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Kein Run auf Auslandsleistung

BONN (im). Einen Ansturm auf Leistungen im Ausland hat es bisher nicht gegeben. Seit April dieses Jahres haben zum Beispiel von mehr als fünf Millionen Versicherten der Techniker Krankenkasse (TK) lediglich zwölf Patienten Leistungen jenseits der Grenze in Anspruch genommen und der Krankenkasse zur Erstattung vorgelegt. Diese Zahl nannte der Vorstandsvorsitzende der TK, Dr. Norbert Klusen auf einer Veranstaltung der TK-Landesvertretung Rheinland-Pfalz am 22. Oktober in Bonn. Dort diskutierten Experten die Auswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Erstattung von Auslandsleistungen.

Die Vorgeschichte


Ende April 1998 hatte der EuGH in Luxemburg in den Angelegenheiten Kohll/Decker entschieden, daß Bürger der Europäischen Union auch außerhalb ihres Landes in einem Mitgliedstaat Zahnregulierungen vornehmen lassen oder Heil- und Hilfsmittel erwerben können. In den zwei konkreten luxemburgischen Fällen ging es um die Erstattung der Kosten für eine Brille aus Belgien sowie für Zahnbehandlung aus Trier (AZ Nr. 19 vom 4.5.98). Die Richter entschieden damals, daß die luxemburgische Krankenkasse zumindest den Teil bezahlen muß, den sie für die entsprechende Behandlung im Inland gezahlt hätte.
Der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer bezeichnete die Urteile als äußerst problematisch, da sie die nationale Verantwortung für die Finanzierung des jeweiligen Gesundheitssystems aushöhlten. Der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände hatte festgestellt, daß sich für die Patienten in Deutschland in der Arzneiversorgung zunächst nichts ändere.

Wanderung in Grenzregionen


Der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Norbert Klusen nannte nun Befürchtungen, Patienten würden in Scharen über die Grenzen gehen, übertrieben. Lediglich Personen, die aufgrund früherer Bindungen wie Familie, Wohnort oder Arbeitsplatz einen Bezug zu einem Land hätten, würden grenzüberschreitend Leistungen in Anspruch nehmen. Sie wollten zum Beispiel den Hausarzt trotz Wohnortwechsel beibehalten, auch wenn eine Landesgrenze dazwischen liege. Darüber hinaus hemmten Sprachprobleme größere Wanderungsbewegungen. Nach Ansicht von Klusen werden europarechtliche Eingriffe in Zukunft noch zunehmen, die Debatte habe durch die Urteile des EuGH erst begonnen.
Der TK-Vorstandschef rief zu einer emotionslosen Diskussion in dieser Angelegenheit auf. Er sprach sich für den Erhalt bewährter Strukturen in den einzelnen Ländern aus und warnte vor einer Harmonisierung auf minimalem Niveau. Würde beispielsweise ein einheitliches Versorgungsniveau zwischen Deutschland und südeuropäischen Staaten angestrebt, hätte dies Transfers in Milliardenhöhe zur Folge. Gleichwohl bleibe die Suche nach besseren Lösungen im Gesundheitswesen nicht auf nationale Grenzen beschränkt. Ein Ausbruch aus bestehenden Schablonen sei nötig, meinte Klusen.

Vertreter des Gerichtshofs: Präzisierung kommt


Der Abteilungsleiter des Europäischen Gerichtshofs, Jochen Streil, hob auf der Veranstaltung in Bonn hervor, daß durch die Urteile die Krankenkassen zur Erstattung verpflichtet wurden, auch wenn die Genehmigung zur Behandlung zuvor fehlte. Seinen Worten zufolge sind die Urteile in Luxemburg verbindlich für die nationalen Richter, weitere Präzisierungen zu den Kohll/Decker-Urteilen seien bereits angefragt worden. Demnach müssen die obersten Gerichte in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten den Gerichtshof zur Auslegung von Urteilen anrufen. Streil hob hervor, daß nach den Urteilen der freie Dienstleistungsverkehr in Europa auch auf den Sozialbereich anwendbar sei, daß aber Gründe des Gemeinwohls Einschränkungen durch die nationalen Regierungen rechtfertigten, zum Beispiel bei einer Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts der Krankenkassen. Nach Ansicht des Repräsentanten des EuGH sollte jeweils der Gesetzgeber definieren, wann das nationale Sozialsystem bedroht sei, und nicht die Richter. Die Diskussion werde weiter zunehmen, etwa um den Bezug von billigen Leistungen aus dem Ausland, dies entfalte auch eine Bindungswirkung für Deutschland.

