Die Lücke schließen

Wirksame und weniger wirksame Therapien bei androgenetischer Alopezie

Von Ralf Schlenger | Etwa jeder zweite Mann ist von erblich bedingtem Haarausfall betroffen. So groß wie der Leidensdruck ist die Nachfrage nach haarwuchsfördernden Mitteln. Doch die wenigsten halten, was sie versprechen. Die Apotheke als wichtige Anlaufstelle hat es in der Hand, dem Kunden fundierte Informationen zu geben, eine wirksame Behandlung anzubieten und zu begleiten. Denn die Therapie muss langfristig angelegt sein, und wissenschaftlich gut belegte Wirkstoffe gegen androgenetische Alopezie sind nur in der Apotheke erhältlich.

Die Lücke schließen

Dass Haarschwund für viele Männer die Dimension einer Krankheit annimmt, davon zeugen Internetforen. Beispielsweise berichtet ein Betroffener seinen Leidensgenossen von dieser Multimedikation:

1/4 Proscar®

1 x 5 mg Biotin®

1 x 5 mg Zink

300 mg Vitamin C

2 x Kieselerde® Forte

1 x Ginkgo

1 x Eunova®

1 x abends Kirkland Minox®

morgens Regain® Foam

täglich fünf Tassen Grüntee.

Nicht jeder nimmt einen solchen Aufwand auf sich. Bei vielen Betroffenen ist die Diskrepanz spürbar zwischen dem Wunsch, den Haarschwund zu stoppen, und der Bereitschaft für eine langfristige konsequente Therapie. Werblich geschürte überzogene Erwartungen, die geringe Wirksamkeit vieler Produkte und/oder schlechte Verträglichkeit ziehen dann Enttäuschungen nach sich. Für die Beratung in der Apotheke tut sich ein weites Feld auf. Tatsache ist, dass die wenigsten Mittel gegen Haarausfall halten, was sie versprechen. Wissenschaftlich gut dokumentiert sind lediglich die systemische Therapie mit Finasterid 1 mg Tabletten bei Männern (Propecia® und verschiedene Generika) sowie die topische Therapie mit Minoxidil-Lösung. Die Apotheke kann also mindestens eine rezeptfreie Therapie anbieten und begleiten, die evidenzbasiert und erfolgversprechend ist. Die Beratung sollte immer beinhalten, dass es sich um eine Dauertherapie handelt und der „Kahlschlag“ bei Therapiepausen weitergeht. Bei unklarem Haarausfall oder Kopfhautentzündungen sollte der Kunde zur Abklärung zu einem spezialisierten Arzt – in der Regel einem Dermatologen – gehen.

Kahlauer

"Therapieziel ist es, den Befund von heute zu erhalten; wenn Haare nachwachsen, ist es ein Geschenk."

Prof. Dr. Hans Wolff, Dermatologe, München

Ursache und Verlauf sind erblich vorbestimmt

Der androgenetischen Alopezie (AGA) liegen genetische Polymorphismen des Androgenrezeptors zugrunde. Er ist auf dem X-Chromosom kodiert, weshalb Männer die erbliche Prägung zur AGA von der Mutter erhalten. In einem genetisch bestimmten Lebensalter entwickeln bestimmte Kopfhaarfollikel eine Überempfindlichkeit gegenüber normalen Mengen an Testosteron und Dihydrotestosteron (DHT). Die Follikel schrumpfen, die Wachstumsphase (Anagenphase) des Haares wird kürzer, die terminalen Haare miniaturisieren zu Vellus-Haaren. Sieben Stadien der androgenetischen Alopezie werden unterschieden (Hamilton-Norwood I bis VII). Zunächst stellen sich die „Geheimratsecken“ ein, später lichten sich die Haare am Oberkopf, das Endstadium besteht in der Glatze mit Haarkranz am Hinterkopf – denn nur Haarfollikel im unteren Okzipitalbereich bleiben von dem Geschehen verschont. Neun von zehn betroffenen Männern weisen dieses „male pattern“ der androgenetischen Alopezie auf. Die Diagnose ist aufgrund des klinischen Erscheinungsbildes meist einfach. Gegebenenfalls kann eine Haarwurzelanalyse (Trichogramm) eine sich ausbildende Alopezie bestätigen. Je früher der Prozess sichtbar wird und je schneller er fortschreitet, umso ausgeprägter ist der am Ende zu erwartende Haarschwund. Bei jahrzehntealten Spiegelglatzen kommen alle haarwuchsfördernden Maßnahmen zu spät.

