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Hyperaktive Kinder sind keine Frage der Erziehung

Es ist kurz vor Feierabend, die Apotheke ist voll, Sie wissen gar nicht, was zuerst zu tun ist. Das Rezept genau prüfen, in der Selbstmedikation beraten, die möglichen Interaktionen beachten, im Kosmetikbereich geduldig Tipps geben. Unwirsches Murren in der Schlange. Obendrein ist der Computer abgestürzt. Scheppernd geht auch noch der Bonbon-Aufsteller zu Boden und Frau Müller versucht verzweifelt, den kleinen Hans einzufangen. Es soll ja immer mehr hyperaktive Kinder geben, aber warum ist eines von denen gerade heute hier? Kann man denn da gar nichts machen? Doch! Gerade bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) besteht großer Aufklärungsbedarf – und den können Sie stillen.

Hilflos und entschuldigend schaut Frau Müller Sie an. Hans sei immer so unbeherrscht und impulsiv, keine fünf Minuten kann er still sitzen, immer zappelt er herum, alles muss er anfassen, überall raufklettern. Auch zu Hause fällt ständig etwas um. "Wir haben uns schon so oft gefragt, ob wir etwas falsch gemacht haben?", seufzt Frau Müller. Seit einem Jahr geht Hans jetzt in die Schule und der Ärger wird immer größer. Hans kann sich nicht konzentrieren. Beim kleinsten Anlass verliert er die Beherrschung. Von der Lehrerin und den Eltern der Mitschüler kommen schon Bemerkungen: "Da muss man doch nur richtig durchgreifen," oder "Die Cola und das viele Fernsehen sind schuld," oder "Es soll doch auch Medikamente geben?"

Hier sind Sie als Apotheker gefragt, denn Aufklärung tut Not: Rund 500.000 Kinder und Jugendliche sind in Deutschland von der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen. Jungen zwei- bis viermal häufiger als Mädchen. Das Störungsbild wird mittlerweile als eigenständige Erkrankung anerkannt, lässt sich aber nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Neurobiologische und psychosoziale Faktoren wirken hier zusammen. Die Hypothese, dass eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung im vorderen Gehirn die Ursache ist, konnte nicht bewiesen werden.

Vier Wochen später: Frau Müller kommt wieder in der Apotheke vorbei. Hans bleibt draußen und turnt am Fahrradständer. In der vergangenen Woche war sie mit Hans bei ihrem Hausarzt. Doch Frau Müller ist völlig verunsichert: "Stellen Sie sich vor, der hat meinen Sohn an einen Kinder- und Jugendpsychiater überwiesen. Mein Hans ist doch nicht verrückt!" Hier müssen Sie Frau Müller beruhigen: "Das ist genau der richtige Weg!" Denn als Apotheker wissen Sie, dass die Symptome für ADHS unspezifisch sind. Sie treten auch bei gängigen Verhaltensstörungen im Kindesalter auf oder die Ursache ist eine körperliche Erkrankung. Da es bisher keinen speziellen ADHS-Test gibt, ist es unumgänglich, einen besonders qualifizierten Facharzt aufzusuchen. Denn ebenso wird ein Zusammenhang zwischen ADHS und Angststörungen oder Depressionen diskutiert. Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin sind die besten Ansprechpartner.

