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Mehr Regionalisierung, aber wie?

KIEL (tmb). Bei der alljährlich aus Anlass der Kieler Woche stattfindenden gesundheitspolitischen Diskussion des Fritz-Beske-Instituts für Gesundheitssystemforschung ging es in diesem Jahr um die Regionalisierung von Gesundheit und Pflege. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wurde diskutiert, inwieweit die Gesundheitsversorgung weiterhin zentral organisiert werden kann oder die Entscheidungen stärker in die Regionen verlagert werden müssen. Die Teilnehmer der Diskussion am 24. Juni in Kiel waren weitgehend einig in einem Trend zu mehr Regionalisierung, doch die Überlegungen zur Umsetzung zeigten die Diskrepanzen und verdeutlichten die Zusammenhänge zu aktuellen politischen Problemen vom Gesundheitsfonds bis zum neuen Versorgungsgesetz.
Fotos: DAZ/tmb
Gastgeber und Moderator Prof. Dr. Fritz Beske

Gastgeber und Moderator Prof. Dr. Fritz Beske wies auf die zu erwartenden demografischen Veränderungen hin. Die Bevölkerungszahl werde deutlich zurückgehen. Der Zahl der Alten, Kranken und Pflegebedürftigen werde steigen, während die Zahl der Personen im Erwerbsalter massiv sinke. Zur Regionalisierung erinnerte Beske an das Prinzip von Ludwig Erhardt, auf Bundesebene Rahmenbedingungen zu setzen und die Durchführung der niedrigstmöglichen Ebene zu überlassen. Alle Diskussionsteilnehmer teilten grundsätzlich die erwartete Einschätzung der demografischen Entwicklung.

Dr. Volkram Gebel, ehemaliger Landrat des Kreises Plön, erklärte, dass die Entwicklung in einigen Regionen noch krasser sein werde, als es Durchschnittsangaben erken-nen lassen.

Der schleswig-holsteinische Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg (FDP) beklagte, dass dies schon seit 30 Jahren bekannt, aber bisher bei allen Reformen ignoriert worden sei. Gesundheitspolitiker würden daran gemessen, ob sie die Versorgung der älter werdenden Bevölkerung langfristig ermöglichen, so Garg.

(v.l.) Dr. Heiner Garg, Schleswig-Holsteinischer Gesundheitsminister, Dr. Rudolf Kösters, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft

Prof. Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender der DAK, mahnte, nicht die Probleme des Jahres 2050 lösen zu wollen, weil niemand wisse, welches Gesundheitssystem dann bestehe. Rebscher forderte, die Probleme nicht durch staatliche Regulierung, sondern liberal durch unternehmerische Entscheidungen zu lösen. "Gesellschaften haben ein Selbstorganisationspotenzial, das die Kraft politischer Regulierung bei Weitem überschreitet", so Rebscher.

Dr. Rainer Hess, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, forderte eine langfristige politische Einigung über den gesundheitspolitischen Kurs. Er kritisierte die häufigen politischen Kurswechsel. Lange Zeit sei Überversorgung ein beherrschendes Thema gewesen, nun Unterversorgung. Mal werde mehr und mal weniger Wettbewerb gefordert. "Wir brauchen einen Konsens, wie wir langfristig damit umgehen", forderte Hess.

Beske prognostizierte, eine allumfassende Gesundheitsreform werde es nie geben, sondern stets nur schrittweise Veränderungen. Als zentrales gesundheitspolitisches Thema der Zukunft sieht Beske die Definition einer bedarfsgerechten Versorgung an, denn das Geld werde nicht ausreichen, um das heutige Leistungsniveau zu finanzieren. Außerdem würden nicht alle Leistungen im Gesundheitswesen von Fachkräften ausgeführt werden können.

(v. l.) Dr. Volkram Gebel, ehemaliger Landrat des Kreises Plön, Wolfram-Arnim Candidus, Präsident der Bürgerinitiative Gesundheit

Konsens über mehr Regionalisierung

Angesichts dieser Herausforderungen müssten die Leistungserbringer ihre Leistungen vernetzen, forderte Wolfram-Arnim Candidus, Präsident der Bürgerinitiative Gesundheit, doch das gehe nicht dirigistisch auf der Bundesebene. Von den Politikern forderte Candidus den Bürgern reinen Wein einzuschenken. Doch sollten die Bürger auch in die Pflicht genommen werden und Verantwortung für den eigenen Körper übernehmen.

Nach Einschätzung von Dr. Klaus Bittmann, Vorstandsmitglied der Ärztegenossenschaft Schleswig-Holstein, gibt es schon heute Kommunen, in denen die Leistungsträger des Gesundheitswesens zum Nutzen der Bürger gut vernetzt sind, beispielsweise Krankenhäuser und ambulante Pflegeeinrichtungen. Aus dem Auditorium wurde dazu auf das Krankenhaus im sauerländischen Brilon als Musterbeispiel verwiesen. Doch nach Einschätzung von Bittmann scheitere die Integrierte Versorgung typischerweise an Besitzständen und Sektorengrenzen. Ärzte sollten Kooperationen mit Hilfsberufen nicht als Bedrohung ansehen. Denn "wenn es wirklich brennt, wird der Staat Maßnahmen ergreifen, die uns allen nicht passen", so Candidus.

