Geschichte

B. Kirk, C. FriedrichVor 40 Jahren Rückruf von Cont

Am 27. November 1961 nahm die Fa. Grünenthal das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan sowie sämtliche weitere Thalidomidpräparate, die sie vier Jahre lang in der Bundesrepublik vertrieben hatte, aus dem Handel [1]. Sie reagierte damit auf den Verdacht der Teratogenität, den der Hamburger Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz (1919 - 1995) acht Tage zuvor auf einer Fachärztetagung gegen Thalidomid erhoben hatte und den die Zeitung "Welt am Sonntag" durch einen Bericht mit dem Titel "Mißgeburten durch Tabletten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament" allgemein publik gemacht hatte [2]. Anlässlich des 40. Jahrestages dieses spektakulären Rückrufs soll anhand neuer historischer Studien [1] die Aufdeckung der Contergan-Katastrophe näher beschrieben werden.

Eine erfolgreiche Neueinführung

In der 1946 gegründeten Fa. Chemie Grünenthal [3] war 1954 von dem Apotheker Wilhelm Kunz und dem Pharmakologen Herbert Keller der Arzneistoff Thalidomid (N-Phthalylglutaminsäureimid) entwickelt worden. Nach entsprechender Prüfung gelangte der Arzneistoff im Oktober 1957 unter dem Warennamen Contergan bundesweit in den Handel.

Schnell avancierte Contergan zum beliebtesten Schlafmittel der Bundesbürger, nicht zuletzt auch dank einer gezielten Werbung mit der vermeintlichen "Atoxizität" und "Unschädlichkeit" des Arzneistoffes. Der Gesamtumsatz des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan betrug während der vierjährigen Vertriebsphase von Oktober 1957 bis November 1961 24 Millionen DM, mit einem Anteil von 46 Prozent des barbituratfreien Schlafmittelmarktes. Das Schlafmittel Contergan galt als besonders sicher, da Suizide durch eine Überdosis nicht möglich waren [4].

Erste Warnhinweise

Ein Neurologe wies jedoch bereits im Oktober 1959 auf die Gefahr von Nervenschädigungen infolge einer Langzeitmedikation mit Contergan hin [5]. Ab Sommer 1960 wurde an einigen bedeutenden westdeutschen Universitätskliniken die Neurotoxizität des Arzneistoffes Thalidomid bestätigt. Neurologen berichteten 1960 auf mehreren Fortbildungskongressen für Ärzte über das Auftreten von teilweise irreversiblen Polyneuritiden nach längerer Thalidomidmedikation.

Die Forschungsabteilung der Fa. Grünenthal bemühte sich seit dem Frühjahr 1960 ohne Erfolg um die Reproduktion der Nervenschädigungen im Tierversuch. In den Jahren 1960 und 1961 gingen in der Stolberger Firmenzentrale zahlreiche Hinweise bezüglich des Auftretens von Nervenschädigungen nach längerfristiger Einnahme thalidomidhaltiger Arzneimittel ein. Diese meist von Ärzten stammenden Mitteilungen zeigten, dass die in Werbeaussagen häufig gepriesene "Ungiftigkeit" des Arzneistoffs Thalidomid wissenschaftlich nicht haltbar war. Im Mai 1961 erschienen schließlich Publikationen zur Neurotoxizität Thalidomids in medizinischen Fachzeitschriften.

Am 26. Mai 1961 beantragte die Fa. Grünenthal bei der zuständigen Überwachungsbehörde, der Gesundheitsabteilung im nordrhein-westfälischen Innenministerium, die Rezeptpflicht für Thalidomid. Infolge eines eingeholten Gutachtens des Bundesgesundheitsamtes, welches die Rezeptpflicht für Thalidomid empfahl, wurde Thalidomid am 1. August 1961 mit In-Kraft-Treten diesbezüglicher Landesverordnungen in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg rezeptpflichtig; in anderen Bundesländern waren allerdings thalidomidhaltige Arzneimittel weiterhin in Apotheken ohne Vorlage eines Rezeptes erhältlich.

