Therapien im Gespräch

Wer, wie, was – wieso, weshalb, warum?

Grundlegende Fragen zu Cannabis bleiben auch Ende 2019 noch offen

rr | Fast drei Jahre sind vergangen, seit Cannabis als Medizin einer breiteren Masse zugänglich gemacht wurde – mit Option auf Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen. Nicht alle Unsicherheiten konnten beseitigt werden, bahnbrechende Erkenntnisse blieben bisher aus und nach wie vor schwingt Skepsis mit, vor allem was die losen Blüten betrifft. Immerhin: Seit diesem Jahr gibt es eine Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“. Und auch über Cannabi­diol gibt es Neues zu berichten.
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Medizinal-Cannabis ist gefragt: Einer Statistik des Marktforschungsinstituts IQVIA zufolge wurden im Jahr 2018 rund 142.000 Kassenrezepte ausgestellt, über ein Drittel davon von Allgemeinärzten, gefolgt von Neurologen, Ambulanzen und Anästhesisten (Meldung auf DAZ.online vom 1. März 2019). Zwischen März und Dezember 2018 ergab sich jeweils ein Zuwachs im dreistelligen Bereich gegenüber dem entsprechenden Monat in 2017. 42% der gesamten Verordnungen entfielen auf Cannabis-Rezepturen, 34% auf Fertigarzneimittel und 24% auf Cannabisblüten ohne Verarbeitung. Einige Apotheker, beispielsweise der Präsident der Bundesapothekerkammer, deuten dies als einen Hinweis auf Missbrauch, andere Kollegen als Zeichen, dass viel dazu gelernt wurde.

Ein Ja trotz Absage

Bei Erstverordnung von Cannabis als Medizin muss zunächst bei der Krankenkasse angefragt werden, ob sie die Kosten übernimmt (Ausnahme: Fertigarzneimittel in den zugelassenen Indikationen). In der Vergangenheit erhielten schätzungsweise 30 bis 40% der Patienten eine Absage. Inzwischen hat sich die Genehmigungsquote der großen Kassen zwar auf etwa 60% stabilisiert, doch Gerichtsverfahren stehen weiter auf der Tagesordnung. Im Fall eines 19-Jährigen, der seit seiner frühen Kindheit an einer seltenen Darmerkrankung leidet und massiv untergewichtig ist, verpflichtete das Landessozialgericht (LSG) Darmstadt die sich querstellende Krankenkasse, den Mann vorläufig für ein Jahr, längstens jedoch bis zur rechtskräf­tigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, mit Dronabinol zu versorgen. (AZ 32/33, S. 3)

Cannabis Marke „Regional“

Nach einigen Verzögerungen (ursprünglich geplant war 2019) soll nun Ende 2020 die erste deutsche Cannabis-Ernte eingefahren werden. (AZ 34/35, S. 4) Die Ausschreibung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) umfasst insgesamt 10.400 kg Cannabis, verteilt auf vier Jahre mit jeweils 2600 kg. In einem Gewerbegebiet von Neumünster, Schleswig-Holstein, soll die erste Anlage des Unternehmens Aphria errichtet werden: eine 6000 Quadratmeter große Indoorplantage mit 24 Zentimeter dicken Wänden.

Das deutsche Unternehmen Bionorica hat sein Cannabisgeschäft indes für 225,9 Millionen Euro an die kanadische Firma Canopy Growth verkauft. (AZ 28, S. 6) Das „sehr umfangreiche und kostenintensive Forschungs­programm“ zur Erschließung der verschiedenen Therapieoptionen von medizinischem Cannabis sei für ein mittelständisches Unternehmen „eine große Herausforderung“, begründete Bionorica seine Entscheidung.

