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Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Kassen müssen auch für Leistung im Ausl

BONN (im). Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur europaweiten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist auf unterschiedliche Reaktion bei Gesundheitspolitikern in Bonn gestoßen. Der EuGH hatte am 28. April in Luxemburg entschieden, daß Versicherte nach Behandlung im EU-Ausland die Kosten von ihrer Krankenkasse erstattet bekommen (siehe AZ Nr. 19 vom 4.5.).

Am Beispiel zweier Luxemburger, denen ihre Krankenkasse die Erstattung der Kosten für eine in Belgien gekaufte Brille sowie für den Zahnersatz der Tochter in Deutschland verweigerte, befanden die Richter, daß die Kasse zumindest den Teil der Aufwendungen zahlen muß, den sie für die entsprechende Behandlung im Inland erstattet hätte. Die Richter begründeten dies mit dem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr in der EU.

Politiker: Skepsis und Befürwortung Der gesundheitspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag Wolfgang Zöller nannte das Urteil "eine große Gefahr für die Ausgaben unserer gesetzlichen Krankenversicherungen". Die CSU lehne den Versuch, über EuGH-Urteile die Sozialversicherungssysteme in Europa zu harmonisieren, ab. Es gehe nicht an, Kompetenzen auf die EU zu übertragen, während der jeweilige Staat die finanziellen Folgen allein trage. So sei beispielsweise nicht hinzunehmen, daß für deutsche Ärzte aus Kostengründen Zulassungsbeschränkungen bestehen, andererseits ausländische Leistungserbringer unbegrenzten Zugang erhielten. Positiv sah dagegen der FDP-Gesundheitsexperte Dr. Dieter Thomae den Sachverhalt. Wer Ja zur Freizügigkeit in der EU und zum Wettbewerb sage, der müsse auch eine flexiblere Handhabung bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bejahen. Solange die deutschen Krankenkassen nicht mehr als für eine Behandlung im Inland zahlen müßten, werde das auch nicht teurer, meinte Thomae, der auch Vorsitzender des Bundestags-Gesundheitsausschusses ist. Offene Fragen, zu denen er etwa die von Zöller thematisierte Bedarfsplanung zählte, müßten in Ruhe erörtert werden. Nur geringe konkrete Auswirkungen der EuGH-Urteile erwartete die SPD-Gesundheitspolitikerin Gudrun Schaich-Walch. Ihrer Einschätzung nach werden sich vorwiegend Deutsche, die in EU-Staaten leben und arbeiten, aber in Deutschland krankenversichert sind, im Ausland behandeln lassen. Dadurch werde unser Gesundheitssystem weder teurer noch müsse das Niveau gesenkt werden. Nach Ansicht des gesundheitspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion Klaus Kirschner offenbart die skeptische Reaktion des Bundesgesundheitsministers, daß der Bundesregierung ein Konzept zur Mitgestaltung europäischer Gesundheitspolitik fehle.

Seehofer: Urteil problematisch Zuvor hatte Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer das Urteil als "äußerst problematisch" bezeichnet, da es die nationale Verantwortung für die Finanzierung des jeweiligen Gesundheitssystems aushöhle. Es unterstütze die in der Europäischen Kommission erkennbare Tendenz, die Krankenkassen als Wirtschaftsunternehmen zu betrachten, um sie so der Kompetenz der Landesregierungen zu entziehen. Es dürfe, so Seehofer, nicht zu einer faktischen Harmonisierung der Sozialsysteme kommen, obwohl letzteres nicht politisch gewollt sei. Demnach wollen die EU-Mitgliedstaaten solange keine Sozialunion, wie ihre jeweiligen Volkswirtschaften und sozialen Sicherungssysteme auf unterschiedlichem Niveau sind. Dabei hätten die Politiker zuletzt im Amsterdamer Vertrag ausdrücklich vereinbart, daß jeder Staat sein Gesundheitswesen selbst organisieren solle. Nach Befürchtungen des Ministers wird das deutsche System nun teurer - weil mit Behandlungen im Ausland Geld aus unserem Solidarsystem abfließt - oder das Versorgungsniveau sinkt, weil die Kassen für Leistungen im Ausland zahlen, deren Qualität und Wirtschaftlichkeit nicht nachgeprüft werden kann. Das Abfließen von Mitteln durch die Erstattung von Auslandsbehandlungen könne die flächendeckende Gesundheitsversorgung im Land gefährden. Zugleich müßten zur Kompensation zusätzliche Mittel aufgebracht werden. In der Folge subventioniere die solidarische Krankenversicherung andere Systeme, werde aber selbst finanziell ausgezehrt. Zudem werde das in Deutschland bestehende Problem der Überkapazitäten im Gesundheitswesen "drastisch verschärft".

