CIRS-NRW-Fallbericht zum Welttag der Patientensicherheit

Wie man mit Software-Warnmeldungen in der Apotheke umgeht

17.09.2024, 10:55 Uhr

Das Spektrum der Risiken im Medikationsprozess ist breit. Ein Fallbericht aus dem Berichts- und Lernsystem CIRS-NRW wirft Fragen auf, wie Software-Alerts die Patientensicherheit sinnvoll erhöhen. (Foto: manabanana / AdobeStock)

Das Spektrum der Risiken im Medikationsprozess ist breit. Ein Fallbericht aus dem Berichts- und Lernsystem CIRS-NRW wirft Fragen auf, wie Software-Alerts die Patientensicherheit sinnvoll erhöhen. (Foto: manabanana / AdobeStock)


Fehldosierungen, Wechselwirkungen und Kontraindikationen, unvollständige Informationen über die Therapie und ein fehlerhafter oder gar fehlender Medikationsplan. Die Apotheke ist als Sicherheitsbarriere insbesondere für die Aufdeckung von Interaktionen „bekannt“. Als wichtiger Eckpfeiler erweist sich hierbei die elektronische Unterstützung durch die Apothekensoftware. Was aber, wenn Interaktionshinweise bzw. Warnmeldungen einfach weggeklickt werden?

Dieser Text ist erstmals in der DAZ 2024, Nr. 5, S. 56 am 01.02.2024 erschienen.

Die Apothekerin erhält eine Meldung zur Interaktion des aktuell verordneten Posaconazols mit dem vom Patienten dauerhaft eingenommenen Simvastatin (siehe Kasten „CIRS-NRW-Fallbericht“): Eine gleichzeitige Behandlung mit beiden Wirkstoffen ist kontraindiziert. Simvastatin wird über das CYP-Enzym 3A4 abgebaut, welches von Posaconazol gehemmt wird. In Kombination kann es zu erhöhten Plasmakonzentrationen von Simvastatin kommen und das Risiko für Myopathien und Rhabdo­myolysen steigt [1]. 

Die Warnung zum erhöhten Risiko von Myopathien/Rhabdomyolysen wird weggeklickt und das Antimykotikum abgegeben. 

CIRS-NRW-Fallbericht: Umgang mit Arzneimittel-Interaktionen (CIRS-Fall-Nr: 199699)

Was ist passiert?

Ein Patient wird gleichzeitig von zwei Kliniken betreut. Er bekommt von der einen Klinik Posaconazol verordnet. In der Apotheke fällt auf, dass es eine Kontraindikation mit Simvastatin gibt, was er auch einnimmt. Da es schon spät und der Arzt nicht mehr zu erreichen ist, wird dem Patienten geraten, bei seinem morgigen Termin in der Klinik noch mal mit dem Arzt zu sprechen. Gleichzeitig wird ein Fax in die Klinik geschickt. Am nächsten Tag kommt ein Rückruf aus der Klinik: Der Patient muss das Simvastatin aufgrund seines kardiovaskulären Risikos weiter einnehmen und soll das Posaconazol nicht nehmen. Er hat noch eine Mundspülung mit Amphotericin B bekommen und soll es erst damit versuchen. Der Fall wird in der Apotheke in Papierform dokumentiert und abgeheftet.

Zwei Wochen später taucht in der Rezept-Kontrolle der Rezepte vom Vortag erneut ein Rezept über Posaconazol für den gleichen Patienten aus der anderen Klinik auf. Das Medikament wurde am Vortag rausgegeben, obwohl ja vor zwei Wochen gesagt wurde, der Patient solle es nicht nehmen. Die Interaktions­meldung mit Simvastatin wird von der Software immer noch angezeigt. Der kontrollierende Apotheker ist auch zufällig der, der vor zwei Wochen die Interaktionsmeldung bearbeitet hat. Eine andere Apothekerin sagt: „Ein Glück, dass Sie heute die Rezepte kontrolliert haben. Ich hätte davon gar nichts gewusst.“

Ein Anruf in der zweiten Klinik ergibt, dass es keinen Austausch zwischen den Kliniken gab über das An- und wieder Absetzen des Arzneimittels bzw. über die Interaktion mit Simvastatin. Die Kliniken wollen sich nun austauschen.

