Feuilleton

Was ist relativ?

Relativ betrachtet, ist Jamaika das erfolgreichste Land der Olympischen Spiele 2008, und China muss sich unter den medaillenreichsten Sportnationen an letzter Position einordnen lassen. Relativ bewertet, ist Indometacin ein stärkeres Schmerzmittel als Morphin und Diclofenac fast ebenso stark wirksam wie Morphin.

"Relativ" bedeutet so viel wie "je nach Standpunkt verschieden".

Der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff soll einmal eine bemerkenswerte und verständliche Definition des Begriffes "relativ" gegeben haben, indem er sagte "drei Flaschen (Wein) im Keller sind relativ wenig, drei Flaschen im Kabinett sind relativ viel".

Im Folgenden werden die täglich gebrauchten Vokabeln "viel" und "stark" an zwei unterschiedlichen Musterfällen auf ihren objektiven Aussagewert untersucht.

Fragen wir uns aus aktuellem Anlass, ob China, die Vereinigten Staaten und Russland viele olympische Medaillen errungen haben oder nur relativ viele, und fragen wir außerdem – da es ja in fast jedem Glossay auch um Wirkstoffe, Naturstoffe oder Arzneistoffe geht –, wann letztere als stark respektive als schwach wirksam bezeichnet werden dürfen oder ob es dabei nur um relative Bewertungen geht.

Medaillenspiegel

Am Sonntag, dem 24. August 2008 stand fest, dass China bei den gerade zu Ende gegangenen Olympischen Spielen die meisten Goldmedaillen errungen hat. Es folgen die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland, Großbritannien und dann die Bundesrepublik Deutschland (Tab. 1).

Tab. 1: Die ersten elf Gewinnernationen, aufgelistet nach der Anzahl der Goldmedaillen
PositionLandGoldSilberBronze
1China512128
2USA333836
3Russland232128
4Großbritannien191315
5Deutschland161015
6Australien141517
7Südkorea13108
8Japan9610
9Italien81010
10Frankreich71617
11Ukraine7515

Die Reihung nach der Zahl der Goldmedaillen ist eine relative Wertung. Bei den meist minimalen Unterschieden in den messbaren Ergebnissen, die nicht selten nur hundertstel Sekunden oder wenige Millimeter betragen und so über die Vergabe von Gold, Silber oder Bronze entscheiden, schmilzt der Leistungsabstand auf ein vernachlässigbares Minimum zusammen.

Noch fragwürdiger wird die leistungsmäßige Einstufung, wenn es um ästhetische Bewertungen geht, wie bei der Gymnastik, dem Geräteturnen, dem Turmspringen oder dem Dressurreiten. In diesen Disziplinen unterliegt die objektive Leistung der subjektiven Einschätzung durch die Kampfrichter.

Es erscheint daher gerechter, bei einer Reihung der Nationen von der Gesamtzahl an Medaillen auszugehen (Tab. 2).

Tab. 2: Die ersten elf Gewinnernationen, aufgelistet nach der Anzahl der Medaillen insgesamt
PositionLandAnzahl 
Medaillen
1USA110
2China100
3Russland72
4Großbritannien47
5Australien46
6Deutschland41
7Frankreich40
8Südkorea31
9Italien27
9Ukraine27
11Japan25

Vollzieht man diese Überlegung, so tauschen China und die USA ihre Plätze, ebenso Deutschland und Australien. Russland, Großbritannien und Italien behalten ihre Positionen. Südkorea fällt um eine Position zurück und Japan rutscht auf den elften Platz, wodurch Frankreich und die Ukraine nach oben rücken.

Ein weiterer und sehr wichtiger Aspekt ist in die Frage eingeschlossen, nach welchen Kriterien die sportliche Leistungsstärke eines Landes beurteilt werden soll. Um ein objektives Urteil sprechen zu können, müssen die Bevölkerungszahlen mit einbezogen werden (Tab. 3).

Tab. 3: Einwohnerzahlen der ersten elf Gewinnernationen
LandEinwohner (Mio.)
China1319,133
USA303,347
Russland143,400
Japan127,417
Deutschland82,310
Frankreich60,656
Großbritannien59,329
Italien59,131
Südkorea49,024
Ukraine46,711
Australien20,572

Setzt man die Anzahl der Goldmedaillen bzw. aller Medaillen in Beziehung zu den Bevölkerungszahlen der Länder, ergeben sich gravierende Unterschiede (Tab. 4).

Tab. 4: Verhältnis der Einwohnerzahlen zu den gewonnenen Medaillen insgesamt bzw. zu den gewonnenen Goldmedaillen
LandMio. Einwohner pro MedailleMio. Einwohner pro Goldmedaille
Australien0,4481,470
Großbritannien1,2623,123
Frankreich1,5168,665
Südkorea1,5813,788
Ukraine1,7309,342
Russland1,9926,235
Deutschland2,0085,144
Italien2,1127,391
USA2,7588,426
Japan5,07014,157
China13,19225,866

Demnach ist unter den elf sportlichen Spitzenländern Australien das erste und China das letzte. Welch köstlicher Aspekt, wenn man auf die alles dominierenden Zahlen Chinas im medienüblichen Medaillenspiegel schaut!

Es wäre aber nicht fair, nur die Medaillenausbeute der ranghöchsten Länder zu beleuchten und zu vergleichen.

Greifen wir deshalb einmal vier kleinere Länder heraus wie die Niederlande mit 16.650.000, Kuba mit 11.423.952, Ungarn mit 10.037.000 und Jamaika mit 2.804.332 Einwohnern und setzen die von ihnen gewonnenen Medaillen mit den Einwohnerzahlen in Beziehung (Tab. 5).

