Onkologische Pharmazie

P. JungmayrOrale Zytostatika – eine Gruppe bes

Eine Tablette zu Hause statt einer Infusion in der Klinik oder in der Arztpraxis Ų diese Alternative der Chemotherapie erscheint auf den ersten Blick verlockend, bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass bei der oralen Applikation von Zytostatika viel zu berücksichtigen ist. Um die orale Medikation sicher und wirksam zu gestalten, müssen Patient, Arzt und Apotheker eng zusammenarbeiten. Der Apotheker übernimmt dabei eine verantwortungsvolle Aufgabe, da er dem Patienten bei der Abgabe des Medikaments noch einmal die wichtigsten Einnahmemodalitäten erläutert und ihm je nach Bedarf weitere Informationen gibt.

In Europa sind über 20 oral applizierbare Zytostatika im Handel (s. Tab. 1), weitere Verbindungen befinden sich in der klinischen Prüfung. Von den weltweit 300 bis 400 neuen Zytostatika, die zurzeit entwickelt werden, sind rund ein Viertel zur oralen Einnahme konzipiert. Die oralen Darreichungsformen nehmen überproportional zu, was mehrere Gründe hat:

Viele Patienten wünschen sie, Pharmazeuten und Chemiker ermöglichen sie durch neue galenische Verfahren und innovative Wirkstoffe, Mediziner sehen die therapeutischen Vorteile: Neue Wirkprinzipien wie die Hemmung der Signaltransduktion oder der Angiogenese erfordern konstante Wirkstoffspiegel, die am einfachsten durch Oralia zu erzielen sind.

Was will der Patient?

Stellt man den Patienten vor die Wahl zwischen oraler und intravenöser Chemotherapie, entscheiden sich über 90% für die orale Medikation, sofern mit beiden Therapieregimes gleich gute Ergebnisse zu erzielen sind. Die meisten Patienten entscheiden sich für eine orale Medikation aus Abneigung gegen einen zentralvenösen Zugang und um nicht regelmäßig eine Klinik oder Arztpraxis aufsuchen zu müssen. Zudem gestattet eine orale Medikation ihnen eine größere Flexibilität und Unabhängigkeit.

Bei all diesen Vorzügen muss allerdings beachtet werden, dass der Erfolg einer oralen Medikation ganz wesentlich von der Compliance des Patienten abhängt. Die Vermutung, dass bei einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung die Compliance besonders hoch ist, trifft für die Therapie mit oralen Zytostatika nicht immer zu.

Schwankende Compliance

Die Compliance-Raten zur Therapie mit oralen Zytostatika bewegen sich zwischen 20 und 100%. Neben vollständigen Therapieverweigerern finden sich auch Overuser ("more is better") – beide Haltungen können fatale Folgen haben. Patienten, die an klinischen Studien teilnehmen, weisen in der Regel eine höhere Compliance auf, was auf eine intensivere Betreuung zurückzuführen ist.

Da Zytostatika meist intravenös gegeben werden, liegen relativ wenig Studien zur Compliance mit oralen Chemotherapeutika vor. Bei Brustkrebspatientinnen, die Cyclophosphamid (Endoxan®) zur oralen Applikation verordnet bekamen, betrug die Compliance-Rate 53%. Bei Patienten, die aufgrund hämatologischer Erkrankungen Allopurinol und Prednisolon einnehmen sollten, lag die Rate zwischen 16,8 und 26,8%.

Nachdem die Patienten ein Interventionsprogramm (Aufklärung, psychologische Schulung) durchlaufen hatten, stiegen die Compliance-Raten auf 44 bis 48%. In Studien, bei denen die Compliance zur Einnahme von Etoposid (Vepesid®) bei Lungenkrebs und Chlorambucil (Leukeran®) bei Lymphomen ermittelt wurden, lagen die Raten über 90%.

Welche Arzneistoffe?

Die in Deutschland zugelassenen oralen Zytostatika (s. Tab. 1) enthalten entweder

  • "klassische" Wirkstoffe, die auch intravenös verabreicht werden,
  • Abwandlungen "klassischer" Wirkstoffe oder
  • innovative Wirkstoffe.

