Foto: Angela Clausen, Verbraucherzentrale NRW

Arzneimittelrecht

Verwirrspiel mit Absicht?

Viele Gesundheitsmittel sehen aus wie Arzneimittel, sind aber keine

Die Abgrenzung von Arzneimitteln zu anderen Produktkategorien bereitet immer wieder Probleme. Dies gilt vor allem für Gesundheitsmittel, die rechtlich betrachtet, als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden. Äußerlich ist der Status für den „nicht Eingeweihten“ oft schlecht zu erkennen. Manche Nahrungsergänzungsmittel oder ergänzende bilanzierte Diäten sind tatsächlich auch gar nicht das, als was sie laut Kennzeichnung daher kommen. Die Regeln für die Abgrenzung sind sehr komplex. Dieser Artikel soll ein wenig „Durchblick“ schaffen und eine grobe Orientierung vermitteln. Ein kritischer Blick auf die Produkte im Grenzbereich (Borderline-Produkte) kann allenthalben nicht schaden, denn die Zuordnung hat eine erhebliche rechtliche und praktische Bedeutung. Außerdem sollten die Kunden in der Beratung erfahren, welche Art von Produkt sie vor sich haben, damit sie fundiert entscheiden können, ob sie das Geld dafür ausgeben oder nicht. | Von Helga Blasius

Was ist ein Arzneimittel?

Der Arzneimittelbegriff ist im europäischen Rechtsrahmen fest umrissen. Er bildet eine wesentliche Grundlage für die Harmonisierung der gesamten Arzneimittelgesetzgebung. Die Definition ist so angelegt, dass sie nicht nur solche Produkte erfasst, die tatsächlich eine therapeutische oder präventive Wirkung haben (Funktion), sondern auch diejenigen, die durch ihre Aufmachung den Anschein eines Arzneimittels erwecken (Präsentation). Die Präparate sind für die Verbraucher eindeutig zu erkennen an den ausführlichen Angaben in der Kennzeichnung und in der Packungsbeilage, die die richtige Anwendung sichern sollen. Berührungspunkte zu verwandten Produktgruppen ergeben sich zum Beispiel mit den Lebensmitteln inklusive Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) und Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke, besonders den ergänzenden bilanzierten Diäten, außerdem mit Kosmetika und Medizinprodukten.

Auswirkungen der Einstufung auf die Praxis

Der Arzneimittelstatus ist im Vergleich mit den anderen Produktgruppen mit dem höchsten Schutz für die Verbraucher verbunden. Kein anderer Sektor ist so stark reglementiert, angefangen von dem Aufwand für die arzneimittelrechtliche Zulassung über die lückenlose Kontrolle des Vertriebsnetzes inklusive der Pharmakovigilanz sowie der Vorschriften über die Abgabe, Information und Beratung in der Apotheke.

Die anderen Produktgruppen sind zum Teil erheblich weniger reguliert. Allenfalls der Medizinproduktebereich kann mit einer ähnlich hohen Regelungsdichte aufwarten, wenn auch mit einigen deutlichen Erleichterungen. Lebensmittel und Kosmetika dürfen demgegenüber ohne vorherige Marktkontrolle in unbegrenzten Mengen in den Verkehr gebracht werden. Einzige Ausnahmen sind neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten (Novel Food) sowie gentechnisch veränderte Lebensmittel, die einem Zulassungsverfahren unterliegen. Verbote können nur dann ausgesprochen werden, wenn die Produkte gegen die anzuwendenden gesetz­lichen Vorschriften verstoßen oder gravierende Qualitätsmängel aufweisen. Die Anbieter haben also ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Wer Produkte, die tatsächlich zulassungspflichtige Arzneimittel sind, z. B. als Nahrungs­ergänzungsmittel in den Verkehr bringt, muss nach dem Arzneimittelgesetz mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe ­rechnen.

Wer entscheidet in der Praxis?