Wirksame Arzneimittel bei AGA

Eine 2011 im Journal der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft publizierte S3-Leitlinie für die Behandlung der androgenetischen Alopezie bei Männern und Frauen vergleicht und bewertet alle aktuellen Therapieoptionen: Minoxidil, 5α-Reduktase-Inhibitoren, Hormone, sonstige Substanzen und operative Eingriffe. Finasterid 1 mg Tabletten sind wirksam und zugelassen für frühe Stadien der androgenetischen Alopezie bei Männern im Alter von 18 bis 41 Jahren. Finasterid blockiert die 5α-Reduktase, welche die Umwandlung von Testosteron in das wirksamere Dihydrotestosteron katalysiert. Die Substanz hemmt die in den Haarfollikeln wirksame Typ-II-5α-Reduktase 100-fach selektiver als die periphere Typ-I-5α-Reduktase. Bei täglicher Einnahme von einem Milligramm Finasterid sinkt der Serum-DHT-Spiegel um ewa 70%. Die klinische Wirksamkeit von Finasterid 1 mg Tabletten wurde in drei Studien an über 1800 Männern zwischen 18 und 41 Jahren mit einem leichten bis mittelgradigen, aber nicht vollständigen Haarausfall im Vertexbereich und im frontalen/mittleren Bereich gezeigt. Verbesserungen zeigten sich im Vergleich zum Ausgangswert und zu Placebo nach drei bis sechs Monaten und waren nach rund zwei Jahren am größten. In den zwei Studien mit Haarausfall im Vertexbereich wurde die Behandlung über einen Zeitraum von fünf Jahren fortgesetzt, was bei 90 % der Männer zu einer Stabilisierung des Haarausfalls führte. Eine Wirksamkeit beim bitemporalen Zurückweichen des Haaransatzes (Geheimratsecken) und beim Haarverlust im Endstadium wurde nicht nachgewiesen.

Das Ansprechen auf die Behandlung sollte gemäß der S3-Leitlinie nach sechs Monaten beurteilt werden. Um den gewünschten Effekt zu erhalten, ist eine kontinuierliche Anwendung erforderlich, andernfalls kehrt innerhalb von neun bis zwölf Monaten der Ausgangszustand zurück. Verbesserungen gegenüber Placebo wurden auch in einer Studie mit der Gabe von 0,2 mg Finasterid täglich beobachtet. Für eine topische Anwendung von Finasterid fehlt die Evidenz.

Nebenwirkungen der Therapie mit 1 mg Finasterid wie Brustwachstum (Gynäkomastie) sind selten. Bei ein bis zwei Prozent der Behandelten kommt es zur Abschwächung von Libido und Potenz. Statistisch nicht relevant, die Patienten jedoch beunruhigend, sind Berichte über eingeschränkte Fertilität und das Auftreten von Mammakarzinomen. Für das Prostata-Ca-Screening ist bedeutsam, dass die Behandlung den PSA-Wert etwa halbiert.

Wachstum fördern mit Minoxidil

Ebenfalls sicher belegt – und rezeptfrei – ist bei androgenetischer Alopezie die topische Anwendung von Minoxidil. Fünfprozentige Lösung (Regaine® Männer, Alopexy® 5% Lösung) bzw. Schaum (Regaine® Männer Schaum) sind zugelassen zur Stabilisierung des Verlaufs der androgenetischen Alopezie bei Männern im Alter von 18 bis 49 Jahren. Die Fachinformationen schränken ein, dass die Wirkung individuell unterschiedlich ist und nicht vorhersagbar ist. Bei zweimal täglicher Anwendung kann eine der Finasterid-Therapie mindestens ebenbürtige Erfolgsrate erwartet werden. Allerdings stellen sich sichtbare Effekte unter Minoxidil oft schon nach zwei bis vier Monaten ein. Eine kontinuierliche Behandlung ist erforderlich. Nach vier Monaten ohne Erfolg ist die Behandlung laut Fachinformation zu beenden; die S3-Leitlinie rät zum Abwarten der ersten sechs Monate.

Als Wirkmechanismus der als orales Antihypertonikum entwickelten Substanz werden unter anderem eine Verbesserung der Mikrozirkulation am Haarfollikel und die vermehrte Expression von Wachstumsfaktoren vermutet. Minoxidil verkürzt die Ruhephase (Telogenphase) des Haarzyklus, der Haarfollikel geht früher wieder in die Wachstumsphase (Anagenphase) über. Der Kunde sollte informiert werden, dass in den ersten Wochen vermehrt Haare ausfallen können („shedding“) – die aber verstärkt nachwachsen. Er sollte auch wissen, dass alkoholische Lösungen von Minoxidil zu lokalen Hautreizungen führen können. Gegebenenfalls kann auf die einfach anzuwendende Schaum-Zubereitung ausgewichen werden. Systemische Nebenwirkungen treten bei sachgemäßer Anwendung auf gesunder Kopfhaut nicht auf. Die gleichzeitige Anwendung von oralem Finasterid und lokalem Minoxidil ist möglich, plausibel und steigert den Gesamteffekt.

Arzneimittel mit wenig belegter Wirkung

Nach Expertenkonsens sind alle anderen verfügbaren Präparate gegen Haarausfall außer Finasterid und Minoxidil nicht hinlänglich auf Wirksamkeit geprüft oder wurden als nicht ausreichend wirksam befunden. Unzureichende Evidenz bedeutet indes nicht zwingend fehlende Wirksamkeit. Daher sollen weitere Mittel mit Marktbedeutung kurz besprochen werden, auf die viele Männer Hoffnungen setzen.

