Arzneistoffporträt

R. WeberDie Ritalin-Story – 50 Jahre Therapie

Methylphenidat, der Wirkstoff von Ritalin, wurde 1944 von Leandro Panizzon in den Forschungslaboratorien der CIBA in Basel synthetisiert und 1954 in der Schweiz und in Deutschland auf den Markt gebracht. Dabei ist es aus heutiger Sicht außerordentlich interessant, wie das Marketing damals aussah und wie die Fach- und Laienpresse reagierte. Während bei nicht wenigen vielversprechenden neuen Wirkstoffen die hochgesteckten Erwartungen zurückgeschraubt werden mussten, hat sich das Indikationsspektrum von Methylphenidat im Laufe der Jahrzehnte erweitert. Neben der klassischen Anwendung als zentrales Stimulans wird Ritalin heute mit gutem Erfolg bei hyperaktiven Kindern, bei Narkolepsie und versuchsweise unterstützend bei schweren Depressionen eingesetzt.

So informierte CIBA damals Ärzte und Apotheker

1954 wird Ritalin als Psychotonikum beworben, "das ermuntert und belebt - mit Maß und Ziel". Man erkennt ihm damals folgende Indikationen zu:

  • bei gesteigerter Ermüdbarkeit,
  • bei depressiven Verstimmungszuständen,
  • in der Rekonvaleszenz.

Weiterhin, so die damalige Empfehlung, können auch Gesunde davon profitieren, "wenn sie nach durchwachter, durchgrübelter Nacht" am nächsten Tag die volle Leistung bringen wollen. Als mildes zentralanregendes Mittel "hebt Ritalin die seelische Stimmung und steigert die Leistungsbereitschaft - ohne Euphorisierung und bei ausgezeichneter Verträglichkeit". Daher konnte der Arzt auch einen mit der Produktinformation verschickten Bon für eine Originalpackung Ritalin einlösen und sich im Selbstversuch von der Wirksamkeit überzeugen.

Im Unterschied zu den Weckaminen sollte Ritalin weder Nervosität noch Gedankenflucht auslösen. Aufgrund der chemischen Struktur und der pharmakologischen und tierexperimentellen Befunde vertrat man in den 50er-Jahren die Auffassung, dass Methylphenidat eine Mittelstellung zwischen Coffein und Weckaminen einnehme.

Ein österreichisches CIBA-Mailing aus dem Jahr 1957 geht noch weiter und zitiert eine Publikation in der Wiener Medizinischen Wochenschrift: "... Ritalin wirkt milder und länger als Coffein und die Weckamine und führt nicht zur Gewöhnung."

Und das war in der Fach- und Laienpresse zu lesen

In der Deutschen Apotheker-Zeitung war 1954 in einem Beitrag "Neue Wege zur Behandlung der Fettleibigkeit" zu lesen, dass Ritalin als Antidepressivum und Appetitzügler eingesetzt wird. Damals war der Wirkstoff in deutschen Apotheken ohne Rezept erhältlich. Das erstaunt etwas, denn in der Schweiz war Ritalin von Anfang an der verschärften Rezeptpflicht unterstellt, bis es dann später hinsichtlich der Verschreibungsmodalitäten den Betäubungsmitteln gleichgestellt wurde.

Im Buch "Chemische Zaubertränke" von Dr. Hermann Römpp (1961), der mit seinem Chemie-Lexikon einen absoluten Klassiker schuf, findet man Ritalin bei den Tonika aufgelistet - neben Coffein, Gelee Royale, Lecithin und Malzextrakt. Auch das spricht - neben der Freiverkäuflichkeit - für die Einschätzung von Ritalin als unproblematische, harmlose Substanz.

Von der Freizügigkeit zur Restriktion

Der sorglose Umgang, der unbekümmerte Einsatz und die Experimentierfreudigkeit der Nachkriegsjahre (nichts ist unmöglich ...) blieben auf lange Sicht nicht ohne Folgen. Die anfängliche Sorglosigkeit schlug bei einigen Kritikern ins krasse Gegenteil um. Heute ist Ritalin weltweit verschreibungspflichtig (in Deutschland gemäß Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung). Wegen der kritischen Einschätzung des Wirkstoffs war es in den USA zeitweise durchaus problematisch, den Bedarf an Ritalin für die Behandlung von hyperaktiven Kindern zu decken.

