Arzneimittel und Therapie

Frühtherapie ist heute Standard

Beta-Interferone (Avonex® , Betaferon® , Rebif®) und Glatirameracetat (Copaxone®) sind seit rund zehn Jahren in der Basistherapie der multiplen Sklerose etabliert. Sie senken die Schubrate um etwa 30%, bei längerer Anwendung sogar noch stärker. Werden sie möglichst früh eingesetzt, können sie den Verlauf der Erkrankung wirkungsvoll hemmen, wie auf dem diesjährigen Neurologenkongress deutlich wurde, der vom 12. bis zum 15. September in Berlin stattfand.

In Deutschland sind etwa 120.000 Menschen von einer multiplen Sklerose betroffen.

Die Erkrankung wird heute als Autoimmunerkrankung angesehen, bei der das körpereigene Immunsystem die Myelinscheiden der Nervenzellen im Zentralnervensystem angreift und damit die elektrische Weiterleitung der Signale beeinträchtigt. Wahrscheinlich gehen außerdem zusätzlich Axone und Nervenzellen selbst zugrunde. Gehirnveränderungen und Atrophien lassen sich bereits im Anfangsstadium der Erkrankung nachweisen, besonders im Corpus callosum.

In der Folge wird die Reizleitung an den beschädigten Stellen verlangsamt oder gar vollständig behindert. Da zahlreiche Hirnregionen betroffen sein können, kommt es zu vielfältigen Störungen, die sich klinisch mit unterschiedlichen Symptomen äußern. Dabei zeigt sich die Zerstörung der Nerven nicht immer anhand von klinischen Symptomen, sondern kann auch unbemerkt vonstatten gehen. Typisch sind eine Muskelschwäche in Armen und Beinen bis hin zu Lähmungen.

Andere Beeinträchtigungen fallen weniger ins Auge. Zum Beispiel können die Sehnerven betroffen sein, aber auch Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Vigilanzstörungen treten durch die Zerstörung der komplexen neuronalen Netzwerke auf. Intelligenzstörungen sind mit 2% allerdings selten.

Eine stark belastende Auswirkung ist die Fatigue, eine lähmende Müdigkeit, von der im Verlauf der Erkrankung 90% der Patienten betroffen sind. "Fatigue ist das Leitsymptom der MS", sagte Prof. Dr. med. Uwe Klaus Zettl, Rostock.

Zu Beginn meist schubförmiger Verlauf

In der Mehrzahl der Fälle verläuft die multiple Sklerose anfangs in Schüben. Ein akuter Schub wird mit hoch dosierten Glucocorticoiden über drei bis fünf Tage behandelt.

Oft folgen auf einen Schub viele Monate oder Jahre, in denen der Patient keine Symptome bemerkt und in denen die früheren Symptome teilweise oder ganz wieder abklingen, weil das Nervensystem die Schäden wenigstens teilweise reparieren oder kompensieren kann. Wahrscheinlich läuft der Krankheitsprozess aber auch in der Zwischenzeit unbemerkt weiter.

Der schubförmige Beginn ging bisher im weiteren Verlauf nach zehn bis 15 Jahren bei über der Hälfte der Betroffenen in eine chronisch progrediente Verlaufsform über. Nur 10 bis 15% der Patienten leiden schon zu Beginn an einem chronisch progredienten Verlauf.

Eine gutartige MS gibt es nicht!

Auch mit den heutigen modernen Methoden ist eine MS nicht heilbar, und bei der chronisch progredienten Verlaufsform sind die Therapiemöglichkeiten nach wie vor sehr begrenzt. Bei einem frühzeitigen Therapiebeginn der chronisch schubförmigen Form lässt sich die Krankheit jedoch in vielen Fällen aufhalten, bevor sie größere Zerstörungen angerichtet hat.

Die MS manifestiert sich etwa im Alter von 30 Jahren und beeinträchtigt die Lebenserwartung kaum, die Patienten müssen also ihr Leben lang behandelt werden. Umso wichtiger ist es, die Lebensqualität der Patienten durch einen rechtzeitigen Therapiebeginn möglichst lange zu sichern. Die Basistherapeutika sollten nach den aktuellen Empfehlungen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft am besten zum Zeitpunkt des ersten Ereignisses eingesetzt werden, das auf eine multiple Sklerose hinweist, besonders wenn zusätzlich im Kernspintomogramm Krankheitsherde zu sehen sind.

Auf einen weiteren Schub zu warten, bevor man mit der Basistherapie beginnt, ist heute nach Meinung von Prof. Dr. med. Norbert Sommer, Marburg, nicht mehr gerechtfertigt. Eine "gutartige" MS, von der man früher sprach, gibt es nach seinen Worten nicht. Die "Gutartigkeit" könne ohnehin höchstens retrospektiv festgestellt werden, zum Zeitpunkt der Diagnosestellung sei der Krankheitsverlauf nicht vorhersehbar. "Fast jeder Patient hat eine progrediente Erkrankung", sagte Sommer.

