Retax bei Verwürfen

Sozialgericht weist AOK in die Schranken

Berlin - 15.03.2018, 17:55 Uhr

Verwürfe bei der Zyto-Herstellung sorgen für Streit zwischen Apothekern und Kassen. (Foto: benicoma / stock.adobe.com)

Verwürfe bei der Zyto-Herstellung sorgen für Streit zwischen Apothekern und Kassen. (Foto: benicoma / stock.adobe.com)


Ein Zyto-Apotheker, der mit der AOK Bayern über die Abrechnung von Verwürfen streitet, kann sich über einen Erfolg gegen die Kasse in der ersten Instanz freuen. Das Sozialgericht Nürnberg hat die Kasse verurteilt, rund 3300 Euro nebst Zinsen an eine Apotheke zurückzuzahlen.

Verwürfe, die bei der Zubereitung parentaler Zytostatika-haltiger Lösungen entstehen, sorgen immer wieder für Ärger zwischen Apothekern und Kassen. Dabei macht die Anlage 3 zur Hilfstaxe („Vertrag über die Preisbildung für Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen“) recht klare Vorgaben, wann ein „unvermeidbarer“ Verwurf vorliegt, der gegenüber der Krankenkasse abgerechnet werden kann. So werden für zahlreiche Stoffe konkrete Zeitspannen angegeben, nach deren Ablauf ein Verwurf abrechnungsfähig ist (Punkt 3.8 a) und b) der Allgemeinen Bestimmungen für die Preisbildung). Zudem gibt es eine Auffangregelung für nicht explizit genannte Wirkstoffe: Sie können dann abgerechnet werden, wenn die übrig gebliebene Teilmenge nicht innerhalb von 24 Stunden in einer weiteren Rezeptur verwendet werde konnte (Punkt 3.8 c)).

Doch es gibt Kassen, die die Regelungen zur Haltbarkeit von Verwürfen in der Hilfstaxe für nicht schlüssig und damit offenbar für obsolet halten. Dazu zählt auch die AOK Bayern. In einem Fall, den jetzt das Sozialgericht Nürnberg entschieden hat, hatte sie eine Apotheke retaxiert, die Verwürfe aus Zyto-Zubereitungen abgerechnet hatte. Dabei handelte es sich um zahlreiche Einzelposten, einige beliefen sich auf weniger als einen Euro, andere kamen auf über 600 Euro – in der Summe waren es über 3300 Euro. Die Apothekerin legte Einspruch ein. Sie verwies darauf, dass sie die beanstandeten parenteralen Zubereitungen anhand der Hilfstaxe berechnet habe.

AOK: Auch andere Informationen und Erkenntnisse heranziehen

Doch die AOK erwiderte, der Verwurf sei nur dann abrechnungsfähig, wenn er tatsächlich entstanden und unvermeidbar war. Für die Bewertung der Zulässigkeit von abgerechnetem Verwurf sei es erforderlich, auf die tatsächliche chemisch-physikalische Stabilität der Anbrüche abzustellen. Und diese sei nach den einschlägigen fachlichen Informationen und Erkenntnissen zu bemessen – und nicht nach der Hilfstaxe.

Der anschließende Rechtsstreit, der im Sommer 2014 mit Klageerhebung startete, spielte sich vor allem schriftlich ab. Über die Jahre wurden nicht nur Schriftsätze gewechselt. Bei einem Termin zur mündlichen Verhandlung bemühte sich das Gericht, eine gütliche Einigung herbeizuführen. Dies gelang jedoch nicht. Im Laufe des Verfahrens bat das Gericht sogar die Vertragspartner der Hilfstaxe – den Deutschen Apothekerverband und den GKV-Spitzenverband – um Stellungnahme und stellte einige konkrete Fragen: Etwa wie die Zeitspannen im Vertrag zustande gekommen sind und ob sie als bindend auszulegen sind.

