Compassionate Use

Im Härtefall auch ohne Zulassung

Stuttgart - 04.04.2016, 08:45 Uhr

Wenn die Zeit knapp ist: Härtefallprogramme erlauben unter bestimmten Umständen, Arzneimittel ohne Zulassung zugänglich zu machen (Foto:  Giulio_Fornasar / Fotolia)

Wenn die Zeit knapp ist: Härtefallprogramme erlauben unter bestimmten Umständen, Arzneimittel ohne Zulassung zugänglich zu machen (Foto: Giulio_Fornasar / Fotolia)


Bis ein neu entwickelter Wirkstoff in der Apotheke zu haben ist, vergeht viel Zeit. Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität müssen nachgewiesen werden. Unter bestimmten Umständen können Patienten Arzneimittel aber schon vor der Zulassung erhalten – im Rahmen eines Härtefall-Programms.

Die zehnjährige Hannah leidet an Kinderdemenz. Über ihr Schicksal wurde vor kurzem in vielen Medien berichtet. NCL2 lautet der medizinische Fachbegriff für ihre Erkrankung. NCL steht für Neuronale Ceroid-Lipofuszinosen. Das sind die häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. Sie werden autosomal rezessiv vererbt. Die unterschiedlichen Formen werden historisch nach ihrem Krankheitsbeginn unterschieden. Im Krankheitsbild ähneln sie sich aber sehr: Es kommt zu geistigem Abbau, Erblindung, Bewegungsstörungen und epileptischen Anfällen.

Die NCL zählen zu den Speicherkrankheiten, da sich Speicherung von wachsartigem Ceroid-Lipofuszin in allen Geweben des Körpers nachweisen lässt. Warum nur Nervenzellen davon merklich beeinträchtigt werden und nach und nach absterben, ist bislang nicht bekannt. Die Tatsache, dass man der genaue Pathomechanismus noch nicht aufgeklärt werden konnte, erschwert die Suche nach möglichen Therapien.

Es existiert aber ein Medikament namens BMN 190. Es soll bewirken, dass die Krankheit langsamer voranschreitet oder sich sogar stabilisiert. In Studien hat es sich als wirksam erwiesent. Bei 20 der 23 Kinder, die ein Jahr lang behandlelt wurden, schritt die Krankheit  langsamer voran, 15 Patienten stabilisierten sich. BMN 190 ist allerdings noch nicht zugelassen.

Der Hersteller wolle es nicht herausgeben, ist unter anderem in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Die Entscheidung, ob eine Firma ein Medikament herausgibt, könne sie derzeit ganz allein fällen, heißt es weiter. Aber ist das tatsächlich so einfach?

Arzneimittel-Härtefall-Verordnung

In Europa müssen viele Auflagen erfüllt werden, bevor ein neuer Wirkstoff zugelassen wird. In klinischen Studien muss die Wirksamkeit, die Unbedenklichkeit und die pharmazeutische Qualität des Arzneimittels belegt werden. Das dauert Jahre. Für manche Menschen, die an einer schweren Krankheit leiden, vielleicht zu lang. Möglicherweise auch für Hannah.

Es gibt aber tatsächlich die Möglichkeit, jenseits von klinischen Studien lebensrettende Medikamente zur Verfügung zu stellen, auch wenn sie noch nicht zugelassen sind. Und zwar im Rahmen eines sogenannten Härtefallprogramms „Compassionate Use“, was so viel wie „Anwendung aus Mitgefühl“ bedeutet. Die Regelungen dafür sind in jedem Staat anders.

In Deutschland wurde der „Compassionate Use“ im 14. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz in das deutsche Arzneimittelrecht aufgenommen. Die „Verordnung über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ohne Genehmigung oder ohne Zulassung in Härtefällen“  (Arzneimittel-Härtefall-Verordnung – AMHV) ist zum 22. Juli 2010 in Kraft getreten.

Seitdem kann ein nicht zugelassenes Arzneimittel Patienten zur Verfügung gestellt werden, die an einer Erkrankung leiden, die zu einer schweren Behinderung führt oder lebensbedrohend ist – und die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden können,

Der Hersteller entscheidet

Dies stellte die Zulässigkeit einer Behandlung mit nicht zugelassenen Medikamenten auf rechtlich sichere Beine. Zuvor war dies nur auf Basis des rechtlich unsicheren § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) möglich.

Das BfArM stellt auf seiner Website ein Entscheidungsdiagramm zur Verfügung, aus dem sich ablesen lässt, ob die Voraussetzungen der Arzneimittel-Härtefall-Verordnung vorliegen. So darf beispielswiese keine Möglichkeit bestehen, in eine klinische Studie eingeschlossen zu werden.

Doch die Entscheidung, das Arzneimittel im Rahmen eines Compassionate Use dann auch zur Verfügung zu stellen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, kann der Hersteller dann tatsächlich ganz allein treffen. In Deutschland wird relativ selten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. 14 Programme laufen derzeit, in Frankreich sind es mehr als zehnmal so viele. Dort übernehmen allerdings die Krankenkassen die Kosten, in Deutschland muss die Firma das Mittel kostenlos zur Verfügung stellen.

Laut Süddeutscher Zeitung hat die kalifornische Firma Biomarin, die das von Hannah benötigte Mittel herstellt, einen Compassionate Use nicht geplant – trotz massivem öffentlichen Druck. Man sorge sich, ist in der SZ zu lesen, dass ein Härtefallprogramm die Zulassung des Medikaments aufhalten könne. Wenn dabei etwas schiefgeht, gefährde das den Zugang für Patienten in der ganzen Welt. 

Die Firma wolle demnächst die Zulassung beantragen. Man hoffe, dass diese dann Anfang 2017 erteilt werde, heißt es weiter. Lediglich die Möglichkeit eines „Early Access“ ab dem dritten Quartal 2016 stellt Biomarin vage in Aussicht.


Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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