"Klassische" Wirkstoffe

Zu den häufig verwendeten "klassischen" oralen Zytostatika zählen Mercaptopurin (Puri-Nethol®), Methotrexat (Methotrexat Lederle®) und Busulfan (Myleran®). Alle drei werden vor allem bei Leukämien und Lymphomen eingesetzt und müssen teilweise über einen längeren Zeitraum hinweg eingenommen werden; so zum Beispiel Mercaptopurin bei der kindlichen akuten lymphatischen Leukämie. Ein weiteres "klassisches" orales Zytostatikum ist Cyclophosphamid (Endoxan®), das unter anderem beim Mamma- und Ovarialkarzinom eingesetzt wird.

Abwandlungen "klassischer" Zytostatika

Ein Beispiel für die Abwandlungen "klassischer" Zytostatika ist Capecitabin (Xeloda®), ein Derivat von 5-Fluorouracil zur oralen Applikation. Als Prodrug ist es ohne eigene zytotoxische Aktivität, es wird erst durch drei enzymatische Schritte zur aktiven Substanz 5-Fluorouracil umgewandelt. Die Gabe von Capecitabin zeichnet sich gegenüber der Gabe von 5-Fluorouracil durch eine bessere Tumorselektivität und geringere Toxizität (mit der Ausnahme des Hand-Fuß-Syndroms) des Wirkstoffs aus.

Ein anderes Prodrug von 5-Fluorouracil ist Tegafur, das mit Uracil im molaren Verhältnis von eins zu vier kombiniert wird (UFT®). In den Tumorzellen entstehen aus Tegafur noch weitere wirksame Metaboliten, welche die DNA-Synthese hemmen. Das mitverabreichte Uracil wird durch die gleichen Enzyme abgebaut wie 5-Fluorouracil, sodass sich der Abbau insgesamt verlangsamt und die Wirksubstanz länger erhalten bleibt. Das zusätzlich gegebene Calciumfolinat verstärkt die Zytotoxizität von 5-Fluorouracil.

Innovative Zytostatika

Zu den innovativen Zytostatika, die oral gegeben werden, zählen die Tyrosinkinase-Inhibitoren Imatinib und Gefitinib. Bei vielen Tumorerkrankungen ist die Signalübertragung entgleist, und der Zellkern enthält von membranständigen Rezeptoren ständig die Botschaft, dass die Zelle sich weiter vermehren soll. Viele dieser membranständigen Rezeptoren geben die Signale über das Enzym Tyrosinkinase weiter. Wird die Tyrosinkinase spezifisch gehemmt, kann auch die Botschaft nicht mehr in den Zellkern gelangen. Der Prototyp eines Tyrosinkinase-Inhibitors ist Imatinib (Glivec®), das zur Behandlung der chronisch myeolischen Leukämie und gastrointestinaler Stromatumoren zugelassen ist.

Der Tyrosinkinase-Inhibitor Gefitinib (Iressa®; in Deutschland noch nicht im Handel) richtet sich gegen den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR), der bei vielen Tumoren überexprimiert ist. Durch eine Blockade des Rezeptors fällt die nachgeschaltete Signaltransduktion aus, und die Zellproliferation wird gehemmt. Gefitinib wird beim nicht kleinzelligen Bronchialkarzinom eingesetzt.

Wie entscheidet der Onkologe?

Aus der Sicht des Onkologen stellen sich drei Hauptfragen:

  • Ist die orale Medikation gleich effektiv wie eine intravenöse Behandlung?
  • Wie sind Bioverfügbarkeit und Verträglichkeit des eingesetzten Medikaments?
  • Ist der Patient mental und physisch für eine orale Medikation geeignet?

Im Vergleich zur intravenösen Medikation ist bei den meisten Zytostatika mit einer niederen und sehr variablen Bioverfügbarkeit zu rechnen. Die Bioverfügbarkeit hängt unter anderem von den gastrointestinalen pH-Werten, dem intestinalen P-Glykoprotein und Interaktionen mit dem Cytochrom-P450-System ab. Unterschiedliche Enzymaktivitäten und Enzymausstattungen können zu intraindividuellen Schwankungen der Bioverfügbarkeit führen.