ABDA: Keine Änderung in der Arzneiversorgung Der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände - ABDA, Hans-Günter Friese, hob hervor, daß sich für die Arzneiversorgung der Versicherten in Deutschland nichts ändere. Es bleibe auch bei im Ausland gekauften Medikamenten grundsätzlich bei der Zuzahlung von neun, 11 und 13 Mark. Allerdings stünden Apotheken in grenznahen Bereichen in einem gewissen Wettbewerb mit ausländischen Apotheken, dem sich das deutsche Apothekenwesen aber selbstbewußt stelle. Die ABDA werde es nicht hinnehmen, wenn interessierte Kreise die Versicherten zum Besuch ausländischer Offizinen aufforderten. Nach wie vor habe der Patient das Recht auf freie Apothekenwahl.

Kassen: Verbraucherfreundlich Orts- und Betriebskrankenkassen begrüßten die Urteile als verbraucherfreundlich und einen Schritt hin zur Behandlungsfreiheit und Liberalisierung im Interesse des Patienten. Vorteile brächten sie vor allem in grenznahen Bereichen. Sie forderten ihre Versicherten dazu auf, vor Nutzung von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland die eigene Krankenkasse zu befragen. Allerdings warnten sie wie Ersatzkassen die Versicherten auch, auf die Qualität der Behandlungen im Ausland zu achten und nicht "auf Schnäppchenjagd" zu gehen. Die Ersatzkassenverbände erwarten nach eigenen Angaben allein wegen der Sprachbarrieren keine gravierenden Auswirkungen. Das Gericht habe auch deutlich gemacht, daß der Anspruch nur gilt, so lange keine "erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit" bestehe. Erstattet werden, so die Ersatzkassen, ohnehin nur die im Inland geltenden Sätze. Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen erinnerte an das Prinzip der Kostenerstattung. Bei einem Arztbesuch im Ausland muß der Versicherte die Kosten wie ein Privatpatient tragen, erhält jedoch von seiner Krankenkasse nur den nationalen Erstattungssatz. Der BKK-Verband wies darauf hin, daß die EuGH-Urteile ausschließlich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beträfen. Daher ändere sich beispielsweise bei Behandlungen in anderen Ländern wie der Türkei oder Ungarn nichts an der derzeitigen Rechtslage. Die Betriebskrankenkassen appellierten an die Regierungen der EU-Staaten, vernünftige Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu schaffen. Gemeinsam mit allen Kassenarten sowie den Leistungserbringern müßten Qualitätssicherung, Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Markttransparenz angegangen werden.

Ärzte: Zwiespältiges Echo Massive Auswirkungen für das deutsche Gesundheitswesen - konkret ein niedrigeres Niveau - befürchtete der Präsident der Bundesärztekammer. Die Gefahr besteht nach Worten von Dr. Karsten Vilmar darin, daß die Qualität der medizinischen Versorgung der Patienten in eine Abwärtsspirale zu geraten droht. Um dieses zu verhindern, regte der BÄK-Präsident eine "Europäische Gesundheitscharta" an. Nicht ganz so skeptisch wie Vilmar äußerte sich dagegen die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Köln. Für die Kassenärzte berge das Urteil auch Chancen, da sich durch die hochwertige ambulante Versorgung in Deutschland auch Patienten aus anderen EU-Staaten Behandlungsmöglichkeiten böten.

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