Nutzen überwiegt Risiken der Therapie

Frau Müller kommt mit einem Rezept und steht unsicher vor Ihnen. "Ist Hans nicht noch viel zu klein für Medikamente? Ich habe gehört, dass sich dann sein Wesen verändern kann? So richtig habe ich den Arzt auch gar nicht verstanden, was der uns so alles erklärt hat." Als Apotheker können Sie hier die besorgte Mutter beruhigen, denn Ihnen ist bekannt, dass die Therapieleitlinien eine frühzeitige medikamentöse Therapie bei Kindern von sechs Jahren an empfehlen, bei denen sehr stark ausgeprägte Symptome auftreten. Eingesetzt werden zum einen Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetaminsulfat, die primär auf das dopaminerge System im Gehirn wirken. Zum andern Nicht-Stimulanzien wie Atomoxetin, das primär auf das noradrenerge System einwirkt. Beide Substanzgruppen zeigen ähnliche Effekte. Vermutlich werden im Gehirn über verschiedene Wege Kompensationsvorgänge angestoßen, die zu einem besseren Zusammenspiel neuronaler Netzwerke führen, so dass die Kinder ihre zentralnervösen Ressourcen besser nutzen können. Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität werden deutlich gemindert. Die Kinder können ihr Verhalten besser steuern, konzentrierter lernen, fallen nicht mehr so häufig aus der Rolle und werden eher von den Mitschülern akzeptiert. Nebenwirkungen können auftreten. Am häufigsten werden eine Appetitminderung und Schlafstörungen angegeben. Es kann aber auch zu leichten Kopf- und Bauchschmerzen kommen, auch der Blutdruck und die Herzfrequenz können erhöht sein. Werden Stimulanzien bestimmungsgemäß eingesetzt, so sind sie auch langfristig gut verträglich.

Dosierung muss ganz individuell bestimmt werden

Eine Frage brennt Frau Müller immer noch auf den Nägeln: "Wie wird es in Zukunft weitergehen? Ist Hans irgendwann gesund?" Hier ist die Antwort etwas schwierig. Sie können der besorgten Mutter vermitteln, dass eine Heilung im Sinne einer Normalisierung nur für Teilbereiche der Störung und nur für einige Kinder möglich ist. Aber mit entsprechender Unterstützung können die ADHS und die damit einhergehenden Störungen so gut kompensiert werden, dass eine normale psychosoziale Entwicklung möglich ist. Die Behandlungsdauer ist abhängig vom Verlauf der Symptomatik. Muss nur eine Krisensituation bewältigt werden, so kann vielleicht schon nach wenigen Wochen oder Monaten auf die Medikamente verzichtet werden. Häufiger ist aber eine längerfristige Symptomkontrolle erforderlich, bei der über Monate und auch Jahre behandelt wird. Manchmal bis ins Erwachsenenalter hinein. Für Stimulanzien liegen Informationen zur Anwendung für maximal fünf Jahre vor. Für Atomoxetin beträgt dieser Zeitraum etwa zwei Jahre. Eine weitere Angst können Sie der Mutter auch gleich noch nehmen: Die Arzneistoffe machen nicht süchtig. Ganz im Gegenteil. Kinder, deren ADHS nicht behandelt wird, greifen während der Adoleszenz häufiger zu Alkohol und harten Drogen, als Kinder, die Methylphenidat bekommen haben. Abgesehen davon sind Kinder mit ADHS hinsichtlich ihrer geistigen Leistungsfähigkeit ganz normal. Die typischen ADHS-Symptome bremsen nur die möglichst gute Nutzung der vorhandenen geistigen Ressourcen.