Topische Lösungen mit Alfatradiol (Ell-Cranell® alpha, Pantostin®) sind für Männer und Frauen zugelassen zur Steigerung der verminderten Anagenhaar-Rate bei der leichten androgenetischen Alopezie. Alfatradiol (17α-Estradiol) besitzt nur einen Bruchteil der hormonellen Wirkung seines Stereoisomers, des Sexualhormons 17β-Estradiol, und ist nicht verschreibungspflichtig. In vitro antagonisiert Alfatradiol die hemmende Wirkung der Androgene am Haarfollikel, vermutlich über eine Hemmung der 5α-Reduktase. Die alkoholischen Zubereitungen können die Kopfhaut kurzfristig mit Brennen, Rötung und Juckreiz irritieren. Die S3-Leitlinie bewertet die Evidenz für Alfatradiol zur Verbesserung des Befundes oder zum Verhindern der Progression bei AGA als unzureichend. In einer Vergleichsstudie mit 2%iger Minoxidil-Lösung führte nur Minoxidil zu einer erhöhten Gesamthaarzahl, Alfatradiol 0,025% hingegen zu einer Abnahme.

Auch der topische Gebrauch anderer hormonell wirksamer Stoffe wie Fluridil (ein Antiandrogen) und Fulvestrant (ein Antiestrogen) wird mangels Evidenz nicht empfohlen. In peroraler Darreichung kommen Estrogene oder Antiandrogene bei Männern ohnehin nicht infrage. Glucocorticoide wie Flupredniden-21-acetat und Prednisolon hemmen als Einreibung Entzündungen der Kopfhaut. Sie sollen außerdem die Bindungsstellen der Androgene an den Haarwurzeln blockieren. Als Wirkprinzip lokaler Estrogene werden eine Hemmung der 5α-Reduktase und eine kompetitive Hemmung von Androgenrezeptoren diskutiert. Als verschreibungspflichtiges Arzneimittel ist eine Kombination aus Prednisolon mit Estradiolbenzoat und Salicylsäure (Alpicort® F Lösung) auf dem Markt. Sie soll bei gering ausgeprägten entzündlichen Erkrankungen der Kopfhaut die Telogen-Rrate der Kopfhaare senken und die Haardichte erhöhen. Die klinische Wirksamkeit ist noch nicht ausreichend belegt. Dasselbe gilt für ein Arzneimittel aus B-Vitaminen, Trockenhefe, Cystin und Keratin (Pantovigar®). Es wird traditionell angewendet bei diffusem Haarausfall unspezifischer Ursache, also eigentlich nicht bei AGA. Eine kleine Studie mit 60 Frauen zeigte einen positiven Effekt auf die Anagenphase des Haares.

Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel

Sie dürfen schon per definitionem nicht „gegen Haarausfall“ wirken. Die Nichtarzneimittel warten mit verschiedensten Inhaltsstoffen auf, für die eine Reihe von Mechanismen reklamiert wird. So sollen

  • Aminosäuren, Eisen, Kieselsäure, Ginkgo-, Aloe- und Sophora-Extrakte, Coffein und Melatonin den Energiestoffwechsel und das Nachwachsen der Haare fördern,
  • Prostaglandine, Aminexil und Nicotinsäurederivate die Vaskularisierung der Follikel steigern,
  • Sägepalmenextrakt, Beta-Sitosterol, Grüner Tee und die Traubensilberkerze (Cimicifuga) die 5α-Reduktase hemmen und
  • Vitamine (Biotin, Nicotinsäure-Derivate) und Spurenelemente (Zink, Kupfer) die Ernährung des Haars verbessern.

Gemeinsam ist den Produkten der fehlende wissenschaftliche Beleg eines Nutzens bei androgenetischer Alopezie.

Ultima ratio: Operation

Bei Männern mit weiter fortgeschrittenem Haarausfall kommt auch eine Eigenhaartransplantation infrage. Dabei werden unter örtlicher Betäubung Haare vom Hinterkopf entnommen und nach vorne transplantiert. Der kostenträchtige Eingriff muss jedoch von einem erfahrenen Spezialisten ausgeführt werden, sonst können die Ergebnisse unbefriedigend sein. 

Quelle

Blumeyer et al. Evidence-based (S3) guideline for the treatment of androgenetic alopecia in women and in men. JDDG 2011;9:1–57

Mittel gegen Haarausfall. Ökotest Jahrbuch Kosmetik und Wellness 2011

Haarausfall: Medikamente im Test, Stiftung Warentest 5/2014

Interdisziplinäres Management der androgenetischen Alopezie. Stellungnahme der Gesellschaft für Dermopharmazie (GD) vom 22. März 2010: www.dermotopics.de/german/ausgabe1_10_d/GDstellungnahmealopiezie1_10_d.html

Interdisziplinäres Management der androgenetischen Alopezie: Seminar der Johnson & Johnson GmbH, Neuss, 14. Jahrestagung der GD (2010)

 

Autor


Ralf Schlenger, Apotheker, studierte Pharmazie, Soziologie, Musikwissenschaft und Journalistik. Er arbeitet als freier Autor und Medizinjournalist in München.

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