbieten werden. Schließlich gebe es "keinen rationalen Grund, warum Boni, die aus dem Gewinn von Unternehmen stammen und das Gesundheitssystem nicht belasten, nicht an Verbraucher ausgeschüttet werden sollten, die dadurch erheblich Geld sparen können".

Auch die Ordnungsgelder, die in Bayern bereits gegen die EAV verhängt wurden, lassen die Geschäftsleitung offenbar kalt. Man darf also gespannt sein, wie weit die holländischen Versender in Europa kommen werden. Rechtsanwalt Thomas J. Diekmann, der dem EAMSP mit rechtlicher Beratung zur Seite steht, hat vor dem EuGH bereits Erfahrung gesammelt: Mit DocMorris kämpfte er dort seinerzeit gegen das deutsche Fremdbesitzverbot. Wie das Verfahren ausging, ist bekannt.



AZ 2012, Nr. 35, S. 1

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