Mit einer Tablette Hilfe für den ganzen Tag

Hans kommt traurig und unglücklich in der Apotheke vorbei: Er wird in der Schule gehänselt, weil er Tabletten einnehmen muss – und alle in der Klasse schauen dabei zu. Morgens zu Hause zum Frühstück die Tablette zu schlucken sei einfach. Der Arzt hat ihm erklärt, dass beim Methylphenidat die Wirkung nach etwa einer halben Stunde eintritt, sie aber nur für etwa vier Stunden anhält, so dass er in der Schule unter den Augen aller die zweite Dosis einnehmen muss. Wird der Junge durch seine Verhaltensstörung ohnehin von seinen Schulkameraden ausgegrenzt, so empfindet er die Einnahme seiner Tabletten gegen die Zappelei unter Aufsicht der Lehrerin noch als zusätzliche Belastung. Mit Ihrem Wissen über die Pharmakokinetik und die verschiedenen zur Verfügung stehenden Formulierungen von Methylphenidat können Sie Hans und seine Mutter auf den nächsten Arztbesuch vorbereiten: Vielleicht ist es angeraten, in diesem speziellen Fall ein Retardpräparat anzuwenden? Denn die Behandlung sollte in der Regel mit einem schnell freisetzenden Stimulans beginnen. Kurzzeitig wirksame Präparate sind Ritalin® , Medikinet® und Equasym® Bei Schulkindern liegt die tägliche Dosis von Methylphenidat in der Regel zwischen 0,3 bis 1 mg/kg Körpergewicht pro Tag, verteilt auf ein bis drei Einzeldosen. Die Tagesdosis der schnell freisetzenden Applikationsformen von 60 mg oder die Maximaldosis von 1 mg/kg Körpergewicht pro Tag sollte in der Regel nicht überschritten werden. Retardformen enthalten Methylphenidat, das in einer ersten Phase rasch, in einer zweiten Phase verzögert freigesetzt wird, so dass bei einmaliger morgendlicher Gabe die Wirkung zwischen acht bis zwölf Stunden andauert. Präparate mit längerer Wirkzeit sind Concerta® , Medikinet® retard und Ritalin® SR, das in Deutschland nicht zugelassen ist, aber aus dem Ausland importiert werden kann. Die Indikation für die gegenüber den schnell freisetzenden Präparaten zur Zeit wesentlich teureren Retardpräparaten ist gegeben, wenn eine verlässliche Mehrfach-Gabe dieser Präparate nicht möglich ist und ein stabiler Tageseffekt auf andere Weise nicht erreicht werden kann. Denn für den Therapieerfolg sind eine ausreichende Dosierung, verteilt auf zwei bis drei Einzeldosen, und eine kontinuierliche Beratung in monatlichen Abständen ausschlaggebend. Das Nicht-Stimulans Atomoxetin sollte anfangs auf zwei Tagesdosen verteilt werden, kann aber später auch nur einmal am Tag verabreicht werden.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Ausnahmsweise kommt Herr Müller in die Apotheke und möchte das Rezept für Hans einlösen. Schnell können Sie seinen Wunsch erfüllen, denn der Mutter haben Sie ja schon alles zum Arzneimittel erklärt. Trotzdem druckst und zögert Herr Müller verlegen: Seine Frau ist schwanger. Und nun haben beide die große Angst, dass auch das zweite Kind ADHS bekommen könnte. Herr Müller: "Wissen Sie, ich war als kleiner Junge nämlich auch so wild wie Hans. Und meine Frau sagt heute noch manchmal vorwurfsvoll zu mir, dass ich auch so ein Zappelphilipp bin, der tausend Sachen auf einmal anfängt, nichts zu Ende bringt und dann wild aufbraust." Hier können wir die elterlichen Bedenken nur zum Teil zerstreuen: Erklären Sie ihm, dass Zwillings-, Adoptions- und Familienstudien sowie molekulargenetische Untersuchungen darauf hinweisen, dass genetische Faktoren eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung von ADHS spielen. Verwandte ersten Grades haben ein etwa fünffach erhöhtes Risiko für eine ADHS. Wahrscheinlich sind Polymorphismen in verschiedenen Genen beim Entstehen beteiligt. Diese sind in der Bevölkerung weit verbreitet, erhöhen das Risiko aber nur gering. Eine ADHS ist daher nicht auf die Veränderung eines einzelnen Gens zurückzuführen, sondern auf eine multifaktorielle Genese mit Wechselwirkungen verschiedener Gene und Wechselwirkungen zwischen genetischen und exogenen Faktoren. Experten gehen heute davon aus, dass neurobiologische und psychosoziale Faktoren gemeinsam wirken. Umweltfaktoren wie Nicotin- oder Alkoholmißbrauch, ein niedriger Bildungsstand oder chronischer Stress spielen dabei aber auch eine wichtige Rolle.

Erwachsenen mit ADHS kann und muss geholfen werden

Was die Verhaltensweisen angeht, die Frau Müller bei ihrem Mann aufgefallen sind, so liegt sie da nicht ganz falsch. Galt die ADHS lange Zeit ausschließlich als eine Krankheit von Kindern und Jugendlichen, so gehen Schätzungen heute davon aus, dass in mindestens einem Drittel der Fälle die Störungen ins Erwachsenenalter übernommen werden. Etwa 3% der Erwachsenen erfüllen die Kriterien einer ADHS, wobei sich nur die Symptome während der Entwicklung geändert haben.

