Bericht

Glimepirid: Überraschende Eigenschaften

Chemisch nahe verwandte Arzneistoffe der gleichen Substanzklasse müssen nicht immer die gleichen die Wirkungsmechanismen besitzen. Ein Beispiel für diese Erkenntnis bildet das Antidiabetikum Glimepirid (Amaryl®), ein Sulfonylharnstoff der dritten Generation.

Bisher wurde für alle antidiabetisch wirksamen Sulfonylharnstoffe und auch andere neuere Antidiabetika ein einheitlicher Wirkungsmechanismus angenommen. Die Substanzen binden an einen Rezeptor an der b-Zelle, woraufhin ein ATP-abhängiger Kalium-Kanal geschlossen wird. Die daraus folgende Depolarisation der Zelle läßt Calcium-Ionen einströmen, die als Trigger für die Insulinsekretion dienen. Die Arzneistoffe wirken demnach als Stimulanzien für die zusätzliche Insulinfreisetzung, was zu unphysiologisch hohen Insulinkonzentrationen führt. Da Insulin ein Wachstumsfaktor ist, begünstigen diese hohen Konzentrationen langfristig die Entstehung einer Atherosklerose und führen zu Störungen im Fettstoffwechsel. Außerdem droht bei langer Therapiedauer die Erschöpfung der b-Zellen.
Es gilt als Dogma, daß die Affinität der Antidiabetika zum Rezeptor direkt proportional zur Hemmung des Kalium-Kanals und zur bewirkten Blutzuckersenkung ist. Doch zeigen Tierexperimente und die bisherige klinische Erfahrung am Menschen, daß die Wirkung von Glimepirid diesem Dogma widerspricht. Es wirkt stärker und schneller als andere Antidiabetika und induziert dennoch eine geringere zusätzliche Insulinfreisetzung. Bindungsstudien zeigen zudem, daß Glimepirid eine geringere Affinität zum isolierten Rezeptor aufweist als Glibenclamid. Doch ist der Angriff am Rezeptor nicht nur statisch, sondern auch dynamisch zu betrachten. Glimepirid bindet schneller an den Rezeptor und dissoziiert auch schneller wieder ab als Glibenclamid. Die längere Verweildauer erklärt teilweise, weshalb Glimepirid trotz geringerer Rezeptoraffinität stärker als andere Antidiabetika wirkt. Weitere Bindungsstudien zeigen, daß die beiden genannten Substanzen an unterschiedlichen Bindungsstellen angreifen. Während Glimepirid an ein 65 kDa-Protein bindet, greift Glibenclamid an einem 140 kDa-Protein an. Dabei kann die Bindung an eines der beiden Proteine die Bindung an das andere Protein beeinflussen, was möglicherweise auf einer allosterischen Hemmung beruht.

Diese Erkenntnisse erklären jedoch nicht, warum Glimepirid bei so geringer Insulinsekretion wirkt. Es verringert bei hungernden Hunden den Blutzuckerspiegel anfangs nur gering, so daß für die praktische Anwendung ein verringertes Hypoglykämierisiko anzunehmen ist. Doch wird der Blutzuckerspiegel für etwa 36 Stunden und damit länger als durch andere Antidiabetika gesenkt. Damit hält diese Wirkung deutlich länger an als die zusätzliche Insulinsekretion. Dies läßt auf einen zusätzlichen Wirkungsmechanismus schließen, der nicht durch Insulin vermittelt wird und der bei Glimepirid deutlich stärker als bei den etablierten Antidiabetika ausgeprägt ist. Dies eröffnet Perspektiven, den Blutzuckerspiegel bei nur geringer Insulinfreisetzung zu senken und damit die Spätschäden zu verringern, die aus hohen Insulinspiegeln resultieren.

So bleibt die Frage nach dem konkreten Mechanismus des extrapankreatischen Effektes. In vitro läßt sich mit Glimepirid die Glykogenese und die Lipogenese in Zellen des peripheren Gewebes ähnlich wie mit Insulin stimulieren. Diese Effekte sind bei Glimepirid etwa 2 bis 3fach stärker als bei Glibenclamid. Da die Glukoseaufnahme den limitierenden Schritt bildet, dürfte die Erhöhung der Zahl der insulin-abhängigen Glukosetransportermoleküle hierfür wesentlich sein. Außerdem steigt die Aktivität der Enzyme Glycerinphosphatazyltransferase und Glykogen-Synthase in der Plasmamembran. Damit verbessert sich nicht nur die Aufnahme, sondern auch die Utilisation der Glucose. Dies erklärt, warum Glimepirid auch bei Insulinresistenz wirkt und die Verwertung der Glucose ermöglicht.

Ein weiterer Schlüssel für die Wirksamkeit von Glimepirid dürfte in seiner Anreicherung in den Caveolen begründet sein. Dies sind Zellmembranen von Fettzellen. Die Anreicherung in den Caveolen der Fett- und Muskelzellen könnte für die Stimulation der Glukoseaufnahme und des Glukosemetabolismus verantwortlich sein. Dann dürfte die Konzentration des Wirkstoffes in den Caveolen für die Wirksamkeit bedeutender als der Plasmaspiegel sein, was für die Therapie noch Bedeutung erlangen kann.
Obwohl Glimepirid bereits seit etwa einem Jahr im Handel ist, beruhen die meisten hier beschriebenen Erkenntnisse hauptsächlich auf in-vitro-Studien oder Tierversuchen. Ihr therapeutischer Nutzen muß erst in klinischen Studien ermittelt werden. Doch besteht die Hoffnung, daß eine neue Generation moderner Antidiabetika interessante therapeutische Möglichkeiten für die frühzeitige und langdauernde Diabetestherapie bietet. Vorteilhaft erscheinen die verminderte Insulinsekretion, die geringeren kardiovaskulären Effekte, das geringere Hypoglykämierisiko und der geringere störende Einfluß auf den Lipidstoffwechsel. Angesichts der weiterhin deutlich zunehmenden Zahl von Diabetikern können diese Perspektiven große Bedeutung erlangen.


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