Wachsende Kritik

In den 80er-Jahren entzündete sich vor allem in den USA eine kontroverse Diskussion um Ritalin und andere Stimulanzien - begleitet von heftigster Polemik. Verschiedenste Interessengruppen, vor allem die Church of Scientology, begannen einen vehementen Kampf gegen den Einsatz von Psychopharmaka im weitesten Sinne, insbesondere in der Kinderpsychiatrie (Einsatz bei hyperaktiven Kindern und Jugendlichen).

Die Herstellerfirma sah sich massiven Angriffen ausgesetzt, da auch die Drogenszene Ritalin entdeckt hatte - und besonders die Trockenampullen für die parenterale Anwendung schätzte. Als erste Konsequenz nahm sie die Trockenampulle 1988 weltweit vom Markt. In der Folgezeit versuchte sie, sich zunehmend - und so gut es ging - vom "Sorgenkind Ritalin" zu distanzieren, das über Jahre mehr oder weniger nur für Ärger und eine schlechte Presse sorgte. Doch der Versuch, das Produkt einfach totzuschweigen, ging gründlich daneben.

Rehabilitation und neue Galenik

Vor allem engagierte Neurologen, Psychiater und Kinderpsychiater sorgten dafür, dass Ritalin inzwischen den ihm gebührenden Stellenwert erlangt hat. Durch den gezielten Einsatz im Rahmen multimodaler Behandlungsprogramme, die in enger Zusammenarbeit mit den Eltern von hyperaktiven Kindern durchgeführt wurden, kam es zu einer "Rehabilitation" von Ritalin.

In den USA und in Kanada, wo man umfangreiche Erfahrungen mit der Hyperaktivitäts-Behandlung gesammelt hatte, wurde die Produktpalette durch Ritalin-SR erweitert. Durch die Retardgalenik dieses Präparates konnte seine Wirkdauer erheblich verlängert werden, und das gelegentlich als unangenehm empfundene An- und Abfluten entfiel. Seit 1. Januar 2000 steht Ritalin-SR auch in der Schweiz (als einzigem europäischem Land) zur Verfügung.

Aktuelle Standortbestimmung

Besonders bemerkenswert ist bei Ritalin die Tatsache, dass es im Laufe der vielen Jahre sein Indikationsspektrum erweitern konnte. Ein Teil der von Methylphenidat ausgehenden Faszination beruht sicherlich darauf, dass es die Hyperaktiven und Impulsiven auf "Normalniveau" herunterholt und gleichzeitig in der Lage ist, Narkoleptiker und antriebsschwache Depressive auf einen höheren Aktivitätslevel zu heben. Dieses scheinbar paradoxe Potenzial ist jedoch neurobiologisch nachvollziehbar und wird heute intensiv genutzt.

Hyperkinetische Störung und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom

Der von der American Association of Psychiatry 1980 geprägte Begriff Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD, hyperkinetische Störung) wurde 1987 um das Attention Deficit Syndrome (ADS, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) erweitert, bei dem die Konzentrationsstörung dominiert.

Das ADS tritt mit oder ohne zusätzliche Hyperaktivität auf. Neben dem Aufmerksamkeitsdefizit hat es folgende Kernsymptome: unkontrollierte Impulsivität und Kommunikationsdefizite, die mit mangelnder sozialer Anpassung verbunden sind (Tab. 1).

Für die Diagnose der hyperkinetischen Störung wird gefordert, dass die typischen Symptome länger als ein halbes Jahr bestehen, weiterhin sollten die kleinen Patienten sowohl kinderärztlich als auch neurologisch gründlich untersucht werden, wobei speziell entwickelte Wahrnehmungstests durchzuführen sind. Entscheidend ist auch, dass die Symptome in verschiedenen Situationen auftreten, also nicht nur in der Schule oder nur im häuslichen Umfeld.

Auch mit modernen bildgebenden Verfahren wie der Positronenemissionstomographie (PET) lassen sich Funktionsstörungen vor allem in jenen Gehirnabschnitten nachweisen, die für Aufmerksamkeit, Konzentration und Wahrnehmung, also für die Verarbeitung von Informationen und Sinneseindrücken, verantwortlich sind.

Wenn sich die Verdachtsdiagnose bestätigt, sollte eine individuelle therapeutische Strategie konzipiert werden, wobei die Stimulanzien-Therapie bei ausgeprägten Störungen und Defiziten eingesetzt wird, jedoch kombiniert mit geeigneten verhaltenstherapeutischen und heilpädagogischen Maßnahmen.