Hatten die Kinder oft Schwierigkeiten, sich bei Hausaufgaben oder beim Spielen länger zu konzentrieren, so fühlt sich der Erwachsene bei regelmäßig wiederkehrenden Arbeitsabläufen schnell gelangweilt, lässt sich leicht ablenken, wechselt möglichst schnell die Tätigkeit. Aus dem kindlichen Zappelphilipp werden Erwachsene, die häufig mit den Füßen wippen, mit den Fingern auf Tischplatten trommeln oder ihre Beine um Stuhlbeine schlingen, um die motorische Unruhe zu kontrollieren. Sind die Kinder viel herumgerannt und oder kletterten exzessiv in unpassenden Situationen, so wählen diese als Erwachsene häufig Berufe mit der Möglichkeit, sich zu bewegen. Sie sind häufig in Außendienstpositionen mit wechselnden Gesprächspartnern oder Orten zu finden. War das Kind sehr ungeduldig oder konnte es nur schwer warten, bis es an der Reihe ist – erwachsene ADHS-Patienten werden beim Schlangestehen nervös, stehen sie mit ihrem Auto im Stau, so werden sie schnell aggressiv. In unserem ganz speziellen Fall können Sie in einem Gespräch Herrn Müller fragen, ob ihn Konzentrationsstörungen und das Unvermögen, eine Sache bis zu ihrer Erledigung zu bearbeiten, in seinem beruflichen Alltag stark einschränken. Die Symptome können bis zu Depressionen, extremer Antriebslosigkeit und dauerhafter motorischer Unruhe reichen. Auch hier gilt: ADHS ist nicht heilbar, aber viele der Symptome können mit medikamentöser Therapie, Psychoedukation und Psychotherapie verringert werden. Ein Gespräch mit einem Arzt ist unbedingt anzuraten, denn auch die erwachsenen Patienten können einen konstruktiven Umgang mit der Störung erlernen, so dass die Alltags- und Beziehungskompetenzen verbessert und die Berufsfähigkeit erhalten werden.

Gibt es alternative Therapiemöglichkeiten?

Tante Luise ist bei Familie Müller zu Besuch. Sie hält nicht viel von den Arzneimitteln, die Hans einnimmt. Und das zeigt sie in der Apotheke sehr deutlich: "Das sind doch Betäubungsmittel! Damit sollen die Kinder doch nur ruhig gestellt werden. Man muss den Kindern nur mehr Freiräume geben und sich mehr mit ihnen beschäftigen. Und die Ernährung umstellen, das ist ganz wichtig! Diese vielen Zusatzstoffe machen doch den Hans so aggressiv."

Solchen Ansichten sachlich zu begegnen ist eine große Herausforderung für das Beratungsgespräch. Hier sollten wir versuchen, mit Argumenten etwas die Emotionen aus der Diskussion herauszunehmen. Tante Luise sprudelt los: "Hilft eine Diät?" Wie wirksam ist Bio-Feedback? Und Homöopathie? Und Entspannungsübungen? Sie wollen doch nur Arzneimittel verkaufen!" Hier sollten wir uns klar machen, dass oft Unwissenheit und Unsicherheit und vor allem der Wunsch, doch etwas selber tun zu können, hinter solchen Vorwürfen steckt. Mit fundierten Fakten können Sie hier Kompetenz demonstrieren, informieren und beruhigen. Zum Beispiel auf die Frage: "Hilft eine Diät?" kann man ganz klar sagen, dass nur ein sehr kleiner Teil der Kinder mit ADHS für bestimmte Nahrungsstoffe eine Unverträglichkeit aufweist. Werden diese Nahrungsstoffe aus der Ernährung ausgeschlossen, kann dadurch die Symptomatik gelindert werden, allerdings weniger deutlich als durch Medikamentengabe oder Verhaltenstherapie. Allerdings sollte auch ganz realistisch betrachtet werden, dass die sogenannte oligoantigene Diät nur sehr schwierig und aufwendig durchzuführen ist: Diese Diät besteht aus sehr wenigen Nahrungsmitteln, die erfahrungsgemäß kaum Allergien und Unverträglichkeiten auslösen. Sie konnte sich im Alltag bei der Behandlung von ADHS nicht durchsetzen. Auch bei den Nahrungsergänzungsmitteln ist mangels zuverlässiger Daten Zurückhaltung angebracht. Und wie war das gleich mit dem Bio-Feedback? Das Prinzip dieses Verfahrens beruht darauf, dass die Kinder lernen, ihre hirnelektrische Aktivität gezielter und ökonomischer einzusetzen, um so ihr Verhalten besser steuern und ihre Fähigkeiten besser ins Spiel bringen zu können. Es gibt zwar mittlerweile einige Untersuchungen, weitere kontrollierte Studien sind jedoch noch erforderlich. Und hilft die Homöopathie? Leider fehlen bisher hierzu kontrollierte Studien, so dass Zurückhaltung geboten ist. Gleiches gilt auch für die Ergotherapie, Entspannungsverfahren wie die Muskelentspannung nach Jacobsen und autogenes Training: Auch hier müssen noch kontrollierte Studien gefordert werden; solange ist Skepsis angebracht.