Ein Anruf beim Patienten ergibt, dass er nun von der ersten Klinik auf Pravastatin umgestellt wurde, welches hier nicht kontraindiziert ist.

Was war das Ergebnis?

Einzelne Mitarbeiter wissen nichts von der Interaktionsmeldung von vor zwei Wochen.

Eine Interaktionsmeldung wurde „weggeklickt“.

Wo sehen Sie Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?

  • zwei behandelnde Kliniken
  • nicht Patient selber, sondern seine Frau hat das Rezept bei uns abgegeben; AM wurde abends geliefert (→ keine Rücksprache mit dem Patienten möglich)
  • nicht alle Mitarbeiter kennen alle Fälle von Interaktions­meldungen und Arzt-Rücksprachen → in Zukunft alle bearbeiteten Interaktionsmeldungen erst an alle Apotheker weitergeben zum Lesen und dann abheften
  • stressiger Apotheken-Alltag

Was die Apothekerin nicht weiß – bereits zwei Wochen zuvor erhielt der Patient eine identische Verordnung aus einem anderen Klinikum. Weil die Statin-Einnahme notwendig war, wurde mit dem Verordner abgestimmt, dass der Patient zunächst ausschließlich die ebenfalls verordnete antimykotische Mundspülung anwenden und Posaconazol nicht ein­nehmen solle. Letztlich wurde der Patient auf Pravastatin umgestellt, für das keine Interaktion mit Posaconazol bekannt ist.

Problem Alert fatigue

Die mangelnde Kommunikation zwischen den beiden behandelnden Kliniken und der unzureichende Informationsaustausch innerhalb des Apothekenteams wirkten sich fehlerbegünstigend aus. Die meldende Person nennt als mögliche Maßnahme, alle bearbeiteten Interaktionsmeldungen zunächst schriftlich an die Kollegen weiterzugeben und erst dann zu archivieren und nicht wie im aktuellen Fall direkt abzuheften. Die Informationsweitergabe ist eine richtige und wichtige Maßnahme, letztlich ist jedoch insbesondere die abgebende Person verantwortlich dafür, Warnhinweise im Rahmen der Beratung und Abgabe zu berücksichtigen und zu bewerten. Im vorliegenden Fall wurde die Interaktionsmeldung jedoch einfach „weggeklickt“ und die Kontraindikation damit ignoriert.

Dies ist möglich, da es sich bei der Interaktionsmeldung in der Apotheken-Software meist um einen „Soft Stop“ handelt: Es werden dem pharmazeutischen Personal zwar relevante Risikoinformationen anzeigt, jedoch wird keine Handlung eingefordert oder der Arbeitsablauf unterbrochen (siehe Kasten „Alert-Kategorien“).

Alert-Kategorien

  • Passive Alerts: In dieser Warnung werden dem Anwender wichtige Informationen zu möglichen Risiken etc. in der Software angezeigt – sie unterbricht jedoch nicht den Arbeitsablauf und fordert auch keine Handlung seitens des Nutzers ein.
  • Soft Stops: Hierbei handelt es sich um eine automatische Warnmeldung, die möglicherweise eine Verhaltensänderung beim Anwender hervorruft, ihm jedoch ebenso erlaubt, entgegen der angezeigten Empfehlung zu verfahren, sofern diese (z. B. mit einem Mausklick) quittiert wird.
  • Hard Stops: Ein unterbrechender Hard-Stop-Alert bedeutet, dass nicht weitergearbeitet werden kann, bevor nicht eine andere Handlung (z. B. Visum-Eingabe, Eingabe der Indikation) ausgeführt wird. Dadurch wird das Personal gezwungen, den Vorgang (z. B. im aktuellen Fall die Dosierung) zu überprüfen. Automatisch an eine andere Fachperson gesendete Mitteilungen, in denen dazu aufgefordert wird, die Verordnung zu plausibilisieren, sind einem unterbrechenden Alert gleichzusetzen.

Der hier beschriebene Fall verdeutlicht sehr gut, wie sich die sogenannte „Alarmmüdigkeit“ auswirkt. Die Apothekensoftware zeigt so viele Warnmeldungen an, dass die Apothekenmitarbeiter diesen gegenüber desensibilisiert werden. Es besteht die Gefahr abzustumpfen- auch Alert fatigue (Alarmmüdigkeit) und Override (Ignorieren der Warnmeldungen) genannt. Dieses Phänomen stellt ein Risiko für die Patientensicherheit dar.