Nachdem der deutsche Kinderarzt und Dozent für Humangenetik Widukind Lenz (1919 - 1995) erkannt hatte, dass die Einnahme thalidomidhaltiger Arzneimittel in der Frühschwangerschaft zu Kindesmissbildungen, insbesondere zu Fehlbildungen der Gliedmaßen, führt, zog die Fa. Grünenthal schließlich am 27. November 1961 alle Thalidomidpräparate vom Arzneimittelmarkt zurück [1, 4].

Zunahme von Gliedmaßenfehlbildungen

1959 beschrieb der Gynäkologe Arnulf Weidenbach einen Fall von totaler Phokomelie, bei der die Hände und Füße unmittelbar am Rumpf ansetzen, hob jedoch zugleich die Seltenheit dieser Missbildungsart hervor, denn Phokomelien waren bis zu diesem Zeitpunkt kaum in der Literatur beschrieben worden [6]. Vor allem wegen des ungewöhnlichen Erscheinungsbildes der Gliedmaßenfehlbildungen wurde vereinzelt bereits 1959, in verstärktem Umfang dann in den Jahren 1960 und 1961 bei Ärztetagungen über deren Zunahme diskutiert. Diese Gespräche fanden indes zunächst lediglich am Rande von Kongressen statt; zugleich nahmen einige Wissenschaftler die Suche nach der Ursache dieser Missbildungswelle auf.

Der erste schriftliche Bericht über ein Ansteigen der Zahl der Kinder mit Gliedmaßenfehlbildungen, die für die Thalidomid-Embryopathie besonders charakteristisch sind, wurde im September 1961 publiziert. Der Direktor der Städtischen Kinderklinik in Krefeld, Prof. Dr. Hans-Rudolf Wiedemann, beschrieb dreizehn Fälle von Gliedmaßenfehlbildungen, die er in den letzten zehn Monaten in seiner Klinik gesehen hatte. Die Durchsicht des Diagnosenregisters und des Krankenblattarchivs ergab, dass in den vorangegangenen Jahren diese Missbildungsart kaum vorgekommen war.

Wiedemann hatte auch bei anderen Kliniken nach ähnlichen Beobachtungen gefragt. Daraufhin wurde ihm aus der gesamten Bundesrepublik über weitere Fälle von Extremitätenfehlbildungen berichtet. Aus der Studie von Wiedemann geht hervor, dass im September 1961 insbesondere bei den auf Kinderheilkunde spezialisierten Ärzten über eine Zunahme der Missbildungshäufigkeit gesprochen wurde [7].

Suche nach den Ursachen

Auch an etlichen Kliniken der Bundesrepublik wurde beobachtet, dass immer mehr Kinder mit Gliedmaßenfehlbildungen geboren wurden. Die Untersuchungen dieses Phänomens wurden anfangs von der Diskussion um schädliche Auswirkungen durch die Atombombenversuche beeinflusst. Im Laufe des Jahres 1961 stellten die Forschergruppen indessen fest, dass sich die Missbildungsepidemie auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland konzentrierte, während weder in der DDR noch in der Schweiz oder in Belgien eine Zunahme der Gliedmaßenfehlbildungen beobachtet worden war. Damit wurde atomare Strahlung als Ursache unwahrscheinlich.

Widukind Lenz und seine Recherchen

Lenz erkannte im November 1961 den Zusammenhang zwischen Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft und Kindesmissbildungen. Im Juni 1961 war er darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich die Fälle von Gliedmaßenfehlbildungen bei Neugeborenen häuften.

