Sicher abnehmen?

Verträglichkeit der GLP-1-Agonisten auf dem Prüfstand

18.01.2024, 07:00 Uhr

Mit der wöchentlichen Injektion von Semaglutid gelingt eine durchschnittliche Gewichtsabnahme von 15%. Es drohen unter Umständen aber auch seltene, ernsthafte Nebenwirkungen. (Foto: Natalia/AdobeStock)

Mit der wöchentlichen Injektion von Semaglutid gelingt eine durchschnittliche Gewichtsabnahme von 15%. Es drohen unter Umständen aber auch seltene, ernsthafte Nebenwirkungen. (Foto: Natalia/AdobeStock)


Ob in der Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 oder zur Gewichtskontrolle: Glucagon-like-Peptide-1­(GLP-1)-Agonisten wie Semaglutid (Ozempic®, Wegovy®) müssen langfristig gespritzt werden, um den Therapieerfolg beizubehalten. Gerade im Gewichtsmanagement fehlen jedoch Langzeitdaten zu den Inkretinmimetika. Je mehr sich die Präparate im Versorgungsalltag verbreiten, umso mehr treten auch seltene Nebenwirkungen zutage. Eine Bestandsaufnahme.

Für Typ-2-Diabetiker sind GLP-1-Agonisten alte Bekannte: Schon 2006 wurde der erste Vertreter, Exenatid (Byetta®), in Europa zugelassen. Seitdem ist die Klasse deutlich gewachsen. Hinzu kamen Liraglutid (z. B. Victoza®), Lixisenatid (Suliqua®) sowie die besonders langwirksamen Wirkstoffe Dulaglutid (Trulicity®), Semaglutid (z. B. Ozempic®) und Tirzepatid (Mounjaro®). Die Präparate verbesserten bekanntlich nicht nur die Glucosekontrolle der Patienten, mit der Zeit wurde klar, dass sie auch das Gewicht reduzierten. Aus der Nebenwirkung wurde eine Indikation: 2021 ließ die Europäische Kommission Liraglutid als Saxenda® zur Gewichtskontrolle bei Adipositas zu. So richtig Fahrt auf nahm der Hype aber erst vor einem Jahr mit dem potenteren und langwirksamen Sema­glutid (Wegovy®). 

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Das STEP-Studienprogramm von NovoNordisk zeigte zuvor, dass die Patienten mit dem GLP-1-Agonisten in 68 Wochen im Schnitt 15% ihres Gewichts verloren. Seitdem steigen die Anwenderzahlen [1]. Nur: Je mehr Patienten die Präparate anwenden, umso häufiger treten auch seltene Nebenwirkungen auf (s. Abb.).

Abb.: Übersicht der häufigsten Nebenwirkungen laut Fachinformation (links, blau umrandet) und diskutierten Nebenwirkungen (rechts, orange umrandet) von GLP-1-Agonisten.

Insgesamt gelten die Wirkstoffe als sicher. Die Fachinformationen zählen vor allem gastrointestinale Neben­wirkungen auf. Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Aufstoßen, Flatulenzen oder Reflux können die Patienten plagen, meist leicht bis mittelschwer und von kurzer Dauer. Aber aus Studien mit Typ-2-Diabetikern weiß man auch, dass die GLP-1-Agonisten das Risiko für seltene gastrointestinale Erkrankungen wie eine akute Pankreatitis, Gallenerkrankungen, eine Gastro­parese und einen Darmverschluss erhöhen. Ob diese Ergebnisse auch auf Patienten übertragbar sind, die mit GLP-1-Agonisten ihr Gewicht kontrollieren, untersuchten kürzlich kanadische Forscher [2]. Im Oktober publizierten sie im Fachjournal JAMA ihre Ergebnisse, wonach die GLP-Agonisten Liraglutid und Semaglutid das Risiko für eine Pankreatitis verneunfachten, für einen Darm­verschluss vervierfachten und für eine Gastroparese mehr als verdreifachten [2]. Absolut sind die Risiken gering. Die Ereignisse traten zehnmal oder weniger pro 1000 Patientenjahre auf. Gallenerkrankungen schienen hingegen nicht häufiger aufzutreten.

Anspannung im OP

Besorgt äußern sich auch Anästhesisten. Die Gefahr, dass Patienten während einer Operation Mageninhalt aspirieren, schwingt bei einer Narkose immer mit. Deshalb soll man vor einem Eingriff nüchtern erscheinen. Zur Wirkung der GLP-1-Agonisten gehört aber, dass sie die Magenentleerung verlangsamen, vor allem in den ersten Monaten der Anwendung. Fallberichte schildern, wie es deshalb trotz Nahrungskarenz zum Erbrechen oder zur Aspiration von Mageninhalt während einer OP kam [3]. Genaue Zahlen gibt es zu dieser Problematik nicht. Die American Society of Anesthesiologists warnt in einer Handlungsempfehlung vor dem Phänomen und empfiehlt, dass Patienten die letzte Dosis vor einer OP aus­lassen – den Fertigpen eine Woche vor der OP, orale Präparate wie Rybelsus® (Semaglutid in Tablettenform, in D nicht erhältlich) am Tag des Eingriffs [4]. Zeigt der Patient vor dem Eingriff starke gastrointestinale Symptome, sollten die Operateure und Anästhesisten erwägen, die OP zu verschieben.