Gesetzestechnisch ist es nicht möglich, dass ein Produkt gleichzeitig zwei Produktgruppen zugeordnet wird. Es muss auf jeden Fall eine Entscheidung getroffen werden. Für „unverbindliche Anfragen“, etwa vor dem Inverkehrbringen, sind die zuständigen Länderbehörden, in der Regel die Regierungspräsidien, die richtigen Ansprechpartner. An sie können sich auch Apotheker/Ärzte/Verbraucher wenden, wenn sie im Einzelfall wissen möchten, wie es um die rechtliche Einordnung eines konkreten Produktes steht. Leider entscheiden die Länderbehörden in ähnlich gelagerten Fällen nicht immer einheitlich, eine außerordentlich unbefriedigende Situation, die immer wieder beklagt wird.

Die Zulassungsbehörden (BfArM, PEI, BVL) entscheiden ebenfalls über Abgrenzungsfragen, aber nur dann, wenn ein konkreter Zulassungs- oder Registrierungsantrag für ein Produkt vorgelegt worden ist oder wenn eine Landesbehörde einen Antrag auf Einstufung stellt. Entscheidungen zur Einstufung gelten zunächst nur für das jeweilige Produkt, können aber bei Vergleichbarkeit auch auf andere Erzeugnisse übertragen werden.

Einstufung nach dem „Mosaik-Prinzip“

Die Einstufung wird von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller Merkmale eines Produktes nach dem „Mosaik-Prinzip“ vorgenommen (siehe Tab. 1).


Tab. 1: Kriterien für die Einstufung eines Produktes nach dem „Mosaikprinzip“
  • Zusammensetzung (qualitativ und quantitativ),
  • pharmakologische Eigenschaften (gemäß aktuellem Wissensstand),
  • Modalitäten des Gebrauchs (Zweckbestimmung des Herstellers, Gebrauchsanweisung, Verpackung, begleitende Informationen, Internet),
  • Umfang der Verbreitung (Vertriebsweg, Werbung, ­Pressemitteilungen),
  • Bekanntheit beim Verbraucher (u. a. allgemeine Verkehrsauffassung bzw. bestehende Handelsbräuche),
  • Risiken,
  • Zweifelsfallregelung (§ 2 Abs. 3 a AMG)

Quelle. K. Stephan, Verweis auf EuGH-Urteil vom 09.06.2005 „HLH-Warenvertrieb u. a./Deutschland“

Viele Produkte werden bei ihrer Einordnung als Arzneimittel keine Schwierigkeiten bereiten, vor allem, wenn sie eindeutig eine arzneiliche Zusammensetzung und/oder Zweckbestimmung haben. In strittigen Fällen kommt bei Pro­dukten, die die Kriterien eines Arzneimittels (Funktion/Präsentation) erfüllen und gleichzeitig unter eine andere Produktkategorie wie etwa Medizinprodukte fallen können, die sogenannte „Zweifelsfallregelung“ zum Zug. Hiernach werden solche Produkte als Arzneimittel eingestuft.

Was der Markt so hergibt

Lebensmittel zur Gesunderhaltung auf pflanzlicher Basis sind bei den Verbrauchern sehr beliebt. Sie enthalten zum Teil auch Zubereitungen, die vorher in Arzneimitteln eingesetzt wurden. Außerdem werden in Supermärkten oder Drogerien zunehmend Produkte als Lebensmittel verkauft, deren Verwendung als Lebensmittel in Deutschland bislang nicht bekannt war, wie etwa Zubereitungen aus exotischen Pflanzen oder Produkten aus dem Bereich der ayurvedischen oder der traditionellen chinesischen Medizin. Sie werden als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) oder ergänzende bilanzierte Diäten in den Verkehr gebracht. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) war der Markt dieser beiden Produktgruppen in den letzten Jahren „sehr innovationsfreudig“. So werden beim BVL jährlich etwa 5000 Nahrungs­ergänzungsmittel und rund 250 ergänzende bilanzierte Diäten neu angezeigt. Immer wieder bewegen sich Produkte aus diesen Gruppen hinsichtlich ihrer Inhaltsstoffe und Bewerbung im Grenzbereich zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln.