Der Rechtsanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen hatte sich an Lenz gewandt, um den Grund für die Missbildung seines Sohnes herauszufinden. Auch Schulte-Hillens Schwester hatte eine Tochter mit ähnlichen Fehlbildungen zur Welt gebracht. Schulte-Hillen berichtete über weitere ihm bekannt gewordene Fälle in der Umgebung seines Heimatortes Menden. Ein von Lenz kontaktierter Arzt in Menden bestätigte, dass in dieser Stadt mehrere Fälle von Extremitätenfehlbildungen bei Neugeborenen aufgetreten waren.

Im August 1961 fuhr Lenz nach Münster und sprach mit Prof. Dr. Karl-Heinz Degenhardt vom Humangenetischen Institut und Prof. Dr. Wilhelm Kosenow von der Universitätskinderklinik. Er erfuhr, dass Degenhardt bereits mit Unterstützung der Mendener Gesundheitsbehörde die Zahl der Kindesmissbildungen feststellen ließ.

Lenz begann daraufhin mit der Durchsicht der Geburtsbücher zweier großer Hamburger Entbindungskliniken der Jahrgänge 1960 und 1961. Aus einer früheren Untersuchung lagen ihm bereits Vergleichszahlen für die Jahre 1930 bis 1958 vor. Auch in Hamburg hatten die Fälle von Gliedmaßenfehlbildungen zugenommen. Zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 1961, konzentrierte sich die Suche einiger Forscher, mit denen Lenz in Kontakt stand, bereits auf die Hypothese der "Annahme eines toxischen, höchstwahrscheinlich oral aufgenommenen Faktors" [8]. Zu diesem Ergebnis waren neben Lenz auch Kosenow und Pfeiffer, Weicker und Wiedemann gekommen. Die Forscher zogen Detergenzien im Spülmittel, ins Trinkwasser gelangte Insektizide, Nahrungsmittelzusätze und auch Arzneimittel in Betracht.

Entdeckung der Teratogenität von Thalidomid

Bei seinen retrospektiven Untersuchungen, d. h. bei Befragungen betroffener Mütter über Ernährungsweise, Lebensumstände und Arzneimitteleinnahme während der Schwangerschaft fiel Lenz Anfang November 1961 auf, dass mehrmals die Einnahme von Contergan-Tabletten in den ersten Schwangerschaftsmonaten angegeben worden war. Lenz überprüfte daraufhin die Angaben der betroffenen Mütter, indem er sie gezielt nach einer Arzneimitteleinnahme während der Frühschwangerschaft befragte und, sofern man es ihm erlaubte, ihre Hausapotheken inspizierte.

Am 10. November 1961 sprach Lenz zum zweiten Mal mit der Ehefrau eines Arztes, die während ihrer gesamten Schwangerschaftsdauer regelmäßig Contergan forte eingenommen hatte. Die Arztgattin hatte im Herbst 1959 in der Praxis ihres Mannes mit einer Pharmareferentin der Fa. Grünenthal über ihre Schlafstörungen gesprochen. Da diese ihr versichert hatte, dass Contergan "völlig unschädlich" sei, nahm sie dieses Arzneimittel auch während ihrer späteren Schwangerschaft ein. Die im Dezember 1960 geborene Tochter verstarb infolge ihrer Missbildungen kurz nach der Geburt.

Im Frühjahr 1961 traten bei der Ehefrau des Arztes erstmals polyneuritische Beschwerden auf. Nachdem eine Vertreterin der Fa. Grünenthal im Frühjahr 1961 darauf hingewiesen hatte, dass es bei langfristiger Einnahme von Contergan und Contergan forte gelegentlich zu Nervenschädigungen kommen könne, vermutete die Arztgattin einen Zusammenhang zwischen ihrer häufigen Schlafmitteleinnahme während der Schwangerschaft und den Missbildungen ihrer verstorbenen Tochter; ihr Ehemann hielt dies jedoch für abwegig. Lenz hatte die Vermutung der Arztgattin bei einer ersten Befragung im Sommer 1961 ebenfalls für unwahrscheinlich gehalten, jedoch notiert [9].