Ungeplant schwanger unter Tirzepatid?

Eine verlangsamte Magenentleerung verändert auch die Pharmakokinetik von Arzneistoffen. Ein Beitrag der Onlineplattform Medscape lenkte kürzlich die Aufmerksamkeit auf die Sicherheit oraler Kontrazeptiva bei gleichzeitiger Anwendung von GLP-1­Agonisten [5]. Darin wird ein Endo­krinologe zitiert, der von mehreren Patientinnen berichtet, die während einer Therapie mit Tirzepatid trotz hormoneller Kontrazeption ungeplant schwanger wurden. Tirzepatid wirkt als doppelter Agonist nicht nur am GLP-1-Rezeptor, sondern auch am Rezeptor des Glucose-abhängigen insulinotropen Polypeptids (GIP). Unter den Inkretinmimetika scheint es die Absorption der oralen Kontrazeptiva am stärksten zu beeinflussen. In der Fachinformation von Mounjaro® und den anderer GLP-1-Agonisten wird der Zusammenhang aber nicht als klinisch relevant eingestuft.

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Im Unterschied dazu findet sich im FDA-Label, der amerikanischen Fachinformation, ein Hinweis, dass Frauen, die hormonell verhüten, in den ersten vier Wochen der Therapie bzw. den ersten vier Wochen nach einer Dosis­erhöhung auf eine nicht hormonelle Verhütungs­methode oder zusätzlich auf eine Barrieremethode zurück­greifen sollten [6].

Genau hinsehen bei Semaglutid

Diabetiker entwickeln häufig eine diabetische Retinopathie, die schlimmstenfalls zur Erblindung führt. Dabei werden die kleinen Blutgefäße in der Retina geschädigt, insbesondere, wenn der Blutzucker schlecht eingestellt ist. Kommt es, wie unter GLP-1-Agonisten, zu einer raschen Besserung der Blut­zuckereinstellung, kann das die Erkrankung vorübergehend verschlechtern. Eine randomisierte, verblindete und kontrollierte Interventionsstudie hat gezeigt, dass bei 3% der untersuchten Diabetiker Komplikationen der diabetischen Retinopathie auftraten, wenn sie Semaglutid angewendet hatten [7]. Sie mussten sich deshalb häufiger einer Behandlung unterziehen, beispielsweise aufgrund von Blutungen oder einer Erblindung. Unter Placebo war das nur bei 1,8% der Probanden der Fall. Die Unterschiede zwischen Semaglutid und Placebo traten schon früh im Studienverlauf auf. In eine ähnliche Richtung deuten auch die Ergebnisse der STEP-2-Studie mit Semaglutid zur Gewichtskontrolle. 6,9% der Probanden mit 2,4 mg Semaglutid und 6,2% der Probanden mit 1,0 mg Semaglutid erlitten Ereignisse einer Netzhauterkrankung [8]. In der Placebogruppe waren es 4,2%. Die meisten Erkrankungen konnten der diabetischen Retinopathie zugeordnet werden. In der Fachinformation von Wegovy® wird darauf hingewiesen, dass Typ-2-Diabetiker mit einer instabilen diabetischen Retinopathie das Präparat nicht erhalten sollten.

Fortlaufende Risikobewertung

Das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der Euro­päischen Arzneimittel-Agentur (EMA) überwacht mögliche Sicherheitssignale zu den GLP-1-Agonisten fortlaufend, etwa bezüglich des Krebsrisikos. Denn die GLP-1-Agonisten induzierten in Versuchen an Nagern Schilddrüsenkarzinome [9]. Eine eingebettete Fall-Kontroll-Studie fand außerdem bei Anwendern retrospektiv ein erhöhtes Risiko [10]. Andere Untersuchungen sahen aber keinen Zusammenhang [9]. Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie empfiehlt in einer Analyse der Studie auf ihrem Online-Blog, GLP-1-Agonisten bei einer positiven Familienanamnese für Schilddrüsenkrebs zu meiden [11]. Die EMA hat den aktuellen Stand im Oktober evaluiert und sieht dem aktuellen Kenntnisstand zufolge keinen Zusammenhang mit Schild­drüsenkrebs [12]. Dafür wurde im Sommer ein anderes Sicherheitssignal getriggert: Das PRAC untersucht derzeit 150 Fälle von Selbstverletzung und Selbstmordversuchen, die im Zusammenhang mit GLP-1-Agonisten berichtet wurden [13]. Die Ergebnisse des Reviews stehen noch aus. In den US-Fachinformationen finden sich bereits bei einigen GLP-1-Agonisten Hinweise, die Patienten auf depressive Symptome und Selbstmordgedanken zu überwachen. In einer aktuellen, von den US-amerikanischen National Institutes of Health finanzierten Analyse mit Ver­sichertendaten wurde die Assoziation von Semaglutid mit Suizidgedanken mit anderen Arzneimitteln gegen Adipositas bzw. Typ-2-Diabetes verglichen. Dabei konnten die Bedenken gegen Semaglutid nicht bestätigt werden [14]. Die Studienautoren schlagen vor, die Fallberichte detaillierter zu prüfen und Langzeitstudien durchzuführen.

