Modell deutet abnehmenden Impfschutz an

Mehr Masernfälle trotz Impfung?

Stuttgart - 12.11.2024, 10:45 Uhr

Auch gegen Masern geimpfte junge Erwachsene sind in England zunehmend häufiger von der Infektion betroffen. (Foto: Astrid Gast/AdobeStock) 

Auch gegen Masern geimpfte junge Erwachsene sind in England zunehmend häufiger von der Infektion betroffen. (Foto: Astrid Gast/AdobeStock) 


Seit einiger Zeit nehmen die Masernfälle in Deutschland und anderen Ländern wieder zu. Auffällig dabei: Der Anteil von Geimpften unter den Erkrankten steigt. Englische Wissenschaftler fanden in einer mathematischen Modellierungsstudie heraus, dass eine abnehmende Wirkung des Mumps-Masern-Röteln-Impfstoffes dafür verantwortlich sein könnte.

Die Masern galten in vielen Ländern Europas, Amerikas und Asiens als so gut wie eliminiert, doch zwischen 2015 und 2020 zogen die Fallzahlen wieder an. Allein das Robert Koch-Institut (RKI) zählte in dem Zeitraum jährlich 500 bis 2500 Fälle in Deutschland [1]. Diesen Trend brachten die Corona-Schutzmaßnahmen zum Stillstand, hierzulande sanken die Infektionszahlen sogar auf ein neues Tief: Zum ersten Mal erhielt Deutschland 2022 den WHO-Status der Unterbrechung der endemischen Transmission der Masern. Seitdem geht es aber wieder nach oben, auf allein 94 Fälle in den ersten zweieinhalb Monaten dieses Jahres [2]. 

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Was wäre ohne Impfung?

Die meisten Infektionen betreffen Ungeimpfte, doch der Anteil von Geimpften unter den Erkrankten steigt, hierzulande wie international: In England waren 2018 6,3% der Masernerkrankten zweifach geimpft, acht Jahre zuvor waren es nur 1,1% [3]. 

Wissenschaftler der London School of Hygiene & Tropical Medicine gingen in einer neuen Studie der Frage nach, ob das möglicherweise auf eine nachlassende Wirkung der Vakzine zurückgeführt werden kann [3]. 

Ein Modell – drei Szenarien

Die Londoner Forscher nutzten ein mathematisches Kompartimentmodell, das an die Falldaten in England zwischen 2010 und 2019 angepasst und nach Alter, Region und Impfstatus stratifiziert wurde. Wer sich beispielsweise als Geimpfter infiziert, wandert aus dem Geimpften-Kompartiment über die Kompartimente „Exposition“ und „Infektion“ zur „Genesung“. Die Parameter, die den Aufenthalt in den Kompartimenten und die Übergänge zwischen ihnen bestimmen, waren teilweise fix, wie zum Beispiel die Dauer der Infektion (8 Tage) oder wurden auf Basis wissenschaftlicher Daten oder Public-Health-Datenbanken wie den Fallzahlen und Impfregistern geschätzt. Mit diesem Modell wurden dann drei Szenarien simuliert, um herauszufinden, welches das Infektionsgeschehen in England am besten wiedergab: 

  • Szenario 1 ging von einer gleichbleibenden Immunität nach der Impfung aus, 
  • Szenarien 2 und 3 nahmen ab dem fünften Lebensjahr (dann war die Impfserie bei den meisten abgeschlossen) eine linear nachlassende Impfwirkung an. 
  • Szenario 3 ging aber erst ab dem Jahr 2000 von einer nachlassenden Immunität aus, denn ab diesem Jahr galt das Masernvirus nicht mehr als endemisch in England, sodass die Immunität in den jüngeren Kohorten allein von der Impfung stammt.  