EU-Kommission: Auch Exportchance


Jürgen Tiedje von der EU-Kommission in Brüssel warb für eine breitangelegte Debatte. Zur (überspitzten) Frage, ob der Binnenmarkt nur in Luxemburg gelte, führte er aus, daß der gemeinsame Binnenmarkt kein Konzept mit Ausschlußcharakter, sondern offen angelegt sei. Dies bezog sich auf kritische Stimmen aus Deutschland, die die Urteile und ihre Folgen auf Luxemburg beschränken wollten und keine Auswirkungen auf die Bundesrepublik sahen. Tiedje drehte den Spieß um und stellte möglichen Belastungen der deutschen Krankenversicherung durch Auslandsleistungen die Exportchancen gegenüber. Wenn ein Luxemburger die Zahnbehandlung in Trier wünsche, stelle sich umgekehrt für deutsche Ärzte die Frage, ob sie nicht offensiv ihre Leistungen den Bürgern der EU-Mitgliedstaaten anbieten wollten. Dies könnte Chancen für Arbeitsplätze in Deutschland bedeuten. Der Vertreter aus Brüssel appellierte an die Deutschen, ihre Interessen zu organisieren, das gelte auch für die Krankenkassen. Darüber hinaus stellte er klar, daß der Gerichtshof generell den Anspruch der Bürger auf Gleichbehandlung und nicht grundsätzlich auf Kostenerstattung festgestellt habe. Die Kostenerstattung habe die Diskussion deswegen beherrscht, weil sie in Luxemburg gelte. Daher müsse verglichen werden, wie jeweils die Situation in einem Land und jenseits der Grenze sei. Auch wenn Vereinbarungen noch fehlten, sollten die Krankenkassen solche vorbereiten, so sein Rat.
Bei der möglichen Einschränkung des Bezugs von Auslandsleistungen aus Gründen des Allgemeininteresses konstatierte Tiedje einen enormen Diskussionsstoff. So sei es nicht möglich, mit dem Hinweis auf das Qualitätsargument nationale Grenzen abzuschotten, da in Europa die gegenseitige Anerkennung etwa der ärztlichen Ausbildung gelte.l

EuGH-Urteile: Behandlung im Ausland


Am 28. April 98 hatte der europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden, daß Bürger der Europäischen Union im Ausland Zahnregulierungen vornehmen lassen oder Heil- und Hilfsmittel erwerben können. Am Beispiel zweier Luxemburger, denen ihre Krankenkasse die in Belgien gekaufte Brille sowie die Zahnregulierung der Tochter in Trier nicht bezahlen wollte, befanden die Richter, daß die Kasse zumindest den Teil bezahlen muß, den sie für die Behandlung im Inland gezahlt hätte. Begründet wurde dies mit dem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr in Europa. Von fünf Millionen Versicherten der Techniker Krankenkasse hat seither nur ein Dutzend Leistungen im Ausland beansprucht. Laut Gerichtshof rechtfertigen Gründe des Gemeinwohls Einschränkungen durch die nationalen Regierungen, allerdings solle der Gesetzgeber definieren, wann das nationale Sozialsystem gefährdet sei, und nicht die Richter. Die Europäische Kommission in Brüssel wiederum sieht Exportchancen etwa für die Leistungen deutscher Ärzte in die EU-Mitgliedstaaten.

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