Was sind Nahrungsergänzungsmittel?

Nahrungsergänzungsmittel (NEM, food supplements) sind Lebensmittel mit drei speziellen Eigenschaften (§ 1 NemV): Sie

  • sollen die allgemeine Ernährung ergänzen,
  • sind Konzentrate von Nährstoffen (Vitaminen, Mineralstoffen einschließlich Spurenelementen) oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung allein oder in Zusammensetzung,
  • werden in dosierter Form, insbesondere in Form von Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen, Pulverbeuteln, Flüssigampullen, Flaschen mit Tropfeinsätzen und ähnlichen Darreichungsformen von Flüssigkeiten und Pulvern zur Aufnahme in abgemessenen kleinen Mengen in den Verkehr gebracht.

Allein durch die Darreichungsform wird die Nähe zum Arzneimittel bereits deutlich, auch wenn die Produkte als „Nahrungsergänzungsmittel“ gekennzeichnet werden und ansonsten die nach dem Lebensmittelrecht erforderlichen Angaben tragen müssen.

Was darf drin sein?

Welche Vitamine und Mineralstoffe als Zutaten in Nahrungsergänzungen verwendet werden dürfen, ist in den Anhängen der EU-Richtlinie 2002/46/EG bzw. den Anlagen der deutschen Verordnung über Nahrungsergänzungsmittel (NemV) detailliert geregelt. Zu den „sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung“, die in NEM ebenfalls enthalten sein dürfen, zählen Kategorien wie Aminosäuren, essenzielle Fettsäuren, Ballaststoffe und auch verschiedene Pflanzen und Kräuterextrakte. Diese sind bislang in Deutschland nicht im Detail definiert. Die EU macht hierzu keine Vorgaben, etwa in Form von Positivlisten, sondern überlässt die Regulierung den Mitgliedstaaten.

Stofflisten liefern Orientierung

Um hier mehr Transparenz zu schaffen und den Anbietern die richtige Zuordnung ihrer Produkte zu erleichtern, unterhalten das BVL und das BfArM seit dem Jahr 2013 eine unabhängige gemeinsame Expertenkommission zur Einstufung von Stoffen. Für die Kategorie „Pflanzen und Pflanzenteile“ hat die Kommission eine spezielle Stoffliste erarbeitet, die zwar nicht rechtsverbindlich ist, aber eine gewisse Orientierung bietet, ob eine Pflanze, besonders eine Arzneidroge, auch in einem Lebensmittel verwendet werden könnte/darf oder nicht. Die Liste hat derzeit rund 590 Einträge ­(Beispiele siehe Tab. 2) und wird fortlaufend erweitert. Bei einem konkreten Produkt muss dann gegebenenfalls immer noch die Aufmachung (Präsentation) mit betrachtet werden, um zu entscheiden, ob es ein Lebensmittel oder ein Arzneimittel ist.


Tab. 2: Beispiele aus der BVL-Stoffliste „Pflanzen und Pflanzenteile“
Stammpflanze
(lateinisch)
Stammpflanze
(deutsch)
Pflanzenteil
LM
NF
AS
Trad. AM
Liste A
Liste B
Liste C
Anethum graveolens L.
Dill
Frucht
x G
x
x
x
Equisetum arvense L., syn. Equisetum boreala (L.) BÖRNER, Allosites arvense BRONGN.
Ackerschachtelhalmkraut
Kraut
x T
x
x
x
Hydrastis canadensis L., syn. Warneria canadensis LILL., Warneria diphylla RAF.
Gelbwurz, kanadischer
Rhizom
x
x

LM: Lebensmittel, NF: Novel Food, AS: Arzneistoff, G: Verwendung als Gewürz bekannt, T: Verwendung als Tee bekannt

