„Pharmacy First“ als Vorbild

Was können Apotheken in Deutschland aus Großbritannien lernen?

Berlin - 29.11.2024, 07:00 Uhr

Eine Apotheke in England. Patienten können hier seit diesem Jahr bei leichten Erkrankungen behandelt werden. (Foto: IMAGO/Depositphotos)

Eine Apotheke in England. Patienten können hier seit diesem Jahr bei leichten Erkrankungen behandelt werden. (Foto: IMAGO/Depositphotos)


Die Apothekerschaft sucht nach dem Ampel-Aus nach neuen Perspektiven für ihre Zukunfts­sicherung. Dabei macht das Schlagwort „Pharmacy First“ die Runde. Der Begriff verweist auf das Gesundheitswesen im Vereinigten Königreich. Was versteht man dort darunter?

Im Vereinigten Königreich hatten sich schon vor einigen Jahren zunächst in den Regionen Wales, Schottland und Nordirland erweiterte Versorgungs­angebote in Apotheken etabliert, um gerade in dünn besiedelten Regionen Engpässen bei der Gesundheitsver­sorgung entgegenzuwirken. In Nord­irland hatte man bereits seit 2005 erste Erfahrungen bei der Direkt­behandlung leichter Erkrankungen in Apotheken sammeln können. In Wales und Schottland ist dies seit 2020 möglich.

Seit Februar dieses Jahres bietet auch der Nationale Gesundheitsdienst in England (NHSE) die Behandlung von leichten Krankheitsbildern im Rahmen des Pharmacy-First-Programms an. Die Pläne für die Einführung der Direktbehandlung in Apotheken in England wurden im Jahr 2019 formuliert. Ursprünglich hatte man sich zum Ziel gesetzt, dadurch die Zahl der Hausarztbesuche um etwa 20 Millionen pro Jahr zu reduzieren.

Schwieriger Start für Pharmacy First in England

Was sieht das Programm vor? Bei Sinusitis, Halsschmerzen, Ohrenschmerzen, infizierten Insektenstichen, Gürtelrose, Hautausschlag und Harnwegsinfekten bei Frauen unter 65 Jahren ist eine Direktbehandlung in Apotheken möglich. Der NHSE ging zum Start des Programms davon aus, dass sich etwa 90 Prozent der Apotheken Englands daran beteiligen würden.

Teilnehmende Apotheken erhalten zunächst pauschal 2000 Britische Pfund (2400 Euro). Pro Beratungsgespräch können 15 Pfund (18 Euro) beim NHSE abgerechnet werden. Zudem bekommen Apotheken, die eine bestimmte Mindestanzahl an monatlichen Pharmacy-First-Konsultationen nachweisen, weitere 1000 Pfund (1200 Euro) im Monat. Insgesamt hatte der NHSE 645 Millionen Pfund (772 Millionen Euro) für das Programm zur Verfügung gestellt.

Bereits kurz nach dem Start des neuen Angebots in England wurde in einer Umfrage der National Pharmacy Association (NPA) deutlich, dass die Umsetzung mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist. Mehr als 31 Prozent der befragten Apotheker sagten demnach, die neuen Angebote seien schwieriger zu implementieren als erwartet. 70 Prozent fühlten sich durch den neuen Dienst zusätzlich unter Druck gesetzt. Auch der NPA-Vorsitzende Nick Kaye bestätigte gegenüber dem Fachportal chemistanddruggist.co.uk (C+D), dass es Schwierigkeiten bei der Einführung gegeben hatte. Weiterhin mache eine prekäre finanzielle Lage vielen Apotheken zu schaffen. Auch technische Probleme bei der Inter­aktion mit den IT-Systemen der Arztpraxen erschwerten die Einführung von Pharmacy First. England kämpft weiterhin mit einem sich beschleunigenden Apothekensterben. In diesem Jahr könnte die Apothekenzahl erstmals seit 2005 unter den Wert von 10.000 sinken. Laut dem Geschäftsführer der NPA, Paul Rees, ist das Pharmacy-First-Programm unzureichend finanziert. Zudem sei es überstürzt eingeführt worden.

Zu wenige Behandlungen

Bereits im April wurde deutlich, dass viele Apotheken nicht die notwendige Mindestschwelle an Pharmacy-First-Konsultationen erreichen, um an die zusätzliche monatliche Extra-Förderung in Höhe von 1000 Pfund zu gelangen. Zunächst lag diese Mindestschwelle bei fünf Konsultationen im Monat. Im April unterschritten laut C+D 13 Prozent der teilnehmenden Apotheken diesen Wert.

Schrittweise sollte der Schwellenwert angehoben werden, ursprünglich sollte er bis Oktober auf 30 Beratungen pro Monat steigen. Nach zahlreicher Kritik wurde die Schwellenwerterhöhung mehrfach verschoben. Schon im April gaben viele Apotheker an, dass die anvisierten Grenzen für sie nicht erreichbar seien. Demnach gab fast die Hälfe der Befragten an, dass die Beratungsgespräche 20 Minuten oder länger dauerten, wodurch andere Aufgabenbereiche in der Apotheke in Mitleidenschaft gerieten.