Dr. Ingeborg Kreuz, Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, mahnte das Prinzip der Selbstverwaltung anzuerkennen und für die Regionalisierung zu nutzen. Als Ergebnis werde es auch innerhalb eines Bundeslandes unterschiedliche Lösungen geben. Zudem forderte Kreuz gute Arbeitsbedingungen, um die nötigen Fachkräfte zu halten. Der Begriff der Region ist für Beske variabel. Für Rebscher ist es das Gebiet, in dem sich Partner für die Lösung eines Versorgungsproblems finden.

Garg mahnte, die Integrierte Versorgung nicht als Kampfinstrument gegeneinander zu nutzen. Nach Einschätzung von Rebscher müssen die Finanzierung und ein bundesweit einheitlicher Leistungsrahmen auf der zentralen Ebene beschlossen werden, die Umsetzung könne dagegen vor Ort geregelt werden.

Hess erinnerte daran, dass die heutige Zentralisierung auch auf Forderungen der Ärzte beruhe, weil die regionalen Unterschiede beispielsweise bei den Honoraren zu groß geworden waren. Hess, der als Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses für ein wichtiges zentrales Steuerungsgremium steht, betonte sehr engagiert, dass für die Qualitätssicherung und den Umgang mit wichtigen Krankheitsbildern zentrale Strukturvorgaben nötig seien. 

(v. l.) Dr. Klaus Bittmann, Vorstandsmitglied der Ärztegenossenschaft Schleswig-Holstein, Prof. Herbert Rebscher, ­Vorstandsvorsitzender der DAK, Dr. Rainer Hess, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, Dr. Ingeborg Kreuz, Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein

Aktuelle gegenläufige Entwicklungen

Dr. Rudolf Kösters, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, argumentierte, dass regionale Lösungen und die Integrierte Versorgung regionale Beitragshoheit erfordern, wie sie früher galt. In diesem Zusammenhang erinnerte Rebscher an seine Kritik am Gesundheitsfonds. Er sei noch nie so schnell bestätigt worden. Der Gesundheitsfonds sei der größte Fehler gewesen. Denn die Verstaatlichung der Einnahmen führe zur Verstaatlichung der Ausgaben. "Es gibt keinen Grund für einen staatlichen Einheitsbeitrag", erklärte Rebscher.

FDP-Landesgesundheitsminister Garg gestand zu, der Gesundheitsfonds sei die größte politische Fehlentscheidung der FDP gewesen, sie habe dem bayerischen Koalitionspartner zu schnell nachgegeben. Für Rebscher ist dies ein Teil einer längeren Entwicklung zu mehr Zentralisierung, die für alle Gesundheitsreformen seit 2005 gelte. Der jüngste Schritt sei die "Verstaatlichung" des Gemeinsamen Bundesausschusses, dessen Leiter künftig nicht mehr von der Selbstverwaltung bestimmt werden solle. Dies sei eine Anmaßung des Staates gegenüber den genuinen Rechten der Selbstverwaltung, so Rebscher. Zudem kritisierte Rebscher die Diskussion über das Versorgungsgesetz, das gegen die Regionalisierung wirke und zudem den Leistungskatalog ausweite. Wenn einzelne Krankenkassen freiwillig OTC-Arzneimittel erstatten würden, müssten andere folgen. Später müsse diese Leistung wieder mühsam zurückgenommen werden. Trotz seiner Kritik an den bisherigen zentralistischen Tendenzen erklärte Rebscher, Deutschland habe in Europa mit der Integrierten Versorgung das liberalste Vertragsrecht im Gesundheitswesen, doch würden sich nicht immer Vertragspartner finden.


Kurzkommentar: Idee mit Nebenwirkungen


Bei der Diskussion des Fritz-Beske-Instituts machte die weitgehende Einigkeit der Interessenvertreter aus den unterschiedlichsten Bereichen des Gesundheitswesens deutlich, dass die Regionalisierung künftig ein klarer Trend im Gesundheitswesen sein wird. Neue Verträge und spätere Reformen werden wahrscheinlich in diese Richtung wirken. Grundsätzlich sind die Argumente plausibel. Weniger Zentralisierung und mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die wirklich Sachkundigen vor Ort erscheinen in unserem bürokratisch überregulierten System geradezu als wunderbare Verheißung. Doch zwischen den Zeilen wurde bei der Diskussion die Gefahr deutlich, dass die gute Idee letztlich zum Argument für eine unüberschaubare Vielfalt kleinteiliger Versorgungsverträge werden könnte - ein typisches Stichwort ist die Integrierte Versorgung. Doch diese Entwicklung würde die Bürokratie noch mehr vergrößern. An die Stelle praktikabler Kollektivverträge könnten immer mehr Selektivverträge treten, in denen der wirtschaftlich stärkere Partner den anderen Beteiligten seine Bedingungen diktiert. Die Macht der Krankenkassen würde weiter steigen. Die vermeintliche Ortsnähe könnte dabei zum Alibiargument verkommen.


Thomas Müller-Bohn



DAZ 2011, Nr. 26, S. 28

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