Liste A: Verwendung in Lebensmitteln nicht empfohlen

Liste B: Beschränkung bei der Verwendung in Lebensmitteln empfohlen

Liste C: mangels ausreichender Daten noch nicht abschließend beurteilbar

Das Korsett der „Health Claims-Verordnung“

Für Gesundheitsmittel wird oft mit besonders „blumigen“ und weitreichenden „Wirkversprechen“ geworben. Dabei sind die zulässigen gesundheitsbezogenen Angaben EU-weit streng reglementiert, und zwar durch die Verordnung über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (Health Claims-Verordnung, HCV). Die Verordnung ist seit dem 19. Januar 2007 in Kraft und seit Juli 2007 unmittelbar anwendbares Recht. Nach der Verordnung sind gesundheitsbezogene Angaben grundsätzlich verboten, sofern sie nicht deren Anforderungen entsprechen, gemäß der Verordnung zugelassen und in die Gemeinschaftsliste zulässiger gesundheitsbezogener Angaben aufgenommen wurden.

Die Liste der bisher verwendeten und weiterhin zulässigen funktionellen Wirkaussagen sollte bis spätestens 31. Januar 2010 durch die Europäische Kommission erstellt werden, und zwar in einem Prozess ähnlich der Nachzulassung bei den Arzneimitteln.

Fotos: Zirkulin
(Fast) identische Aufmachung. Es ist nur schwer zu erkennen, welches der beiden Propolis-Präparate ein Arzneimittel und welches ein Nahrungsergänzungsmittel ist. (Die Husten-Pastillen sind ein NEM, die Hals-Pastillen ein freiverkäufliches Arzneimittel.)

Die Spreu vom Weizen getrennt

Die Aufarbeitung bisher als „unzweifelhaft zulässigen Angaben“ erwies sich als Mammutaufgabe. Im Jahr 2008 übermittelten die Mitgliedstaaten etwa 44.000 gesundheitsbezogene Angaben, die die Kommission zu einer konsolidierten Liste von rund 4600 Angaben zusammengefasst hat. Sie wurden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) nach und nach geprüft. In der im Mai 2012 von der Europäischen Kommission genehmigten ersten Teilliste (Verordnung (EU) Nr. 432/2012) waren die als ausreichend belegt erachteten Claims schließlich auf nur noch 222 eingedampft, die knapp 500 Einträgen in der konsolidierten Liste entsprachen. Derzeit enthält die Liste 259 Einträge. Die meisten Zulassungen betreffen Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Nur sehr wenige beziehen sich auf die „sonstigen Stoffe mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung“.

Beispiele für zugelassene gesundheitsbezogene Angaben sind: „Eicosapentaensäure und Docosahexaensäure (EPA/DHA) tragen zu einer normalen Herzfunktion bei.“ Oder „Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei (nur für Lebensmittel mit mindestens 0,5 mg Melatonin je angegebene Portion).“

Abgelehnte Health Claims

Für andere Substanzen wurden die beantragten Health Claims (insgesamt mehr als 2000 claims) dagegen komplett abgelehnt, weil die EFSA auf Basis der vorgelegten Daten keine wissenschaftlich ausreichend gesicherte Ursache-Wirkungs-Beziehung ableiten konnte. Die positiven Wirkaussagen, die die entsprechenden Nahrungsergänzungsmittel über viele Jahre getragen haben, dürfen damit seit dem Geltungsbeginn der ersten Teilliste der genehmigten Health Claims bzw. ihrer Ergänzungen nicht mehr verwendet werden. Zu Beispielen siehe Tab. 3.