Bei Nichtbeachten individueller Besonderheiten können Über- bzw. Unterdosierungen auftreten. Die Entwicklung spezifischer, untoxischer Inhibitoren von CYP3A4, P-Glykoprotein und weiterer metabolisierender Enzyme (z. B. der Dihydopyrimidin-Dehydrogenase) wäre ein bedeutender Schritt hin zu einer konstanten, sicheren Dosierung.

Patientenführung

Der Onkologe muss sich ferner versichern, dass der Patient die Nebenwirkungen der Chemotherapie richtig einschätzen kann und bei außergewöhnlichen Vorkommnissen Rücksprache mit ihm hält. Zudem muss der Patient intellektuell in der Lage sein, das Therapieschema zu verstehen. Bestimmte körperliche Leiden wie z. B. Schluckstörungen erschweren eine orale Applikation. Last but not least muss der Onkologe die Compliance des Patienten einschätzen können; bei schlechter Compliance ist eine orale Medikation nicht erfolgversprechend.

Vor Beginn der Therapie stellt der Arzt einen schriftlichen, ausführlichen Behandlungsplan auf und bespricht diesen mit dem Patienten und eventuell einem Angehörigen. Regelmäßige Kontakte und Kontrolluntersuchungen sind unbedingt notwendig, da auch die orale Medikation eine intensive Patientenführung und Begleitung erfordert.

Welche Aufgaben hat der Apotheker?

Bei der Abgabe eines oralen Zytostatikums muss sich der Apotheker bzw. das pharmazeutische Personal versichern, ob der Patient über die Einnahme seines Medikaments aufgeklärt ist. Nach Möglichkeit sollte der Patient den Behandlungsplan des Arztes vorlegen; die Hinweise zur Einnahme, zur Dosierung und zur Aufbewahrung sollten nochmals besprochen und auf die Packung übertragen werden, nämlich

  • die Menge des Wirkstoffs in Milligramm und die Anzahl der Kapseln bzw. Tabletten (bei einigen Behandlungsplänen muss die erforderliche Dosis zusammengestückelt werden),
  • die Dauer der Einnahme,
  • der Einnahmezeitpunkt (morgens, mittags, abends),
  • der Einnahmemodus (nüchtern, nach dem Essen oder mit einer Mahlzeit),
  • eventuell therapiefreie Tage,
  • Lagerungshinweise (z. B. Navelbine® kühl aufbewahren) und
  • der Hinweis "vor Kindern fernhalten".

Des Weiteren muss der Patient darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Arzneimittel "ganz" geschluckt werden müssen, also nicht geteilt oder zerkleinert werden dürfen. Ferner ist auf Interaktionen mit Nahrungsmitteln oder anderen Medikamenten hinzuweisen. Hilfreich ist hier neben der Fachinformation die von einigen Firmen zu ihren Zytostatika erstellte Anwenderbroschüre, in der wichtige Informationen über Einnahme, Nebenwirkungen, Interaktionen, Verhalten bei Durchfällen oder Erbrechen leicht verständlich zusammengestellt sind.

Keine missverständlichen Hinweise!

Eine umfassende Aufklärung des Patienten ist notwendig, da ein Unterlassen der Beratung schwerwiegende Folgen haben kann, wie nachstehendes Beispiel zeigt: Lomustin (Cecenu®) wird bei der Behandlung bestimmter Hirntumoren einmal alle sechs Wochen in einer Dosis von 70 bis 100 mg/m² Körperoberfläche verabreicht. Einer 28-jährigen Frau wurde eine Einmaldosis von 200 mg Lomustin verordnet.

Die Patientin nahm aber an sieben aufeinanderfolgenden Tagen jeweils 200 mg Lomustin ein. Eine Woche nach der letzten Einnahme trat bei der Patientin eine Panzytopenie (Mangel an Erythrozyten, Granulozyten und Thrombozyten) auf, worauf sie in ein Knochenmarktransplantationszentrum eingewiesen wurde. Innerhalb der nächsten drei Wochen begannen die Leber, das Gehirn und die Lunge zu versagen; kurze Zeit später verstarb die Patientin.

Beachten von Interaktionen ...