Ferien = Urlaub von den Medikamenten?

Die nächsten Ferien stehen vor der Tür, Hans freut sich auf die schulfreie Zeit – und seine Mutter weiß nicht so recht, ob sie ihrem Sohn seine Tabletten weiterhin geben soll: "Er muss doch jetzt nicht mehr den ganzen Tag in der Schule stillsitzen. Und Hausaufgaben sind doch auch keine zu erledigen." Hier können Sie Frau Müller zu einem Gespräch mit dem Arzt ermutigen und ihr raten, das beim nächsten Besuch anzusprechen. Denn Sie wissen, wie wichtig es ist, die begonnene Therapie mindestens über den Zeitraum eines Jahres konsequent durchzuführen. Die Dauer der Medikation muss aber ganz individuell bestimmt werden. Denn wenn sich die Symptomatik hauptsächlich im schulischen Bereich zeigt, können Therapiepausen an Feiertagen, Wochenenden oder in Ferienzeiten angezeigt sein. Im Rahmen der längerfristigen Behandlung sollte vom Arzt aus die Medikation mit Stimulanzien durch Auslass-Versuch kontrolliert werden.

Quelle

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Verschreibung von Medikamenten bei ADHS (November 2006).

Stellungnahme der Bundesärztekammer zur ADHS (August 2005).

Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin Diagnostik und Therapie bei ADHS (Stand 2001). ck