Tab. 3: Beispiele für nicht mehr zulässige gesundheitsbezogene Angaben für Stoffe / Stoffgruppen in Nahrungsergänzungsmitteln
Stoff/Stoffgruppe
Unzulässige Angabe
Aminosäuren
Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, Immunsystem, Blut­zirkulation
Ballaststoffe
Gewichtsmanagement, Sättigung, ­Darmfunktion
Kieselerde
Verbesserung von Haut, Haaren, Nägeln
L-Carnitin
Steigerung der Fettverbrennung, ­schnellere Regeneration nach sportlicher Betätigung
Glucosamin/ Chondroitin
Gelenkgesundheit
Lutein
Augengesundheit
Sojaisoflavone
Linderung der Wechseljahresbeschwerden
Cranberry
Blasengesundheit
Granatapfel
kardiovaskuläre Gesundheit, Senkung von Cholesterol- und Triglyceridspiegel

Quelle: Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des BVL (ALS). Stellungnahme Nr. 2015/31, April 2015

Detaillierte Informationen zu den zugelassenen und abgelehnten gesundheitsbezogenen Angaben finden sich im Unionsregister der nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmittel, eine interaktive Datenbank, die über die Website der Kommission zugänglich ist. (Geben Sie auf www.deutsche-apotheker-zeitung.de den Webcode L5CB5 in das Suchfeld ein, dann gelangen Sie direkt zu der interaktiven Datenbank).

Beurteilung der Botanicals in der Warteschleife

Die Überprüfung der gesundheitsbezogenen Aussagen (Health Claims), die sich auf Pflanzen und Pflanzenzubereitungen („Botanicals“) beziehen, wurde zunächst zurückgestellt. Sie ruht seit dem Jahr 2010, sehr zum Ärger der Hersteller der entsprechenden pflanzlichen Arzneimittel, denn für sie ist aus dieser Verzögerung ein erheblicher Wettbewerbsnachteil entstanden. Während sie ihre Indikationen über das Zulassungsverfahren belegen mussten, dürfen die Anbieter der Nahrungsergänzungen mit „Botanicals“ ihre Produkte nach den Übergangsbestimmungen weiter mit den bisherigen Claims in den Verkehr bringen, bis diese überprüft worden sind. Nun wird die Health Claims-Verordnung aber derzeit einem „Fitness-Check“ (REFIT) unterzogen. Dieser erstreckt sich schwerpunktmäßig auch darauf, ob die darin festgelegten Prüfkriterien für die gesundheitsbezogenen Angaben für „Botanicals“ überhaupt angemessen sind. Der Prozess zieht sich hin, eine unliebsame Warteschleife für die Konkurrenz im Arzneimittelsektor.

EU-Kommission hält sich bedeckt

Diesen Wettbewerbsnachteil, der den vornehmlich kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) aus der Untätigkeit der Kommission erwachsen ist, hat der EU-Abgeordnete Jens Gieseke Ende Oktober 2016 in einer Parlamentarischen Anfrage thematisiert und von Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis am 1. Dezember 2016 eine Antwort bekommen, die Arzneimittelhersteller zum jetzigen Zeitpunkt kaum zufriedenstellen dürfte. Darin heißt es, der Kommission sei das Problem bekannt und bewusst. Man werde sich im Rahmen der REFIT-Evaluierung der Health Claims-Verordnung auch mit den möglichen Auswirkungen der Verordnung auf den Handel mit pflanzlichen Arzneimitteln mit therapeutischen Indikationen befassen. Bezüglich der etwaigen Irreführung der Verbraucher durch die ungeprüften Angaben zu den „Botanicals“ wird auf die Verpflichtungen der Hersteller verwiesen. Nach dringendem Handlungs­bedarf klingt das nicht.