Am 12. November 1961 sprach Lenz mit den Eltern eines Jungen, der im Juli 1960 wegen schwerer Missbildungen in die Hamburger Universitätskinderklinik aufgenommen worden war, in der Lenz als Kinderarzt beschäftigt war. Die Eltern des mittlerweile verstorbenen Kindes antworteten Lenz, als dieser ihnen den Grund seines Besuchs erklärte, sie würden die Ursache der Missbildungen ihres Sohnes kennen. Sie hätten durch einen Artikel in der Zeitschrift "Der Spiegel" erfahren, dass Contergan eine schädliche Wirkung besitze. ("Der Spiegel" hatte im August 1961 über Nervenschädigungen nach Thalidomideinnahme berichtet [10].) Da die Ehefrau zu Beginn ihrer Schwangerschaft jeden Abend eine halbe oder eine ganze Tablette Contergan forte eingenommen hatte, müsse dies die Ursache der Missbildungen ihres Sohnes gewesen sein.

Lenz berichtete am 13. November 1961 auf der morgendlichen Ärztebesprechung in der Universitätskinderklinik Hamburg über seine Analysen; der Direktor der Kinderklinik, Prof. Dr. Karl-Heinz Schäfer (1911 - 1985), ordnete an, dass einer der angestellten Ärzte, Dr. Klaus Knapp, Lenz bei seinen Erhebungen unterstützen solle. Lenz und Knapp suchten innerhalb der nächsten Tage weitere ihnen bekannte betroffene Familien auf und fragten gezielt, welche Arzneimittel in der Frühschwangerschaft eingenommen worden waren.

Am 15. November 1961 kannte Lenz vierzehn Fälle, bei denen die Mutter eines mit Gliedmaßenfehlbildungen geborenen Kindes in der Frühschwangerschaft mit Sicherheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit Contergan eingenommen hatte; Kontrollbefragungen bei Müttern gesunder Kinder ergaben hingegen, dass diese Frauen das Arzneimittel nicht eingenommen hatten. Lenz hielt daher einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Conterganeinnahme während der Frühschwangerschaft und den Kindesmissbildungen für sehr wahrscheinlich. Dies teilte er am 15. November 1961 dem Forschungsleiter der Fa. Grünenthal telefonisch mit [11]. Da das Arzneimittelunternehmen nicht zur Rücknahme der Thalidomidpräparate vom Markt bereit war, warnte Lenz am 19. November 1961 anlässlich der Düsseldorfer Tagung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärztevereinigung in Form einer Diskussionsbemerkung vor einem "weitverbreiteten Medikament" [12].

Warnung der Öffentlichkeit

Zu diesem Zeitpunkt war sich Lenz darüber im Klaren, dass sein Material wissenschaftlichen Ansprüchen noch nicht genügte. Er hielt es jedoch für seine Pflicht als Arzt, seine Vermutung öffentlich zu äußern, da der Hersteller nicht zur Rücknahme thalidomidhaltiger Arzneimittel bereit war und infolgedessen nur die Möglichkeit blieb, durch eine öffentliche Warnung die Einnahme von Thalidomidpräparaten während der Schwangerschaft zu verhindern.

So bemerkte Lenz in seinem Diskussionsbeitrag vom 19. November 1961 zur wissenschaftlichen Bedeutung seiner Forschungsergebnisse: "Ein ätiologischer Zusammenhang zwischen der Aufnahme der Substanz und den Mißbildungen ist durch nichts bewiesen. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus wäre es daher verfrüht, darüber zu sprechen. Ein Zusammenhang ist aber denkbar. Als Mensch und Staatsbürger kann ich es daher nicht verantworten, meine Beobachtungen zu verschweigen" [13]. Die "Welt am Sonntag" machte darauf den Verdacht allgemein publik.

Für diese frühzeitige Äußerung seines Verdachts wurde Lenz später von Kollegen kritisiert [14]. Sein engagiertes Handeln hat jedoch maßgeblich dazu beigetragen, dass am 27. November 1961 in der Bundesrepublik Deutschland alle Thalidomidpräparate aus dem Handel genommen wurden.