Risiko für Herz und Kreislauf?
Vielfach wurde über kardiovaskuläre Risiken der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS mit Amphetamin oder Methylphenidat berichtet. In den USA waren bei der Durchsicht von 22 Millionen Gesundheitsakten 25 plötzliche unerklärte Todesfälle bei Patienten aufgefallen, die Psychostimulanzien einnahmen. Davon waren 18 Patienten mit Amphetaminsalzen behandelt worden, acht mit Methylphenidat.
Die US-Behörde FDA stufte das Risiko als gering ein, da in den USA mittlerweile 2,5 Millionen Kinder und 1,5 Millionen Erwachsene regelmäßig ADHS-Medikamente einnehmen.
Eine Gruppe Sachverständiger, überwiegend Kardiologen, kamen zu einer anderen Bewertung: Die FDA wurde aufgefordert, einen speziellen "medication guide" verfügbar zu machen. Das ist ein in den USA neu eingeführtes Informationsmaterial, das neben dem Beipackzettel den Packungen beigelegt oder von Apothekern abgegeben wird.
Die Kommission Entwicklungspsychopharmakologie der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften wies im März 2006 in einer Stellungnahme darauf hin, dass die Rate der plötzlichen unerklärten Todesfälle bei Kindern und Jugendlichen, die mit Psychostimulanzien behandelt wurden, nie die Prävalenz von 1: 1.000.000 überschritt. Diese Rate ist somit niedriger als in der Allgemeinbevölkerung.
Es gibt bislang keine Hinweise auf eindeutig erhöhte kardiale Risiken bei der medikamentösen Behandlung mit Psychostimulanzien wie Methylphenidat und Amphetamin oder mit Atomoxetin. Bei Kindern mit Hinweisen in der Anamnese auf kardiale Beeinträchtigungen werden die Empfehlungen der amerikanischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie als besonders hilfreich erachtet. Sie empfiehlt, Kinder vor einer Behandlung mit Psychostimulanzien umfassend körperlich zu untersuchen und eine Familienanamnese zu erfragen. Die Leitlinien der deutschen kinderpsychiatrischen Fachgesellschaften zur Behandlung von hyperkinetischen Störungen schließen sich an: Vor einer medikamentösen Behandlung sollten Kinder und Jugendliche mit ADHS körperlich untersucht werden, einschließlich Blutdruck- und Pulsmessung. Es sollte eine gründlichen Anamnese erhoben werden, die explizit nach körperlicher Belastbarkeit fragt, nach Episoden von Müdigkeit und Erschöpfung oder Brustschmerzen unter Belastung, Herzerkrankungen des Patienten. In der Familienanamnese sollten plötzliche und ungeklärte Todesfälle sowie Herzerkrankungen erfragt werden. Erst wenn Hinweiszeichen auf ein kardiales Risiko vorliegen, sollten weitergehende Untersuchungen bzw. eine Überweisung zu einem Kinderkardiologen erfolgen.
Die Eltern mit einbeziehen
Jegliche Form der psychotherapeutischen und medikamentösen Behandlung sollte in psychoedukative Maßnahmen eingebettet werden. Da die Behandlung der ADHS von Kindern und Jugendlichen stets erzieherische und behandlungsorganisatorische Kooperation voraussetzt, ist die Psychoedukation als Teil der Behandlung unverzichtbar. Eingeschlossen sind dabei
  • die Erklärung von Diagnosen,
  • die Beschreibung der Symptomatik,
  • Informationen zur Ätiologie und zum möglichen Verlauf,
  • Informationen zur medikamentösen Behandlung sowie
  • Informationen zu Behandlungsalternativen.
Und dies jeweils für den betroffenen Patienten, die Sorgeberechtigten – sowie nach elterlicher Einwilligung – für die Bezugspersonen wie Erzieher im Kindergarten oder Lehrer in der Schule, denn diese sind für das Gelingen der Behandlung relevant.
Medikamente allein reichen nicht aus!
Die medikamentöse Behandlung stellt nur einen Teil des Gesamtbehandlungsprogramms dar, ist aber für viele Betroffene unverzichtbar. In den wissenschaftlichen Therapiestudien zeigte sich das multimodale Behand-lungsvorgehen dann am erfolgreichsten, wenn auch eine medikamentöse Behandlung eingeschlossen war. In diesen Kombinationsbehandlungen ließ sich auch die Menge an Medikamenten niedriger halten als in medikamentösen Behandlungsverfahren alleine.
Auch wenn die Medikation von Methylphenidat und Amphetaminen sorgfältig und individuell eingestellt wird, so können doch unerwünschte Wirkungen auftreten: Häufige und in der Regel vorübergehende und dosisabhängige UAWs sind Appetitminderung, abdominelle Beschwerden, Schlafstörungen oder eine innere Gereiztheit.
  • Nervosität und Schlaflosigkeit sind sehr häufige unerwünschte Wirkungen. Treten zu Beginn der Behandlung Ein- und Durchschlafstörungen auf, kann versucht werden die Nachmittagsdosis zu reduzieren oder die Dosis abends wegzulassen. Manche Kinder benötigen aber gerade eine kleinere nächtliche Dosis, um einschlafen zu können.
  • Auch der Appetitmangel, über den oft geklagt wird, ist in der Regel vorübergehend. Durch Einnahmezeiten zu oder nach den Mahlzeiten kann diese Nebenwirkung reduziert oder beseitigt werden.