Mangelnde Kooperation der Hausärzte

Die passenden Patientinnen und Patienten für das Pharmacy-First-Programm sollen unter anderem über ein spezielles Netzwerk von Hausärzten und Notrufzentralen an Apotheken überwiesen werden. Das geschieht Kritikern zufolge jedoch in zu wenigen Fällen, den Apotheken entgingen so viele abrechenbare Behandlungen. Stattdessen würden viele Patienten inoffiziell an die Apotheken vermittelt, ohne das offizielle Pharmacy-First-Netzwerk zu nutzen. Das erschwere den Apotheken die Abrechnung, heißt es. Laut C+D hatten im August knapp 30 Prozent der Hausarztpraxen keine Überweisungen an den Pharmacy-First-Dienst ausgestellt.

Hausärzte beschweren sich andererseits darüber, dass durch das neue Serviceangebot in den Apotheken die Belastung ihrer Praxen sogar steigen würde. Das sei vor allem den inkompatiblen IT-Systemen geschuldet, heißt es. Die Einführung sei zu schnell erfolgt, sagte die British Medical Association (BMA). Aufgrund der zu geringen Konsultationen können die zur Verfügung gestellten Mittel nur zum Teil abgeschöpft werden. Laut einer Analyse der NPA vom Juli könnten vom aktuellen Etat von 645 Millionen Pfund für das Programm nur knapp 200 Millionen Pfund von den Apotheken beansprucht werden.

Verschreibungen durch Apotheker

Im Zuge der COVID-19-Pandemie versuchte der NHSE, einer größeren Zahl von Apothekern Verschreibungsbefugnisse zu erteilen. Denn schon seit 2003 können diese eine Zusatzausbildung zum „supplementary prescriber“ absolvieren. Danach können sie in Abstimmung mit einem behandelnden Arzt Arzneimittel verschreiben. Seit 2006 ist dies für entsprechend ausgebildete Fachkräfte sogar ohne eine Abstimmung mit einem Arzt möglich („independent prescribers“). Allerdings hielt sich die Nachfrage seitens der Apothekerschaft für lange Zeit in Grenzen. Bis 2016 hatten gerade mal 4% der Apotheker im Vereinigten Königreich die Zusatzqualifikation erworben – 2020 waren es dann immerhin schon knapp 11%.

Bekanntheitsgrad zu gering

Laut einem Bericht der Proprietary Association of Great Britain (PAGB) vom Juli wussten 46 Prozent der Befragten Briten nichts von Pharmacy First. Die Geschäftsführerin des Verbands Community Pharmacy England (CPE), Janet Morrison, sieht die Verantwortung dafür beim staatlichen Gesundheitsdienst. Sie fordert vom NHSE mehr Engagement und eine effektivere Werbung, sagte sie gegenüber C+D. Der Vorstandsvorsitzende der Company Chemists‘ Association (CCA), Malcolm Harrison, betont zudem, wie wichtig eine bessere Zusammenarbeit mit den Hausärzten ist: Es müssten noch einige Anstrengungen unternommen werden, „um die Überweisungen von Hausärzten zu fördern und gezielte Sensibilisierungskampagnen durchzuführen.“

Potenzial für Fernbehandlung

Allen Schwierigkeiten zum Trotz haben sich manche Apotheker auf Pharmacy First geradezu spezialisiert. Die Optipharm Apotheke in Wembley führt monatlich über 3000 Beratungen durch, die über das Programm abgerechnet werden können. Deren Geschäftsführer Rafik Hammouda beschäftigt bis zu 13 Apotheker gleichzeitig, jeder von ihnen führe fünf bis sechs Fernberatungen pro Stunde durch. Laut dem NHS bearbeiteten im August allein drei Apotheken 6,5 Prozent der Überweisungen im Rahmen von Pharmacy First. Es liegt also auch an der Aufstellung der einzelnen Apotheken, ob Pharmacy First zum Erfolgsmodell wird. Zumindest ließe sich auch aus begangenen Fehlern im Vereinigten Königreich einiges lernen. 


Michael Zantke, Redakteur, DAZ
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Pharmacy first

von Roland Mückschel am 29.11.2024 um 11:36 Uhr

Nach mir die Sintflut.

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Was können Apotheken in Deutschland aus Großbritannien lernen?

von Rumpelstilzchen am 29.11.2024 um 8:53 Uhr

Ein jeglicher Vergleich, oder gar die Annahme, das deutsche Gesundheitssystem könnte irgendentwas Sinnvolles vom britischen Gesundheitssystem lernen, verbietet sich! Dazu ist es viel zu kaputt und heruntergewirtschaftet. Das britische System läuft im absoluten Notfallmodus. Das einzige "Lernbare" daraus wäre zu beobachten wohin unser Gesundheitssystem steuert und enden wird, wenn Figuren wie Lauterbach und Co. weiterpfuschen dürfen !

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