Keine Zulassung in den USA

Vor der Contergan-Katastrophe war es in der Bundesrepublik Deutschland dem Arzneimittelhersteller überlassen, ob und mit welchen Methoden er die von ihm produzierten Arzneimittel vor der Markteinführung prüft [1]. Dagegen war in den USA schon damals die für den Arzneimittelverkehr zuständige Food and Drug Administration (aufgrund des "Food, Drug and Cosmetic Act") befugt, ein neues Arzneimittel vom Markt fernzuhalten, wenn der für die Zulassung zuständige Mitarbeiter dies aus Gründen der Arzneimittelsicherheit für erforderlich hielt.

In den USA gelangten thalidomidhaltige Arzneimittel nicht in den Handel, obwohl ein Lizenzpartner der Fa. Grünenthal, die Fa. Richardson-Merrell, ein klinisches Erprobungsprogramm für Thalidomid eingeleitet und am 12. September 1960 bei der Food and Drug Administration die Zulassung von Thalidomid für den Vertrieb in den USA beantragt hatte. Nach Ansicht der zuständigen Sachbearbeiterin, der Ärztin Frances Kathleen Oldham Kelsey (geb. 1914), waren jedoch bei Thalidomid grundlegende Sicherheitskriterien nicht erfüllt.

Kelsey beanstandete zunächst das Fehlen von chronischen Toxizitätsstudien. Nachdem sie im Februar 1961 Kenntnis vom nervenschädigenden Potenzial erhalten hatte, erkundigte sie sich im Mai 1961, ob die Fa. Richardson-Merrell Untersuchungsergebnisse zum pharmakologischen Verhalten des Arzneistoffs Thalidomid bei Einnahme in der Schwangerschaft vorlegen könne; im September 1961 forderte sie, dass im Falle einer Zulassung von Thalidomid ein Hinweis auf das Fehlen von Erfahrungen für die Anwendung während der Schwangerschaft in die Gebrauchsanweisung aufgenommen würde. Nach Bekanntwerden der Teratogenität von Thalidomid zog die Fa. Richardson-Merrell im März 1962 schließlich den Zulassungsantrag zurück [15, 16].

Strafverfahren und Hilfswerk für behinderte Kinder

Die Aachener Staatsanwaltschaft setzte im Dezember 1961 ein Ermittlungsverfahren gegen die Fa. Grünenthal in Gang, in dessen Folge am 13. März 1967 Anklage gegen den geschäftsführenden Gesellschafter der Fa. Grünenthal sowie acht - teilweise ehemalige - leitende Angestellte des Arzneimittelunternehmens erhoben wurde [17]. Die Anklageschrift warf diesen Personen in Bezug auf die Nervenschädigungen fahrlässige und vorsätzliche Körperverletzung vor, in Bezug auf die Missbildungen fahrlässige Körperverletzung, teilweise mit Todesfolge, ferner Verstoß gegen einige Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes von 1961 [4].

Nach Abtrennung des Verfahrens gegen den geschäftsführenden Gesellschafter wurde am 27. Mai 1968 in Alsdorf bei Aachen die Hauptverhandlung im Contergan-Strafverfahren eröffnet, die am 18. Dezember 1970 nach insgesamt 283 Prozesstagen mit der Einstellung des Strafverfahrens endete. Vorangegangen war der Abschluss eines Vergleichsvertrages zwischen der Fa. Grünenthal und den Vertretern des Bundesverbandes der Eltern körpergeschädigter Kinder - Contergankinder-Hilfswerk e. V. Die Fa. Grünenthal hatte sich in dem Vertrag vom 10. April 1970 zur Zahlung von 100 Millionen DM nebst Zinsen an die durch thalidomidhaltige Arzneimittel geschädigten Kinder verpflichtet.

