Holpriger Rückruf

Grippeimpfstoffe: Chaos hält an

Berlin - 26.10.2012, 16:23 Uhr


Nach dem Rückruf von fünf Grippeimpfstoff-Chargen der Firma Novartis Vaccines hat das Bundesgesundheitsministerium ein Treffen mit Vertretern des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), der Krankenkassen und Hersteller angeregt. Dieses soll Anfang kommender Woche stattfinden. In Hamburg wollen sich am Montag Vertreter der Apotheker, Ärzte, Krankenkassen und der Landesbehörde treffen, um ein weiteres Vorgehen abzustimmen. Derweil bleiben die Umstände chaotisch – Kassen und Hersteller schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu.

Das PEI hatte gestern Nachmittag die Freigabe der fünf Chargen zurückgenommen. Doch es hat heute seine Zeit gedauert, bis der offizielle Rückruf der betroffenen Begripal- und Fluad-Chargen durch Novartis erfolgte. Großhandel und die Arzneimittelkommission der Apothekerschaft mussten Geduld beweisen; ebenso die Aufsichtsbehörde, die den Rückruftext bereits vor dem Mittag freigegeben hatte. Doch nun soll der Rückruf von Novartis veranlasst sein. Rund 750.000 Impfdosen des Schweizer Weltkonzerns sind betroffen. Unklar ist, wie viele davon bereits verimpft wurden und wie viele noch in Apotheken und im Großhandel vorhanden sind.

Vorbei ist der Spuk damit noch lange nicht. Ärzte- und Pharmaverbände übten erneut Kritik. Henning Fahrenkamp, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie, erklärte, die derzeit auftretenden Probleme bei Grippe-Impfstoffen seien „das Ergebnis einer verfehlten Kassenpolitik“: „Der Versuch, durch Ausschreibungen die Kosten zu minimieren, geht wieder einmal zulasten der Versorgung der Versicherten“. Den pharmazeutischen Unternehmen seien in einer solchen Situation die Hände gebunden. Wer bei der Ausschreibung nicht zum Zuge gekommen ist, müsse die Produktionen drosseln. Doch den Krankenkassen müsse klar sein, dass es gerade bei der schwierigen Impfstoffherstellung  immer zu Problemen kommen könne, so Fahrenkamp.

Regina Feldmann vom Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wandte sich eher an die Adresse der Impfstoffhersteller: Einzelne von ihnen seien sich offenbar ihrer Verantwortung für die Bevölkerung nicht bewusst. Mit Sorge betrachte sie zudem, „dass alle Anstrengungen von Politik und Ärzten behindert werden, den Präventionsgedanken bei den Bürgern zu verankern“. Die derzeitige Situation verunsichere die Menschen nur und halte sie von der notwendigen Grippeschutzimpfung fern, so Feldmann.

Die Kassen ihrerseits weisen alle Kritik von sich: „Wer genau hinschaut, erkennt, dass es sich hier um Probleme der Pharmaindustrie handelt und nicht um ein Problem der Krankenkassen“, sagte der Sprecher des GKV-Spitzenverbandes, Florian Lanz, der dpa. „Mit reflexhaften Schuldzuweisungen werden die Herausforderungen nicht gemeistert.“ 

Eine sehr interessante Argumentation hat man auch bei der AOK parat: Ausschreibungen regionaler Exklusivverträge hätten den Wettbewerb gefördert und dazu geführt, „dass die Firma Novartis nur in zwei deutschen Regionen den Zuschlag für exklusive Belieferung mit Grippeimpfstoffen erhalten hat.“ Man kann also von Glück sprechen. Denn, weil andernorts andere Hersteller bezuschlagt wurden, konnten „die Lieferschwierigkeiten und Qualitätsprobleme von Novartis nicht in ganz Deutschland zu Problemen bei der Impfstoffversorgung führen“, zitiert die dpa einen Sprecher. Die Kritik an den Verträgen sei also irreführend. Das Management von Novartis müsse nun Handlungsfähigkeit zeigen. „Es darf sich nicht weiter der Verantwortung entziehen und wegducken“.

Immerhin: Seit knapp sieben Wochen berichtet DAZ.online über die Novartis-Lieferschwierigkeiten. Heute gab das Unternehmen seine erste offizielle Presseerklärung heraus: Novartis arbeite zur Klärung der Situation eng mit den Gesundheitsbehörden zusammen, heißt es darin. Man habe den Gesundheitsbehörden inzwischen Gutachten zur Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit der betroffenen, in Italien hergestellten Impfstoffe vorgelegt. Die festgestellten Eiweißpartikel könnten bei der Impfstoffherstellung auftreten, ohne dass dadurch die Sicherheit oder die Wirksamkeit des Impfstoffes beeinträchtigt werde, so das Unternehmen. Und: „Die Sicherheit der Patienten hat oberste Priorität für Novartis“.

Was nun eigentlich los ist im Impfstoffwerk im italienischen Siena bleibt weiterhin ein Rätsel. Bei einem Gespräch mit dem italienischen Gesundheitsminister räumten Vertreter von Novartis jedoch immerhin ein, erst gar nicht und dann nur unvollständig über Kontrollen ihrer Produktion informiert zu haben. Die Mailänder Zeitung „Corriere della Sera“ schrieb heute, Novartis „wusste von den Anomalien in einigen Dosen seit dem 11. Juli".


Kirsten Sucker-Sket/dpa