Konsequente Frühtherapie schützt vor Nervenschäden

Zur Basistherapie werden Beta-Interferone und Glatirameracetat, als Mittel der zweiten Wahl Azathioprin und Immunglobuline eingesetzt.

Für alle Beta-Interferone und Glatirameracetat ist eine gute Wirkung in der Frühtherapie in klinischen Studien belegt, zum Beispiel in den Studien Champs (Controlled High Risk Avonex Multiple Sclerosis Study, 383 Patienten, 30 µg wöchentlich i.m.) und Etoms (Early Treatment of Multiple Sclerosis with rebif, 309 Patienten, 22 µg wöchentlich s.c.).

In Kanada liegen Auswertungen von Langzeiterfahrungen mit Betaferon® vor, in denen ein positiver Langzeiteffekt auf die Progression der Behinderung über 17 Jahre hinweg dokumentiert wird.

In der Benefit-Studie (Betaferon® in Newly Emerging multiple sclerosis For Initial Treatment) erhielten 468 Patienten mit früher MS-Phase eine Hochdosis-Hochfrequenz-Therapie: 292 Patienten injizierten jeden zweiten Tag 250 µg Interferon beta-1b subkutan, 176 erhielten ein Placebo. In dieser Studie konnte durch die Frühtherapie in der ersten zweijährigen Studienphase die Manifestation der Erkrankung um 50% reduziert werden. Nach zwei Jahren erhielten auch die Placebopatienten in einer offenen Studienphase Interferon beta-1b. Jetzt bestätigen auch die Drei-Jahres-Daten die gute klinische Wirksamkeit von Interferon beta-1b in der Frühtherapie: 37% der Patienten, die von Anfang das Interferon beta erhalten hatten, entwickelten eine klinisch manifeste MS. Bei den Patienten, die in den ersten beiden Jahren Placebo und erst dann das Interferon erhielten, waren das 51%. Bei den mit Betaferon® behandelten Patienten dauerte es außerdem 363 Tage länger, bis der zweite Schub auftrat. Die früh therapierten Patienten hatten zudem weniger aktive Läsionen im Gehirn und entwickelten weniger Nervenschäden, was sich in weniger klinischen Behinderungen zeigte: Hier reduzierte Interferon beta-1b das Risiko um 40%. Die Patienten sollen jetzt noch weitere zwei Jahre nachbeobachtet werden.

Ob sich die Wirksamkeit bei einer doppelt so hohen Interferon-Dosis (500 µg) weiter verstärkt, wird derzeit in der Beyond-Studie (Betaferon Efficacy Yielding Outcomes of a New Dose) geprüft.

Quelle

Priv.-Doz. Dr. Michael Haupts, Bochum; Prof. Dr. med. Uwe Klaus Zettl, Rostock; Prof. Dr. med. Norbert Sommer. Marburg; Prof. Dr. med. Hans-Peter Hartung, Düsseldorf: "Früher und weiter bei MS – den Vorsprung ausbauen: Neues aus Klinik und Forschung", Symposium und Pressekonferenz, Berlin, 12. und 13. September 2007, veranstaltet von der Bayer AG, Leverkusen.

hel
In der Entwicklung: Fingolimod
Fingolimod ist ein Immunsuppressivum, das zur Behandlung der schubförmig-remittierenden multiplen Sklerose (MS) entwickelt wird. Der neue Wirkstoff wird einmal täglich oral eingenommen.
Das Prodrug Fingolimod wird im Organismus rasch zu einem Sphingosin-1-phosphat (S1P)-Analogon umgewandelt, das an S1P-Rezeptoren bindet und deren Internalisierung bewirkt. Da das S1P1-Signal von Lymphozyten für die Auswanderung aus den Lymphknoten und sonstigen lymphatischen Geweben benötigt wird, hindert Fingolimod die Lymphozyten daran, aus den Lymphknoten auszuwandern. Im Gegensatz zu anderen Immunsuppressiva beeinträchtigt Fingolimod die Lymphozytenfunktion nicht.
In einer Phase-II-Studie konnten bei 281 Patienten die Schubraten durch Fingolimod deutlich reduziert werden. Zurzeit werden über 1000 Patienten im Rahmen einer Phase-III-Studie mit Fingolimod behandelt. Bisher traten als unerwünschte Wirkungen ein negativ chronotroper Effekt mit Bradykardie, kontrahierende Wirkungen auf die Atemwege sowie Makuladegeneration auf.
Gehirn eines Patienten mit multipler Sklerose Die kolorierte Computertomografie lässt oben links und mittig rechts als rote Flecken zwei demyelinisierte Läsionen erkennen, die charakteristisch für die MS und ihre Folgeschäden sind. Wenn die Myelinscheide um die Nervenfasern verloren geht, können Nervensignale nicht mehr übertragen werden.
Foto: Zephyr/Science Photo Library

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