Der Bundestag verabschiedete im November 1971 das "Gesetz über die Errichtung einer Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder", dessen In-Kraft-Treten Bundesjustizminister Gerhard Jahn am 31. Oktober 1972 bekannt gab. Aus dem Fonds dieser Stiftung, der aus Bundesmitteln und den von der Fa. Grünenthal eingebrachten 100 Millionen DM nebst Zinsen besteht, erhalten ca. 2600 thalidomidgeschädigte Personen Rentenzahlungen je nach dem Ausmaß ihrer Behinderung [18, 19].

Arzneimittelrechtliche Konsequenzen

Die Contergan-Katastrophe hatte sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik Deutschland Auswirkungen auf das Arzneimittelrecht. In den USA traten 1962 die Kefauver-Harris Amendments in Kraft, die die klinische Erprobung von Arzneimitteln am Menschen der Kontrolle durch die Food and Drug Administration unterstellten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Arzneimittelgesetz von 1976, das erstmals ein Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel einführte, unter dem Einfluss der Contergan-Katastrophe erarbeitet und verabschiedet [20].

Thalidomid heute

Infolge der Entdeckung weiterer Indikationsgebiete für Thalidomid wandte sich das US-amerikanische Arzneimittelunternehmen Celgene am 23. Dezember 1996 an die amerikanische Gesundheitsbehörde und beantragte die Zulassung Thalidomids zur Behandlung der Leprareaktion und der Kachexie. Ein Ausschuss, der die Food and Drug Administration hinsichtlich der Zulassung neuer Arzneimittel berät, empfahl im September 1997 die Zulassung von Thalidomid zur Behandlung des Erythema nodosum leprosum, da für dieses Indikationsgebiet der Nutzen Thalidomids die Risiken überwiege.

Am 16. Juli 1998 ließ die Food and Drug Administration Thalidomid zur Behandlung der Leprareaktion zu. Ein effizientes Präventionskonzept soll sicherstellen, dass Thalidomid nicht während der Schwangerschaft eingenommen wird [21].

Kastentext: Erforscher der Contergan-Schäden

Mit Untersuchungen über die Zunahme der Kindesmissbildungen befassten sich in den Jahren 1960 und 1961: Prof. Dr. Wilhelm Kosenow und Dr. Rudolf Artur Pfeiffer von der Kinderklinik der Universität Münster, der Kinderarzt Dr. Widukind Lenz in Hamburg, die Orthopäden Prof. Dr. Gerhard Exner und Dr. Hans Wegerle von der Universitätsklinik Marburg, der Humangenetiker Prof. Dr. Heinz Weicker in Bonn sowie Prof. Dr. Hans-Rudolf Wiedemann, Kinderklinikdirektor in Krefeld bzw. Kiel.

Kastentext: Literaturtipp

Beate Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid 1999. X, 299 S., 8 Abb., 5 Tab. (Geschichte der Pharmazie und Sozialpharmazie). Kart. 7 44,- / DM 86,06. ISBN 3-8047-1681-4

Aus dem Inhalt: Rechtliche Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland

  • Der Verlauf der Contergan-Katastrophe in der Bundesrepublik Deutschland und im Ausland
  • Der Contergan-Prozess
  • Zur Entwicklung der teratologischen Forschung zwischen 1957 und 1962
  • Reaktionen auf die Contergan-Katastrophe
  • Thalidomid in den USA
  • Thalidomid heute: neue Anwendungsgebiete
  • Arzneimittelzwischenfälle nach der Contergan-Katastrophe