Tab. 5: Medaillenspiegel einiger kleinerer Länder und Verhältnis der Einwohnerzahlen zu den gewonnenen Medaillen (Zahlen gerundet)
LandGoldSilberBronzeMedaillen insgesamtEinwohner pro MedailleEinwohner pro Gold-
medaille
Jamaika63211255.000467.000
Kuba2111124476.0005.712.000
Ungarn352101.004.0003.347.000
Niederlande754161.041.0002.379.000

Demnach wäre die relative Rangfolge, was die Medaillen insgesamt anbelangt, wie folgt zu korrigieren: Jamaika, Australien, Kuba, Ungarn, Niederlande, Großbritannien usw. Zählt man nur die Goldmedaillen, ergibt sich die Rangfolge: Jamaika, Australien, Niederlande, Großbritannien, Ungarn usw.

Und was ist mit Indien, das mit einer Bevölkerung von 1,095 Mrd. Menschen und einer Ausbeute von einer Gold- und zwei Bronzemedaillen den relativen Schlusspunkt setzt? Hängt das Ergebnis damit zusammen, dass die Götter Krishna und Ganesha den Sport nicht für alleinseligmachend halten? Vielleicht sollte man Yoga als olympische Disziplin aufnehmen.

Fazit: Verachtet mir die Kleinen nicht, denn Jamaika ist mit knapp drei Millionen Einwohnern eines der kleinsten Länder, aber sportlich das relativ erfolgreichste Land der Welt, wenn man die Olympischen Spiele 2008 als Messlatte nimmt.

Starke Wirkstoffe, schwache Wirkstoffe

Im pharmazeutischen und medizinischen Sprachgebrauch versteht man unter starken Arzneistoffen solche, die bereits in geringer Dosierung wirken, und unter schwachen Arzneistoffen jene, die erst in höheren Dosen effektiv werden. Die Angaben der Dosierungen wie Einzelgabe, Tagesgabe, Dosis der in einer Tablette oder einer anderen Zubereitung enthaltenen Menge an Wirkstoff erfolgt normalerweise in Milligramm. Da die Wirkung eines applizierten Arzneistoffs jedoch von der Anzahl an Molekülen abhängt, ist es unlogisch und nicht richtig, bei der Bewertung der Eigenschaften stark oder schwach ausschließlich die Gewichtsmenge zugrunde zu legen; vielmehr muss die molare Menge berücksichtigt werden. Man wird dann feststellen, dass sich die Werte kräftig verschieben und aus einem sogenannten schwachen Arzneistoff plötzlich ein starker wird. Zur Demonstration dieses Phänomens eignen sich am besten die Schmerzmittel (Tab. 6).

Tab. 6: Übliche Dosierungen von peroralen Analgetika in mg-Mengen und molaren Mengen
AnalgetikumM rDosis in mg*Molare Dosis x 10–4
Morphin-Base285,3

30

100

1,05

3,505

Morphin-
Hydrochlorid**
375,8

30 (22,79)

60 (45,6)

100 (75,95)

0,799

1,598

2,66

Morphin-
Sulfat (1 /2)***
379,0

30 (22,6)

60 (45,2)

100 (75,3)

0,792

1,583

2,64

Pentazosin285,4501,752
Pethidin274,4

50

100

1,82

3,64

Ibuprofen206,3

200 (rezeptfrei)

400 (rezeptfrei)

600

9,64

19,83

29,08

Ketoprofen254,3

50

100

1,07

3,93

Diclofenac-Natrium318,1

12,5 (rezeptfrei)

25

75

100

0,39

0,78

2,36

3,14

Indometacin378,8

50

75

100

1,32

1,98

2,64

 

* Die Angaben in Klammern entsprechen der Menge an Morphin-Base

** Morphin-Hydrochlorid = Mo • HCl • 3 H2 O (M r 375,53)

*** Morphin-Sulfat = 2 Mo • H2 SO4 • 5 H2 O (M r 759,0), bezogen auf 1 Mo (M r 379,5)


 

Aus dem Vergleich lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen.

  • 100 mg Morphin-Base entsprechen 3,505 × 10-4 Mol.
  • 100 mg Diclofenac-Natrium entsprechen 3,14 × 10-4 Mol.

Demnach ist Diclofenac-Natrium das stärkere Analgetikum. Da aber Morphin heute nur noch in Form seiner Salze wie Hydrochlorid oder Sulfat therapeutisch eingesetzt wird, bleibt dieser Vergleich auf theoretischer Ebene stecken.

Wenn wir die üblichen Dosen von 100 mg Morphin-Hydrochlorid oder Morphin-Sulfat mit 100 mg Diclofenac-Natrium vergleichen, dann ist der schwache Kontrahent mit 3,14 × 10-4 Mol dem Morphin-HCl mit rund 2,66 × 10-4 Mol und dem Morphin-Sulfat mit 2,64 × 10-4 Mol um 17,2% bzw. 15,92% unterlegen. Das berechtigt aber noch lange nicht, von Diclofenac-Natrium als einem schwachen Analgetikum zu sprechen.

Der Vergleich der Morphinsalze mit Indometacin, das bei einer Dosierung von 100 mg mit 2,64 × 10-4 Mol zu Buche schlägt, zeigt, dass beide in ihrer Wirkstärke nicht zu unterscheiden sind. Damit dürften die differenzierenden Prädikate "stark" und "schwach" bei der Beurteilung der Analgetika ad absurdum geführt sein.

Fazit: Alles ist relativ.


 

Verfasser:

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth,
Friedrich-Naumann-Str. 33,
 76187 Karlsruhe
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info@h-roth-kunst.com

 

 

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