Abnehmender Impfschutz  

Das wichtigste Ergebnis: Allein die Annahme einer abnehmenden Immunität durch die Mumps-Masern-Röteln-(MMR)-Impfung (Szenarien 2 und 3) ließ sich mit dem Infektionsgeschehen in England, insbesondere mit der Altersstruktur der Fälle, in Einklang bringen. Bei einer angenommen gleichbleibenden Wirkung des Impfstoffes wurde die Zahl der Fälle mit einer Impfung überschätzt und insbesondere die Zahl an infizierten Jugendlichen und Erwachsenen mit zweifacher Impfung unterschätzt (Szenario 1: 75 Fälle; 95%-Simulationsintervall (SI) = 44 bis 124 Fälle; Szenario 2: 196 Fälle; 95%-SI = 122 bis 315, Szenario 3: 188 Fälle; 95% = SI 118 bis 301 Fälle; tatsächliche Fallzahl 202).  
Den Anstieg der Impfdurchbrüche Doppeltgeimpfter zwischen 2010 und 2020 bildeten ebenfalls die Szenarien mit nachlassender Wirkung der Impfung am besten nach. Gleichzeitig blieb die Rate der Durchbruchinfektionen Einfachgeimpfter über denselben Zeitraum nahezu konstant, was von den Simulationen mit nachlassendem Impfschutz besser erfasst wurde. Die tatsächlichen Fallzahlen zweifach Geimpfter übertrafen sogar die simulierten Szenarien mit abnehmendem Impfschutz. Die Abnahme des Impfschutzes folge möglicherweise einer komplexeren Dynamik als die angenommene linearen Abnahme, so die Wissenschaftler. Auch häufigere Tests könnten eine Rolle spielen. 

Insgesamt schützt eine Impfung aber gut vor einer Infektion. Unter der Annahme der nachlassenden Immunität ab dem Jahr 2000 ermittelten die Forscher eine jährliche Abnahme des Impfschutzes um 0,039%. Das heißt, bei einer initialen Wirksamkeit des MMR-Impfstoffes von 98% hätte ein 45-jähriger immer noch einen Impfschutz von 96,4%.

Weiterübertragungen der Infektionen von Geimpften

Eigentlich wird davon ausgegangen, dass Geimpfte, wenn überhaupt, nur leicht erkranken und die Infektion meist nicht weitergeben. Die Forscher errechneten aber eine ähnlich hohe Rate von Weiterübertragungen der Infektionen von Geimpften und Ungeimpften. Oft clustern die Infektionen in Kommunen mit geringerer Impfquote, sodass Geimpfte in der Realität vereinfacht gesagt nur weniger Möglichkeiten hätten, die Infektion weiterzugeben, vermuten die Autoren. Aufgrund dieser Clusterung der Fälle, warnen sie auch davor, das zukünftige Infektionsgeschehen mit dem Modell vorherzusagen. Die räumliche Auslösung ihrer Daten reiche nicht aus, solche vulnerablen Inseln zu identifizieren.

Ein rechnerisches Problem? 

Da auch hierzulande die Infektionen Geimpfter ansteigen, hat sich das RKI mit dem Thema befasst. Das Institut argumentiert auf seiner Website (Stand 2020) zu häufig gestellten Fragen zur Maserninfektion und -impfung, dass bei hohen Impfquoten zwangsläufig rechnerisch der Anteil der geimpften Fälle an den (wenigen) Gesamtfällen steigt, echte Durchbruchinfektionen seien selten, aber auch nicht auszuschließen. 

Ob beispielsweise ein zirkulierendes Virus in der Bevölkerung zum Boostern des Impfschutzes notwendig sei, könne derzeit nicht geklärt werden. Daten aus Ländern, die die Masern schon vor Jahren eliminiert haben, wie zum Beispiel Finnland, deuten allerdings nicht darauf hin.  
Doch auch wenn der Impfschutz graduell abnehmen mag, bleibt es dabei: Eine Masernimpfung ist der beste Schutz vor dieser Krankheit. Die Bemühungen um eine hohe Impfquote bleiben von größter Bedeutung.

Literatur 
[1] Epidemiologische Situation der Masern und Röteln in Deutschland in 2023. Information des Robert Koch-Instituts, Stand: 1 März 2024, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04_01.html ;
[2] Matysiak-Klose D und Mankertz A. Epidemiologie der Masern in Deutschland und Bewertung der Situation. Epid Bull 2024;15:3-7 
[3] Robert A et al. Long-term waning of vaccine-induced immunity to measles in England: a mathematical modelling study. Lancet Public Health 2024;9:e766-e775 
[4] Masernimpfung: Wirksamkeit, Sicherheit und Kontraindikationen. Information des Robert Koch-Instituts, Stand: Februar 2024, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/Masernimpfung/FAQ-Liste_Masernimpfung.html


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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