Mit Methylphenidat lassen sich Unterfunktionen im Neurotransmittersystem normalisieren; Ryffel (1999) spricht von einer "chemischen Brille", die den Kindern dabei hilft, sich besser im Leben zurechtzufinden.

Therapie auch von Erwachsenen

Inzwischen hat Methylphenidat auch in der Erwachsenen-Psychiatrie einen festen Platz. Denn die Hypothese, dass sich das ADHD in der Regel nach der Pubertät "auswächst", ist inzwischen widerlegt. Bei den Erwachsenen steht weniger die Hyperaktivität im Vordergrund, denn diese wird häufig durch eine abnorme Impulsivität - mit oder ohne Aufmerksamkeitsdefizite - abgelöst. Auch solche Patienten können von einer Stimulanzien-Therapie profitieren.

Einsatz bei Narkolepsie

Weiterhin hat sich Ritalin bei Patienten mit Narkolepsie bewährt. Die Betroffenen leiden trotz ausreichenden Nachtschlafs tagsüber unter Schlafattacken, die sie während der unterschiedlichsten Aktivitäten überfallen. Das unwiderstehliche Schlafbedürfnis zur Unzeit wird meist durch Situationen ausgelöst, in denen auch Gesunde eine gewisse Schläfrigkeit verspüren. In schweren Fällen tritt der Schlafanfall beispielsweise auch während eines Telefonats, beim Essen oder Autofahren auf.

Perspektive in der Depressionsbehandlung

Eine interessante Perspektive zeichnet sich für Ritalin in der Depressionsbehandlung ab. Interessant deshalb, weil in der Fachinformation unverändert zu lesen ist, dass man bei schweren Depressionen kein Ritalin einsetzen sollte.

Prof. Dr. Brigitte Woggon (Zürich) sieht ein großes Problem darin, dass nach erfolgreicher Depressionsbehandlung zwar die Stimmung aufgehellt ist, viele Patienten sich aber außerstande sehen, die anhaltende Antriebsstörung zu überwinden. Es geht hier also um die Überbrückung der Zeit, in der die Stimmung bereits gut ist, aber die Aktivität noch hinterherhinkt.

Woggon wörtlich: "Ich kann immer wieder beobachten, dass die Patienten das Stimulans in Eigenregie reduzieren, wenn die Eigeninitiative wieder da ist. In solchen Fällen sieht man mit Ritalin gute Erfolge, da überdies auch die begleitenden kognitiven Einschränkungen zufriedenstellend auf die Therapie ansprechen."

Kastentext: Der Vater von Ritalin

Leandro Panizzon wurde 1907 geboren und ist in Mailand aufgewachsen, wo er die Hochschulreife erwarb. Der Umzug der Familie führte ihn nach Basel, wo er Chemie studierte. Im Anschluss an die Promotion in Basel war er für ein Jahr als Postdoc in Birmingham und fand nach seiner Rückkehr im Jahr 1933 seine erste Anstellung bei der CIBA. In der Forschungsabteilung des Pharma-Departements gehörte die Synthese von stickstoffhaltigen organischen Verbindungen, vor allem von Pyridinderivaten, zum Aufgabengebiet des jungen Arzneimittelchemikers. Einen Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit bildeten die quecksilberhaltigen Diuretika. Eine von Dr. Panizzon synthetisierte Verbindung, das Meroquinolamid, kam 1936 als Esidron auf den Markt.

Die Ritalin-Story begann 1944

Die zweite erfolgreiche Substanz des Dr. Panizzon war das Methylphenidat (Ritalin). Es wurde im Rahmen eines Syntheseprogramms im Jahr 1944 entwickelt - und die pharmakologische Prüfung ergab, dass es als mildes Psychostimulans klassifiziert und schließlich 1954 auf den Markt gebracht wurde.

Der Selbstversuch war zu dieser Zeit unter Arzneichemikern fast Ehrensache, und so sammelte auch Dr. Panizzon persönliche Erfahrungen mit dieser Substanz; allerdings hat ihn die Wirkung rückblickend nicht sonderlich beeindruckt. Ganz anders erlebte seine Gattin Marguerite den Ritalin-Effekt: Sie hatte schon immer einen sehr niedrigen Blutdruck und profitierte von der anregenden, muntermachenden Wirkung, wie sie erzählte: "Vor einem Tennismatch habe ich das gelegentlich genommen." Ihr verdankt Ritalin übrigens seinen Namen: Aus Marguerite wurde Rita und Ritalin.

Tabellen und Abbildungen s. Printausgabe der DAZ.

Literatur: Auf Anfrage

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.