Die erste Leitlinie

Das Arbeitspensum, das nötig ist, um Cannabis als Medizin endlich zu verstehen, ist tatsächlich gewaltig. Als es am 10. März 2017 (Tag des Inkrafttretens des „Cannabis-Gesetzes“) Ärzten in Deutschland von heute auf morgen ermöglicht wurde, Zubereitungen auf Cannabisbasis auf Kassenrezept zu verordnen, gab es noch viele Frage­zeichen: Für wen ist Cannabis als Medizin von Nutzen? Welche Art der Zu­bereitung ist die wirksamste? Wie dosiert man Cannabis? Bis heute ist die fehlende Evidenz des Cannabis größtes Problem. Die Therapieempfehlungen speisen sich zum großen Teil aus Erfahrungen, von klassischen Leitlinien ist man noch viele hochwertige Studien entfernt.

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Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) hat es sich zur Aufgabe gemacht, das bestehende Wissen zu sortieren und zu bewerten, und in diesem Jahr die Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ veröffentlicht. (DAZ 34, S. 30) Im Bestreben, einer klassischen Leitlinie so nah wie möglich zu kommen, wurden auf der Grundlage von fast 400 Literaturstellen aus Datenbanken, Expertenmeinungen und Veröffentlichungen drei Empfehlungsgrade definiert: A-Empfehlungen basieren auf randomisierten Studien bzw. Metaanalysen, B‑Empfehlungen auf weniger hochwertigen Studien und C-Empfehlungen resultieren aus Konsensus-Meinungen sowie kleineren Studien, retrospek­tiven Studien oder Registern.

Top bei Schmerzen, Flop bei psychischen Störungen

Mit dem höchsten Empfehlungsgrad A bewertet wurde der Einsatz von Cannabis bei chronischem Schmerz, Tumorschmerz, nichttumorbedingten Schmerzen, neuropathischem Schmerz, Schlafstörungen bei chronischem Schmerz und spastischem Schmerz bei multipler Sklerose. Diese Indikationen sind somit als primäre Einsatzgebiete seitens der Handlungsempfehlung zu betrachten, was sich so auch in der Praxis widerspiegelt: Den ersten Ergebnissen der Begleiterhebung des BfArM zufolge liegt der Anteil der Verordnungen in der Indikation Schmerz bei knapp 70% (Stand 26. März 2019). Die Therapie von Untergewicht, Appetitlosigkeit bzw. Kachexie, Morbus Crohn (Schmerz und Gewicht), Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie ist „nur“ mit dem Empfehlungsgrad B versehen. Von einer Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen im Rahmen einer schmerzmedizinischen Betreuung wird aufgrund der aktuellen Studien­lage abgeraten.

CBD: Nahrung oder Medizin?

Die Praxisleitlinie verweist auch auf etwaige „Wechselwirkungen“ zwischen Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Die Substanzen verhalten sich in Bezug auf bestimmte Effekte bekanntermaßen wie Agonist und Antagonist. Die Nachfrage nach CBD-haltigen Präparaten ist groß. Doch nach wie vor fehlt die Einstufung dieser Produkte durch die zuständigen Behörden, wie die Apothekerkammer Mecklenburg-Vorpommern (AKMV) in einem Rundbrief (18. Oktober 2019) informierte. Was sind sie denn überhaupt? Die AKMV ist der Meinung, dass CBD-haltige Produkte nur dann verkehrsfähig sind, wenn es sich um zugelassene Fertigarzneimittel oder in Apotheken angefertigte Rezepturen handelt, und sieht sich dabei durch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) bestätigt. Dem BVL ist derzeit keine Fallgestaltung bekannt, wonach CBD in Lebensmitteln, also auch in Nahrungsergänzungsmitteln, verkehrsfähig wäre. Neuartige Lebensmittel müssen grundsätzlich auf Sicherheit geprüft und zugelassen werden.

Wenn die Wirkungen von CBD als pharmakologisch zu bewerten sind, muss die Einstufung als Arzneimittel erfolgen – so geschehen bei seinem Einsatz zur Behandlung des Lennox-Gastaut-Syndroms (LGS) und des Dravet-Syndroms (DS). In den USA wurde Epidyolex®, eine CBD­-Lösung zum Einnehmen, bereits im Juni 2018 zu­gelassen. Im September dieses Jahres zog die europäische Arzneimittelagentur (EMA) nach. (DAZ 40, S. 25) |

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