Rechtsrahmen für ergänzende bilanzierte Diäten

Neben den Nahrungsergänzungen präsentieren sich auch ergänzende bilanzierte Diäten als „Gesundheitsmittel“. Bilanzierte Diäten (Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, foods for special medical purposes, § 1 Abs. 4a ­DiätV) gehören rechtlich zu den „Speziallebensmitteln“, den früheren „diätetischen Lebensmitteln“ (dietetic food). Auf EU-Ebene wurde die Diätrahmenrichtlinie (EG) Nr. 2009/39/EG unlängst durch die neue Verordnung (EU) Nr. 609/2013 abgelöst, die seit dem 20. Juli 2016 in Kraft ist. Dabei wurde das Konzept der „diätetischen Lebensmittel“ durch Regelungen für „Lebensmittel für spezielle Verbrauchergruppen“ ersetzt. Substanziell hat sich dadurch für die Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke gegenüber dem bis dahin geltenden Recht nicht viel getan. Die Zweckbestimmung wurde allerdings in der deutschen Übersetzung geändert und die Angabe „zur diätetischen Behandlung“ durch „zum Diätmanagement“ ersetzt, da die vorherige Formulierung eine zu große Nähe zu Arznei­mitteln suggerierte.

Anforderungen an die Zusammensetzung und die Informationen zu Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke werden in der Delegierten Verordnung (EG) 2016/128 geregelt.

Nur für Patienten mit einer definierten Krankheit

Bilanzierte Diäten sind auf besondere Weise verarbeitet oder formuliert und ausschließlich zum Diätmanagement von Patienten mit einer klar bestimmten Krankheit bestimmt. Nur wenn die Krankheit kausal für den veränderten Nährstoffbedarf ist, ist dieser „medizinisch bedingt“.

Bilanzierte Diäten enthalten entweder Standard- oder für bestimmte Krankheiten oder Störungen angepasste Nährstoffformulierungen. Sie werden unterteilt in

  • vollständige bilanzierte Diäten (einzige Nahrungsquelle für die betreffenden Personen) oder
  • ergänzende bilanzierte Diäten (nicht als einzige Nahrungsquelle geeignet).

Beispiele sind komplette Standard-Formula-Diäten als Sondennahrung, bestimmte Ergänzungsnahrungen zur Behandlung bei Leberzell- oder Niereninsuffizienz oder phenylalaninfreie Proteinersatzpräparate zur Deckung des Eiweißbedarfs von Kindern mit Phenylketonurie. Solche Produkte sollen nur unter ärztlicher Aufsicht eingesetzt werden. Sie dürfen aber nicht der Behandlung einer Erkrankung im Sinne einer Medikation mit Arzneimitteln dienen, sondern können diese lediglich durch zusätzliche Ernährungsmaßnahmen unterstützen. Beispiele für unzulässige Angaben bei bilanzierten Diäten sind: „L-Arginin zur Herstellung des blutgefäßerweiternden Botenstoffs Stickstoffmonoxid (Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen)“ oder „Sägepalmenfrüchte zur Hemmung der Testosteron-Produktion (Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung)“.

„Hintertürchen“ für Gesundheitsmittel

Der gesunde Verbraucher wird demnach von der Begriffsdefinition der ergänzenden bilanzierten Diäten sicher nicht erfasst. Bestimmte Industriekreise haben jedoch in den letzten Jahren einen erheblichen „Erfindungsreichtum“ bewiesen, um diese trotzdem als Gesundheitsmittel im Markt zu platzieren, auch um damit die massiven Beschränkungen für gesundheitsbezogene Angaben gemäß der Health Claims-Verordnung zu umgehen. Bilanzierte Diäten dürfen zum Diätmanagement bei einer bestimmten Krankheit ausgelobt werden, allerdings nur mit den vorgenannten, klar umrissenen Einschränkungen. Formulierungen für unbestimmte Patientengruppen oder Krankheiten oder Zustände, die gar nicht als „Krankheit“ zu klassifizieren sind, sind hier nicht erlaubt. Entsprechende Produkte sind deshalb bezüglich ihrer Zweckbestimmung fragwürdig und vielfach eigentlich als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) oder als zulassungspflichtiges Arzneimittel einzustufen.

