Feuilleton

Vom Maulbeerblatt zum Seidenkleid

Über den deutschen Seidenraupenbau vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert informiert eine Dauerausstellung im Freilichtmuseum Schwerin-Mueß. Zu sehen sind Präparate, Modelle sowie Utensilien für die Zucht, und in den Sommermonaten können lebende Larven des Seidenspinners beobachtet werden.
Foto: Wylegalla
Seidenspinner Imago (Flügelspannweite 40 mm) und Kokon (30 mm lang). Präparate im Naturkundemuseum Leipzig.

Mit innovativen Ideen hatte Herzog Christian II. Ludwig von Mecklenburg-Schwerin (reg. 1728 – 1756) anscheinend nicht viel im Sinn. Auf das Angebot preußischer Maulbeerbaum-Planteure, gegen Spesenerstattung und die unentgeltliche Überlassung eines Hauses tausend Maulbeerbäume zu pflanzen, reagierte der Herzog zurückhaltend. Er ließ den Spezialisten mitteilen, sie sollten die Kosten für das Projekt selbst tragen, weil sie nicht einmal die "wahrscheinlichste Vermuthung eines künftigen Profits" bieten könnten.

Der Regent, der großzügig die Schönen Künste förderte und gern auf der Jagd Zerstreuung suchte, den Blick nach Preußen gerichtet, war ein Ignorant. Denn in Preußen gediehen damals bereits allerorten Maulbeerbaumalleen und -hecken, mit deren Blättern Seidenraupen gefüttert wurden. Die um 1685 eingewanderten Hugenotten hatten dort und in anderen Gegenden Deutschlands die Seidenraupenzucht eingeführt, die sie schon in ihrer Heimat betrieben hatten. So entstanden u. a. die berühmten Seidenmanufakturen in Krefeld ("Seidenbaron" von der Leyen). Weiter östlich gaben die Réfugiés das Gewerbe zwar wegen ungünstiger klimatischer Bedingungen auf, doch König Friedrich II. (reg. 1740 – 1786) wiederbelebte es durch großzügige staatliche Förderungen.


Museum


Freilichtmuseum Schwerin-Mueß

Alte Crivitzer Landstraße 13

19063 Schwerin-Mueß

Tel. (03 85) 2 08 41 25

Geöffnet im Oktober: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr


Foto: Fa. Somso Modelle
Modell einer Seidenraupe Die Larven von Bombyx mori häuten sich während ihrer Entwicklung viermal und sind 30 bis 35 Tage nach dem Schlüpfen spinnreif. Ihre Spinndrüsen bestehen aus einem vielfach gewundenen Schlauch, dessen hinterer Teil die aus Proteinen bestehende Seidensubstanz absondert.

Von China in die Welt

Der von den Larven ("Raupen") des Seidenspinners (Bombyx mori), eines nachtaktiven Falters, gesponnene Faden ist etwa 3500 Meter lang. Seide ist somit die einzige in der Natur vorkommende (Fast-)Endlosfaser. Für die Gewinnung von 250 Gramm Seidenfaden werden etwa 3000 Kokons (lat. coccum: "Beere") benötigt. Das Gewebe ist reißfest, glatt, knitterarm und hat einen einzigartigen Glanz. Deswegen ist Seide seit alters her für die Herstellung wertvoller Textilien sehr begehrt.

Die Wiege der Seidengewinnung stand in China. Der Sage zufolge hatte die vorgeschichtliche Kaiserin Lei-tzu (Xi Ling-Shi) in ihrem Garten ein Kokon gefunden und aus Versehen in ihre Teetasse fallen lassen, worauf sie den endlosen Seidenfaden entdeckte. Seide blieb vorerst ein chinesisches Monopol und wurde über die Seidenstraße ausgeführt. Erst um das Jahr 552, so der Geschichtsschreiber Prokop, schmuggelten zwei Mönche in ihren Wanderstöcken Eier des Seidenspinners aus China heraus und überreichten sie Kaiser Justinian I. als Geschenk. Von Byzanz gelangte das Wissen um den Seidenbau nach Norditalien und Südfrankreich, wo im 13. und 14. Jahrhundert bedeutende Zentren der Seidenweberei und -färberei entstanden.

Zusammen mit den Seidenraupen gelangte ihr Wirt, der Weiße Maulbeerbaum (Morus alba), von China nach Europa. Er ist weniger kälteempfindlich als der Schwarze Maulbeerbaum (Morus nigra), der schon im 6. vorchristlichen Jahrhundert von Persien in den Mittelmeerraum verpflanzt worden war. Der Letztere war früher auch als Arzneipflanze geschätzt. So empfahl Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) das Dekokt der Wurzelrinde gegen Aconitum-Vergiftungen und Bandwürmer. Auch Hildegard von Bingen (1098 – 1179), Petrus Andreas Matthiolus (1501 – 1577) und Adam Lonitzer (1528 – 1586) lobten die Heilkraft von Blättern, Früchten, Rinde oder Wurzel des Maulbeerbaums. Die Maulbeeren sind sehr vitaminreich. Ihre Bezeichnung "Morula" wurde bekanntlich auf die befruchtete menschliche Eizelle im 32-Zellen-Stadium übertragen.


Foto: Wylegalla
Ein alter Weißer Maulbeerbaum (Morus alba) im Botanischen Garten der Universität Leipzig. Typisch ist die hohe, schmale Krone. Es gibt allerdings auch Exemplare mit niedrigeren und gewölbten Kronen.