Start low, go slow

Mit den unerwünschten Wirkungen der GLP-1-Agonisten hat sich kürzlich auch das JAMA beschäftigt. In einem Beitrag geben die Yale-Endokrinologin Prof. Kasia Lipska und die Co-Direktorin des National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Disease, Dr. Susan Yanovski, für die Praxis Folgendes mit auf den Weg: Die Präparate sollten nur nach sorgfältiger Abwägung der Risiken verordnet und dann beginnend mit der niedrigsten Dosierung auftitriert werden – gegebenenfalls langsamer als in der Fachinformation angegeben [15]. |

Literatur

 [1] Wilding JPH et al. Once-Weekly Semaglutide in Adults with Overweight or Obesity. N Engl J Med 2021;384:989-1002, doi: 10.1056/NEJMoa2032183

 [2] Sodhi M et al. Risk of Gastrointestinal Adverse Events Associated With Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Agonists for Weight Loss. JAMA 2023;330:1795-1797, doi: 10.1001/jama.2023.19574

 [3] Gulak MA und Murphy P. Regurgitation under anesthesia in a fasted patient prescribed semaglutide for weight loss: a case report. Can J Anaesth 2023;70:1397-1400, doi: 10.1007/s12630-023-02521-3

 [4] Joshi GP et al. American Society of Anesthesiologists Consensus-Based Guidance on Preoperative Management of Patients (Adults and Children) on Glucagon-Like Peptide-1 (GLP-1) Receptor Agonists. Pressmitteilung der American Society of Anesthesiologists vom 29. Juni 2023, www.asahq.org/about-asa/newsroom/news-releases/2023/06/american-society-of-anesthesiologists-consensus-based-guidance-on-preoperative#/

 [5] Scherer L. Caution Urged for Obesity Drugs and Birth Control Pills. Meldung von Medscape, 18. Oktober 2023, www.medscape.com/s/viewarticle/997498

 [6] FDA Label MounjaroTM, Stand: Mai 2022, www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2022/215866s000lbl.pdf

 [7] Marso SP et al. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med 2016;375:1834-1844, doi: 10.1056/NEJMoa1607141

 [8] Davies M et al. Semaglutide 2.4 mg once a week in adults with overweight or obesity, and type 2 diabetes (STEP 2): a randomised, double-blind, double-dummy, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet 2021;397:971-984, doi: 10.1016/S0140-6736(21)00213-0

 [9] Hu W et al. Use of GLP-1 Receptor Agonists and Occurrence of Thyroid Disorders: a Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. Front Endocrinol 2022;13:927859, doi: 10.3389/fendo.2022.927859

[10] Bezin J et al. GLP-1 Receptor Agonists and the Risk of Thyroid Cancer. Diabetes Care 2023;46:384-390, doi: 10.2337/dc22-1148

[11] Schatz H. GLP-1-Rezeptor-Agonisten und Schilddrüsenkrebs. Medinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie vom 21. März 2023, https://blog.endokrinologie.net/glp-1-rezeptor-agonisten-schilddruesenkrebs-5283/

[12] Meeting highlights from the Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) 23-26 October 2023. Pressemitteilung der Europäischen Arzneimittelagentur vom 27. Oktober 2023, www.ema.europa.eu/en/news/meeting-highlights-pharmacovigilance-risk-assessment-committee-prac-23-26-october-2023

[13] EMA statement on ongoing review of GLP-1 receptor agonists. Pressemitteilung der Europäischen Arzneimittelagentur vom 11. Juli 2023, www.ema.europa.eu/en/news/ema-statement-ongoing-review-glp-1-receptor-agonists

[14] Wang W et al. Association of semaglutide with risk of suicidal ideations in a real-world cohort. Nat Med 2024, doi: 10.1038/s41591-023-02672-2

[15] Ruder K. As Semaglutide’s Popularity Soars, Rare but Serious Adverse Effects Are Emerging. JAMA 2023;330(22):2140-2142, doi: 10.1001/jama.2023.16620


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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