Hilfstaxe ist „reines Preisrecht“

Nun hat das Sozialgericht sein Urteil gesprochen – ganz überwiegend zugunsten der Apotheke. Nur der Zahlungsanspruch für eine Position in Höhe von 12,99 Euro sei wirksam durch Aufrechnung erloschen. Alle anderen von der Kasse beanstandeten Verwürfe hielt das Gericht hingegen für nach der Hilfstaxe abrechnungsfähig.

In seinen Entscheidungsgründen führt das Gericht aus, dass es sich bei der Hilfstaxe seiner Auffassung nach um „reines Preisrecht“ handele: Sie regle nur die Maßstäbe zur Ermittlung der Höhe der Vergütung und die Einzelheiten der Abrechnung. Die Hilfstaxe entbinde eine Apotheke dagegen nicht von einer eigenen Prüfung der Haltbarkeit des Arzneimittels. Sei ein Apotheker aufgrund seiner pharmazeutischen Kompetenz überzeugt, dass eine Zubereitung entgegen der Regelung in der Hilfstaxe nicht mehr haltbar ist, so dürfe er diese nicht unter Berufung auf reine Abrechnungsregeln an Patienten ausliefern, so das Gericht.

Zwei Fallgruppen

Sodann geht das Urteil auf unvermeidbare Verwürfe im Detail ein. Im vorliegenden Fall unterscheidet es zwischen zwei Gruppen: In der ersten geht es um Stoffe, die in den Anhängen 1 und 2 der Anlage 3 zur Hilfstaxe genannt und mit konkreten zeitlichen Regelungen belegt sind. Die zweite Fallgruppe umfasst die übrigen, nicht genau benannten Stoffe, für die die oben genannte 24-Stunden-Auffangregel gilt.

Entgegen der Ansicht der beklagten AOK müsse sich die Apotheke für die Abrechnung der Verwürfe aus der ersten Fallgruppe weder auf die (ggf. anderslautende) Fachinformation noch auf andere wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu den jeweiligen Arzneimitteln verweisen lassen. Sie dürfe einen Verwurf dann abrechnen, wenn sie das Arzneimittel innerhalb der in Anhang 1 und 2 definierten Zeitspanne nicht mehr weiterverarbeiten konnte. Schon aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für die Abrechnung sei hier ausschließlich auf die in den Anhängen benannten Zeitspannen abzustellen, so das Gericht. Mit der Angabe einer konkreten Zeitspanne hätten die Vertragspartner der Hilfstaxe für die Abrechnung fiktive Haltbarkeiten für die Abrechnung definiert. „Daran muss die Beklagte sich auch festhalten lassen und der Klägerin den Verwurf vergüten“.

Bei Auffangregelung: Fachinfo ergänzend prüfen

Was Verwürfe der zweiten Fallgruppe betrifft, ist nach Auffassung des Gerichts ergänzend zu prüfen, welche Haltbarkeit die Fachinformation vorsieht. Denn hier hätten sich die Vertragspartner der Hilfstaxe nicht eindeutig mit dem jeweiligen Arzneimittel beschäftigt, sondern eine Auffangregelung geschaffen. Fänden sich in den Fachinformationen verwertbare Angaben zur Haltbarkeit, so seien diese für die Prüfung heranzuziehen. Ergäben sich jedoch keine verwertbaren Informationen, so bleibe es bei der 24-Stunden-Regelung. Entgegen der Ansicht der AOK könne jedoch nicht auf andere Rechtsquellen (Stabil-Liste, Krämer-Liste, Stabilitätsdatenblätter) als die Hilfstaxe und die Fachinformation zurückgegriffen werden, um die Vermeidbarkeit zu prüfen. Denn dies hätte eine nicht hinzunehmende Rechtsunsicherheit bei den herstellenden Apotheken zur Folge.

Im vorliegenden Fall prüfte das Gericht die Fachinfos hinsichtlich der chemisch-physikalischen Stabilität der fraglichen Wirkstoffe – und kam am Ende zu dem Ergebnis, dass der Apotheke kein Fehler vorzuhalten war.

Die letzte Instanz war das Sozialgericht sicher nicht. Allerdings wird es keine Sprungrevision direkt zum Bundessozialgericht geben.  

Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2017, Az.: S 21 KR 333/14



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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