Neben der Dosis und der Dauer der Einnahme sind bei den meisten Zytostatika die Art der Einnahme sowie Interaktionen mit der Nahrung und mit anderen Arzneimitteln zu beachten. So muss zum Beispiel Temozolomid (Temodal®) nüchtern eingenommen werden, da die Substanz vorwiegend bei physiologischem pH-Wert in ihre aktiven Metaboliten umgewandelt wird.

Wenn der Patient gleichzeitig Arzneistoffe wie Antacida oder Protonenpumpenhemmer, die den pH-Wert anheben, einnimmt, werden nur unzureichende Wirkstoffspiegel des Zytostatikums erreicht. Eine weitere praxisrelevante Interaktion tritt bei gleichzeitiger Gabe von Allopurinol und Mercaptopurin (Puri-Nethol®) auf. Allopurinol verlängert und verstärkt die Wirkung von Mercaptopurin, was zu einer Myelosuppression führen kann. Müssen beide Wirkstoffe gegeben werden, ist die Mercaptopurindosis auf rund ein Viertel zu reduzieren.

... und Indikationen

Die erhöhte Aufmerksamkeit bei der Abgabe eines zytotoxischen Wirkstoffs gilt auch bei nicht-onkologischen Indikationen. Methotrexat zum Beispiel wird auch in der Rheumatologie, der Dermatologie und in der Transplantationsmedizin verwendet. Bei schweren Rheumaerkrankungen beträgt die Dosis einmal wöchentlich 5 bis 20 mg, das heißt, der Rheumapatient muss deutlich darauf hingewiesen werden, das Medikament nur einmal pro Woche (und auch bei schweren Schmerzen nicht häufiger) einzunehmen.

Ein weiteres Zytostatikum, das auch bei nicht-onkologischen Erkrankungen eingesetzt wird, ist Cyclophosphamid (Endoxan®). Es findet unter anderem Anwendung bei schweren Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder Sklerodermie.

Immer mehr Zytostatika kommen als orale Arzneiformen auf den Markt. Die orale Applikation bietet gegenüber der Injektionstherapie viele Vorteile, andererseits unterliegt der Patient dabei nicht der kurzfristigen Kontrolle durch den Arzt. Deshalb kommt dem Apotheker eine wichtige Rolle zu, um auf die Compliance zu achten und mögliche Nebenwirkungen zu erkennen.

Gründe für mangelnde Compliance

  • komplizierte Verordnung
  • mangelnde Aufklärung
  • Misstrauen (Kommunikationsmangel)
  • abweichende Krankheitsauffassung
  • fehlende soziale Unterstützung
  • Nebenwirkungen
  • mentale Probleme
  • Patient fühlt sich schlecht betreut
  • Interaktionen
  • mangelnde Motivation
  • Orale Chemotherapie – pro und kontra

    Pro

  • größere Unabhängigkeit des Patienten
  • Verzicht auf einen zentralvenösen Zugang
  • keine katheterbedingten Infektionen
  • mehr Flexibilität
  • längere Wirkdauer des Zytostatikums im Tumorgewebe
  • Therapie in der häuslichen Umgebung
  • "sanftere" Konfrontation mit der Krankheit
  • Zeitersparnis, keine Anreise in die Klinik oder Praxis
  • Stärkung der Patientenverantwortung
  • Kosten für Infusionen und Anfahrten in Klinik entfallen

    Kontra

  • teilweise komplizierte Verordnungen
  • verzögertes Erkennen von Nebenwirkungen und Interaktionen
  • keine ärztliche Kontrolle über die Einnahme (Compliance)
  • schwankende Bioverfügbarkeit der Zytostatika
  • weniger intensive Betreuung
  • Kostenersparnis fraglich, wenn Arzneimittel patentgeschützt sind
  • Tödliche Interaktionen

    Das Nichtbeachten gravierender Arzneimittelinteraktionen führte zum Tod von 18 japanischen Patienten nach einer gleichzeitigen Einnahme von Tegafur und Sorivudin (in Deutschland nicht im Handel), einem antiviralen Mittel gegen Herpes zoster. Ein Metabolit von Sorivudin hemmt die Dihydropyrimidin-Dehydrogenase, die das 5-Fluorouracil, den wirksamen Metaboliten von Tegafur, abbaut. Die Patienten starben also an einer massiven Überdosierung von 5-Fluorouracil.

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