Um diese Grauzone im Markt zu beseitigen, wurden die Kennzeichnungsvorschriften für die Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Zuge der Novellierung des EU-Rechts verschärft. Sie werden in Zukunft keine gesundheitsbezogenen Angaben gemäß Health Claims-Verordnung mehr tragen dürfen, denn sie sind für Kranke bestimmt und nicht für Gesunde. Die entsprechende EU-Regelung (Verordnung (EG) 2016/128) gilt jedoch erst ab dem 22. Februar 2019.

Im September 2016 haben das BVL und das BfArM gemeinsam ein Positionspapier vorgestellt, das als Grundlage für die Beurteilung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke dienen soll, besonders im Hinblick auf die Abgrenzung zu Arzneimitteln. Basierend auf sieben charakteristischen Prüfungsmerkmalen und einem Entscheidungsbaum liefert das Dokument wertvolle Hilfestellungen zur Einordnung der Produkte und zum Herausfischen „schwarzer Schafe“, die zu Unrecht als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke daherkommen wollen.

Alles im selben Regal

Die Haupt-Leidtragenden der Intransparenz bei den Borderline-Produkten sind wohl die Verbraucher. Sie können die Produktkategorien kaum unterscheiden und gehen sicher vielfach davon aus, sie hätten ein geprüftes Arzneimittel vor sich, für das sie auch tiefer in die Tasche greifen würden. In Verbrauchermärkten werden Produkte aus verschiedenen Produktkategorien oft bunt gemischt angeboten. Hier finden sich freiverkäufliche Arzneimittel einschließlich traditioneller Phyto-Präparate, Nahrungsergänzungsmittel und Medizinprodukte häufig in ein und demselben Regal, das manchmal auch noch mit einem Schild „Arzneimittel“ versehen ist. Zum Teil gibt es ganze Regale der Kategorie „Arzneimittel“, die allesamt Nahrungsergänzungsmittel sind. Auch die Apotheke hat eine erhöhte Verantwortung in der Präsentation der Produkte, denn gerade hier haben die Kunden zu Recht eine besonders hohe Erwartungshaltung.

Foto: Angela Clausen, Verbraucherzentrale NRW
Durcheinander im Handel. Insbesondere in Drogerie- und Supermärkten werden freiverkäufliche Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel oft nebeneinander in einem Regal angeboten. Das erschwert die Unterscheidung.

Pflanzliche Borderline-Produkte im Binnenmarkt

Bereitet die Zuordnung einzelner Produkte schon innerhalb eines Landes Probleme, so wird die Lage im europäischen Binnenmarkt noch unübersichtlicher. Das Stoffrecht ist in der Europäischen Union noch nicht harmonisiert. Pflanzliche Erzeugnisse werden in den Mitgliedstaaten auf unterschiedliche Weise in den Verkehr gebracht. Auch die Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln wird unterschiedlich gehandhabt. Deutschland verfolgt in der EU einen vergleichsweise rigiden Ansatz und will die Produkte eher im Arzneimittelbereich sehen. Hierzulande gibt es mit Abstand die meisten Arzneimittelzulassungen für Phyto-Präparate auf Basis des well-established use mit bibliografisch belegten Indikationen. In anderen Ländern wie Großbritannien wird pflanzlichen Präparaten im Regelfall „nur“ eine traditionelle Anwendung zugestanden und in Italien nicht einmal der Arzneimittelstatus. Der freie Warenverkehr mit solchen Nahrungsergänzungen, der in erheblichem Maße auch über den Internethandel abläuft, macht aber an den Ländergrenzen nicht halt, auch wenn sie im Importland als Arzneimittel eingestuft werden und deswegen ohne besondere Genehmigung illegal in Verkehr sind. Eine Harmonisierung auf diesem Gebiet ist derzeit jedoch nicht vorgesehen. Die Anlaufstelle für strittige Abgrenzungsfragen in der „letzten Instanz“ ist der Europäische Gerichtshof. In der Tat hat sich der EuGH bereits vielfach mit solchen Problemfällen auseinandersetzen müssen. |

Literatur

Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.10.2013

Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch - LFGB) in der Fassung vom 7. August 2013

Verordnung über diätetische Lebensmittel (Diätverordnung – DiätV) in der Fassung vom 25. Februar 2014

Verordnung über Nahrungsergänzungsmittel (Nahrungsergänzungsmittelverordnung - NemV) in der Fassung vom 23. Oktober 2013

Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. BLL, www.bll.de.

Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 10. Juni 2002 über die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel. ABl. EG Nr. L 183, 51 vom 12.7.2002

Verordnung (EG) NR. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheits­bezogene Angaben über Lebensmittel. ABl. EU Nr. L 404/9 vom 30.12.2006

Verordnung (EU) Nr. 432/2012 der Kommission vom 16. Mai 2012 zur Festlegung einer Liste zulässiger anderer gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos sowie die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern. ABl. EU Nr. L 136/1 vom 25.5.2012

Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 des Rates und der Kommission. ABl. EU Nr. L 181, 35 vom 29.6.2013

Delegierte Verordnung (EU) 2016/128 der Kommission vom 25. September 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die besonderen Zusammensetzungs- und Informationsanforderungen für Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. ABl. EU L 25, 30 vom 2.2.2016

Stellungnahme Nr. 2015/31: Nahrungsergänzungsmittel mit sonstigen Stoffen im Regelungsbereich von NemV, HCV und LMIV, erarbeitet durch die ALS-Arbeitsgruppe „Diätetische Lebensmittel, Ernährungs- und Abgrenzungsfragen“. Verabschiedet vom Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des BVL (ALS) auf der 105. Sitzung am 14. und 15. April 2015

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Stoffliste des Bundes und der Bundesländer, Kategorie „Pflanzen- und Pflanzenteile“. BVL-Report 8.4, 2014

Positionspapier des BVL und des BfArM. Charakterisierung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke (bilanzierten Diäten). 12. September 2016

Autorin

Dr. Helga Blasius ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation, Dipl.-Übersetzerin (Japanisch, Koreanisch) und regelmäßige Autorin der DAZ.

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2 Kommentare

Antwort der Autorin

von Helga Blasius am 24.01.2017 um 13:54 Uhr

Es trifft zu, dass dieser Health Claim für Melatonin in der angegebenen Dosierung nach der HCV zulässig ist.
Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die für die EU zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben sich auf Lebensmittel beziehen. Der Lebensmittelstatus ist also die zwingende Voraussetzung für die Verwendung des Claims.
Die Verordnung macht jedoch keine Aussage über den Status von Melatonin als Arznei-oder Lebensmittel.
Dieses festzulegen, liegt im Benehmen der Mitgliedstaaten.
In den Ländern, in denen Melatonin lebensmitteltauglich ist, ist der Claim zulässig. In Deutschland ist Melatonin ein rezeptpflichtiges Arzneimittel. Deswegen ist die Zulässigkeit des Claims hierzulande nicht anwendbar.
Das heißt, wie Sie zu Recht sagen, dass ein Melatonin-haltiges NEM in Deutschland illegal wäre.

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Zugelassener Health Claim von Melatonin in Lebensmitteln

von Jan Ahrens am 24.01.2017 um 11:10 Uhr

Laut Scribas-Tabelle (106.Auflage 2016) ist
Melatonin nach wie vor, unabhängig vom Gehalt ,
ein verschreibungspflichtiger Arzneistoff. Daher ist nach
meinem Dafürhalten die Abgabe eines melatoninhaltigen
Nahrungsergänzungsmittels wie z.B. Pure Encapsulation
Schlaf-Formel Kapseln etc. in Deutschland illegal.
Oder schlägt hier das EU-Recht deutsches Recht ?
Leider kann mir ihr Artikel in dieser Frage die Rechtsunsicherheit nicht nehmen.
MfG Jan Ahrens

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