Literatur und Quellen [1] Zur Geschichte des Contergans siehe Kirk, Beate: Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1999. [2] Zur Lenz'schen Biographie siehe Lenz, Widukind: Living History-Biography: Nature and Nurture. Am. J. Med. Genet. 37 (1990), S. 356 - 361. [3] Die Geschichte der Firma Grünenthal wurde in der Hauszeitschrift "Die Waage" 35 (1996), 2, S. 45 - 88 dargestellt. [4] Vgl. Anklageschrift des leitenden Oberstaatsanwaltes beim Landgericht Aachen, 4 Js 987/61, Bd. I, Privatarchiv Dr. J. P. Havertz. [5] Zeugenaussagen R. Voss in: Ebenda. [6] Weidenbach, Arnulf: Totale Phokomelie. Zentralbl. Gynäkol. 81 (1959), S. 2049. [7] Wiedemann, Hans-Rudolf: Hinweis auf eine derzeitige Häufung hypo- und aplastischer Fehlbildungen der Gliedmaßen. Med. Welt 12 (1961), S. 1863 - 1866. [8] Knapp, Klaus, und Widukind Lenz: Untersuchungen über Contergan in der Ätiologie der Missbildungen. Methodik der Information in der Medizin 2 (1963), 2, S. 50. [9] Lenz, Widukind: Die Thalidomid-Embryopathie. Persönliche Begegnungen mit dem Problem, in: Benatar, Niels, Reimer Hoffmann und Peter Brüser (Hrsg.): Dieter Buck-Gramcko. Eine Festschrift zum 65. Geburtstag, Erlangen 1992, S. 259 - 276. [10] N. N.: Schlafmittel: Zuckerplätzchen forte. Der Spiegel 15 (1961), 34, S. 59 - 60. [11] Siehe Zeugenaussage Lenz vom 5. März 1963, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, Zweigarchiv Schloss Kalkum, Gerichte Rep. 139, Bd. 171, S. 363 - 379. [12] Bundesarchiv Koblenz, B189/11733, Diskussionsbemerkung von Privatdozent Dr. W. Lenz, Hamburg, zu dem Vortrag von R. A. Pfeiffer und W. Kosenow: Zur Frage der exogenen Entstehung schwerer Extremitätenmißbildungen. Tagung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärztevereinigung in Düsseldorf am 19. 11. 1961. [13] Ebenda. [14] Persönliche Mitteilung von Prof. Dr. W. Lenz in einem Gespräch mit Beate Kirk vom 9. Juni 1994. [15] Interagency Coordination in Drug Research and Regulation. Hearings before the Subcommittee on Reorganization and International Organizations of the Committee on Government Operations. United States Senate, 87th Congress, Second Session, Agnecy Coordination Study, August 1 and 9, 1962, Part I, Washington 1963, S. 80. [16] Schreiben von Dr. Frances Kathleen Oldham Kelsey vom 10. Juni 1997 an B. Kirk. [17] N. N.: Anklage im Contergan-Verfahren. Dtsch. Apoth. Ztg. 107 (1967), S. 385. [18] Böhm, Dietrich: Die Entschädigung der Contergan-Kinder. Abriss und Leitfaden für die Eltern der Contergan-Kinder und Kommentar und Materialsammlung zum Gesetz über die Errichtung einer Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder. Siegen 1973. [19] Schreiben der Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" vom 3. März 1997 an B. Kirk. [20] Vgl. Kirk (wie Anm. 1) und Stapel, Ute: Die Arzneimittelgesetze 1961 und 1976. Stuttgart 1987 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, 43). [21] Vgl. auch Seitz, Renate: Ein Comeback für Thalidomid? Dtsch. Apoth. Ztg. 141 (2001), S. 3550 - 3551.

Vor 40 Jahren wurde das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid vom Markt genommen. Vorher waren über drei Jahre vergangen, bevor die Häufung von Missbildungen bei Kindern in einen vagen Zusammenhang mit diesem Präparat gebracht wurde. Der Verdacht erhärtete sich, als der Kinderarzt Widukind Lenz 14 Fälle recherchierte und darüber auf einem Ärztekongress referierte. Kurz darauf schlug die Presse Alarm, und unter dem Druck der Öffentlichkeit rief der Hersteller das Präparat zurück. Damit sich eine derartige Katastrophe nicht wiederholt, verabschiedete die Bundesrepublik das Arzneimittelgesetz von 1976.

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