Der Seidenbau als ökonomische Chance

Friedrich II. förderte die Seidenraupenzucht in großem Stil: Er ließ Maulbeerbäume pflanzen, interessierte Bauern durch Spezialisten unterweisen, ihnen Eier des Seidenspinners und andere Starthilfen geben und die von ihnen produzierte Rohseide zu Garantiepreisen aufkaufen; für überdurchschnittliche Erträge zahlte er Prämien. Trotz der attraktiven Anreize begeisterten sich nur wenige Bauern für das neue Gewerbe; deshalb verpflichtete der König 1742 per Erlass die gesamte Landbevölkerung, Maulbeerbäume zu kultivieren und Seidenraupen zu züchten. Zur Kontrolle wurden Inspektoren eingesetzt, die den Bauern auch mit Rat und Tat zur Seite standen.

Das Beispiel fand auch außerhalb Preußens Nachahmer: So ließ der Bürgermeister des Städtchens Friedland im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz eine Maulbeerbaumplantage anlegen und stellte den Bürgern ein Gebäude für die Zucht von Seidenraupen zur Verfügung. Im Jahr 1793 empfahl die "Neue Monatsschrift von und für Mecklenburg" ausdrücklich den Seidenbau. 1820 wurden in Bad Doberan und Wittenburg und 1832 in Dabelow bei Neustrelitz die ersten Maulbeerbaumplantagen angelegt. In Ludwigslust wurde ab den 1830er Jahren Seide gewonnen, und 1848 gründete man hier mit Unterstützung der aus Preußen stammenden Erbgroßherzogin Alexandrine von Mecklenburg-Schwerin (1803 – 1892) den ersten Seidenbauverein Mecklenburgs. Eine Baumschule, die 1839 massenhaft Maulbeerbäume zum Verkauf anbot, scheiterte allerdings, weil die Bäume nicht winterhart waren.


Foto: Wylegalla
Die Blätter des Weißen Maulbeerbaums sind variabel. Häufig finden sich am selben Baum sowohl gelappte Blätter (wie hier) als auch ungelappte Blätter.

Parasiten ruinierten den Seidenbau

Obwohl in Preußen auch Volksschullehrer in der Seidenraupenzucht ausgebildet wurden, damit sie ihr Wissen insbesondere an "arme und schwache Bevölkerungsteile" weitergeben konnten, blieb die Unkenntnis groß. Mancher Bauer verfütterte die Maulbeerblätter an seine Schafe, "damit diese eine feinere Wolle gäben". Andere versuchten den Larven durch Bettwärme zusagende Lebensbedingungen zu bieten. Auch reagierten die Tiere sehr sensibel auf Witterungsumschläge oder Lufttrockenheit. Infolge jahrtausendelanger Domestikation sind sie überdies sehr anfällig für parasitäre Erkrankungen. Als sich um 1860 die Pebrine (Fleckenkrankheit, verursacht durch den Einzeller Nosema bomycis) ausbreitete, kam fast der gesamte deutsche Seidenbau zum Erliegen.

Einige Züchter ließen sich aber nicht von Rückschlägen entmutigen, und so konnten 1892 auf der mecklenburgischen Landesausstellung in Rostock wieder norddeutsche Seidenprodukte präsentiert werden.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Deutschland der Seidenbau als Erwerbsmöglichkeit für "Personen, die zu schwerer Arbeit nicht brauchbar sind, namentlich Kinder, Frauen und Leute mit schwachem Körperbau" empfohlen. 1936 veranlasste das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung per Runderlass die Anlage von Maulbeerplantagen in mehr als 20.000 Schulgärten und die Schulung der Lehrer im Seidenbau. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde Seide weniger für schöne Kleider als für die Anfertigung von Fallschirmen gebraucht.


Video


Lebenszyklus des Seidenspinners

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Jungpioniere als Seidenraupenzüchter

Auch in der jungen DDR wurde der einheimische Seidenbau durch Nebenerwerbstätige noch einmal gefördert mit dem Ziel, bis 1960 für die Mitteldeutsche Spinnhütte in Plauen jährlich 160 Tonnen Kokons zu produzieren. Das Quartettspiel "Raupen spinnen Seide" und die "Seidenbaufibel der Jungen Pioniere" sollten Schülern den volkswirtschaftlichen Nutzen des Gewerbes spielerisch vermitteln. Auch zogen Jungpioniere während der Sommerferien Seidenraupen groß und schickten die Kokons zur Weiterverarbeitung in das Vogtland.

Es stellte sich jedoch letztendlich heraus, dass in Mitteleuropa die Seidenraupenzucht nicht wirtschaftlich betrieben werden kann. Der westdeutsche Schwesterbetrieb der Spinnhütte hatte bereits 1945 die Verarbeitung deutscher Kokons aufgegeben. In Plauen wurden ab 1967 Seidenvorgarne aus China und Brasilien bezogen.

Übrigens hat König Friedrich II. die Chancen des Seidenbaus sein Leben lang überschätzt: Als im Jahr 1784 die Produktion mit 13.432 Pfund Rohseide den Rekord erreichte, deckte diese Menge lediglich fünf Prozent des Gesamtbedarfs in Preußen.


Reinhard Wylegalla



DAZ 2011, Nr. 40, S. 130

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