Starke Eltern – starke Kinder

Zappelige, unruhige, aggressive Kinder sind kein Problem unserer modernen Zeit. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann zeigte uns schon 1844 in seinem Kinderbuch "Struwwelpeter" mit dem Zappelphilipp ein Kind, das einen unbändigen Bewegungsdrang hat und nicht in der Lage ist, sich an Regeln zu halten – und sich damit den Zorn der Eltern zuzieht. Noch heute wird das Zappelphilipp-Syndrom synonym für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verwendet. Was bei Hoffmann noch als Unart galt, wurde bald als Neurose, mal als "Kinderfehler" bezeichnet, auch Begriffe wie Hirnschaden, Verhaltensstörung, Behinderung fielen. Mittlerweile ist das motorisch unruhige und unkonzentrierte Kind diagnostisch eingrenzbar und therapeutisch fassbar. Seit mit Methylphenidat eine effektive Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, steigt der Druck auf alle Beteiligten. Der Vorwurf: Die Kinder werden medikamentös ruhig gestellt. Fakt ist: Die verordneten Methylphenidat-Dosen stiegen in den letzten Jahren um ein Vielfaches an. Die frühere Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk, äußerte 2002 den Verdacht, dass eine fehlerhafte Verordnungspraxis vorliegen könne. Sie forderte die Einhaltung der wissenschaftlichen Standards und kündigte an, die Verschreibungspraxis von Methylphenidat einschränken zu wollen. Das Ergebnis war ein Konsensuspapier mit Eckpunkten zur Verbesserung der Versorgung von Kindern und Erwachsenen mit ADHS. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag wollte nun mit einer Kleinen Anfrage nachhaken, was denn aus dem Eckpunktepapier, aus all den guten Vorsätzen in den vergangenen Jahren geworden ist. Die Antworten der Bundesregierung sind ernüchternd und enttäuschend: "Ein zentrales Netzwerk ADHS befindet sich im Aufbau", die Bundesregierung "sieht keine zwingende Notwendigkeit, die Verschreibung" von Methylphenidat "auf bestimmte Ärzte einzuschränken". Wie sieht es mit der Forderung nach einer Pflichtberatung für Erziehungsberechtigte aus? Standpunkt der Bundesregierung: "Eine gesetzliche Verpflichtung der Erziehungsberechtigten zu derartiger Beratung bringt … keinen weiteren Nutzen". Eine Unterstützung auf gesetzgeberischem Weg sei "nicht angemessen", zumal damit "ein erheblicher Eingriff in die ärztliche Therapiefreiheit verbunden wäre". Meiner Meinung nach machen es sich hier die Politiker zu einfach. Die Betroffenen sind allein gelassen. Sie haben keine Lobby. Und die Ärzte und deren Fachgesellschaften tun sich schwer, das Konsensuspapier zu erfüllen. Aber insbesondere die Eltern müssen den Umgang mit dieser Störung lernen! Sie sind häufig überfordert. Nicht selten auch, weil sie selber an der ADHS leiden, unkonzentriert, sprunghaft und aufbrausend sind. Hier hilft nur Aufklärung und Beratung von Kindern, Eltern und Lehrern. Denn werden die Kinder nicht angemessen behandelt, kommen meist noch weitere Störungen hinzu. Aber nur 18% der Verordnungen von Psychostimulanzien werden von zuständigen Fachärzten ausgestellt. Bei entsprechend geschultem Fachpersonal oder einer begleitenden Psychotherapie können Kinder – und Eltern – einen konstruktiven Umgang mit der Störung sowie Kompensationsstrategien erlernen. Methylphenidat sollte nur von geschulten Fachärzten verordnet werden dürfen, die eine Pflicht zur Beratung der Eltern haben. Erst wenn die Eltern wirklich verstanden haben, welchen Einfluss ADHS auf das Verhalten ihres Kindes hat, können sie ihm helfen, die auftretenden Schwierigkeiten zu meistern. Doch dafür ist es ganz wesentlich, dass sie sich so viel Wissen wie möglich über ADHS und die Behandlungsmöglichkeiten aneignen.
Carolina Kusnick

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