Starke Maßnahmen

Wenn Arzneimittel verordnet, abgegeben oder verabreicht werden, können Fehler auftreten, die zu einem Patientenschaden führen. Um solche Fehler im Prozess komplett aufzuhalten, ist ein sogenannter Hard-Stop-Alert erforderlich.

Die Stiftung Patientensicherheit Schweiz führt in ihrem Quick-Alert® Nr. 28 (V2) unterbrechende Hard-Stop-Alerts als starke Maßnahme zur Vermeidung von Überdosierungen im Zusammenhang mit der Methotrexat-Einnahme bei nicht-­onkologischen Indikationen auf. Bei Methotraxat kann es vorkommen, dass der Wirkstoff z. B. im Rahmen einer antirheumatischen Therapie versehentlich täglich statt wöchentlich angewendet wird. Nicht-unterbrechende Alerts sowie Maßnahmen auf Verhaltensebene werden hingegen als mittelstarke und schwache Maßnahmen aufgeführt (siehe Abb.).

Abb.: Wirksamkeitsbewertung Maßnahmen zur Fehlerreduktion können unterschiedlich wirksam sein. Stärkere Maßnahmen sind aufwendiger, wirksamer und nachhaltiger. Schwache Maßnahmen sind auf der Ebene des (einzelnen) Menschen angesiedelt, während starke Maßnahmen in das Arbeitssystem eingreifen (nach Stiftung Patientensicherheit Schweiz, Quick-Alert® Nr. 28 (V2) [2])

Lösung aller Probleme?

Eine gießkannenartige Anwendung von Hard-Stop-Alerts ist allerdings nicht zielführend. Ärzte, Apotheker und Pflegekräfte sollten hierdurch z. B. nicht davon abgehalten werden, eine klinisch angemessene Medikation in einer möglicherweise unüblichen Dosierung zu verschreiben, abzugeben oder zu verabreichen. Der Einsatz sollte erfolgen, um absolute Kontraindikationen oder katastrophale Fehler abzufangen. Wichtig ist, dass die an der Patientenver­sorgung beteiligten Personen die Begründung für den Einsatz eines Hard-Stop-Alerts kennen. Im besten Fall werden Sie in den entsprechenden Entscheidungsprozess einbezogen. In der Praxis sind diese Personen nämlich mit Situationen konfrontiert, in denen sie Hindernisse umgehen müssen, um Patienten angemessen zu versorgen. Hierbei werden dann gegebenenfalls kreative Lösungen gesucht, auch Hard-Stop-Alerts zu umgehen, weil die Legitimierung derer nicht bekannt ist.

Die Apotheke ist bei Etablierung von Hard-Stop-Alerts allerdings auf eine entsprechende Programmierung der Apothekensoftware angewiesen. Erfahrungen aus dem klinischen Bereich zeigen, dass es sich um Individuallösungen handelt, die mit Aufwand und gegebenenfalls hohen Kosten verbunden sind.

Maßnahmen in der Apotheke

Was kann die Apotheke ungeachtet dessen nun konkret tun, damit z. B. relevante Interaktionsmeldungen beachtet werden?

Die Software kann z. B. so eingestellt werden, dass sie nur Interaktionen von höherem Schweregrad anzeigt, um die Zahl der Warnmeldungen zu reduzieren. Hier macht es z. B. Sinn, die ersten drei ABDA-Kategorien in den Check einzubeziehen:

  • kontraindiziert (dunkelrot)
  • schwerwiegend (hellrot)
  • mittelschwer (orange)

Zudem könnte innerhalb des Apothekenteams vereinbart werden, Kontraindikationen und schwerwiegende Interaktionen mit einem Kollegen zu diskutieren („Vier-Augen-­Prinzip“), um die Relevanz für den Patienten und mögliche Maßnahmen gemeinsam zu identifizieren. 

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Die Blaue Hand

Idealerweise sollte im Nachgang das gesamte Apothekenteam hierüber informiert sowie die Maßnahme entsprechend dokumentiert werden. Im aktuellen Fall kam es hierbei allerdings zu einem Systembruch: Die umgesetzten Maßnahmen aufgrund der Warnmeldungen in der Apotheken-Software wurden in Papierform dokumentiert. Maßnahmen sollten am besten auch digital in der Apotheken-Software dokumentiert werden, um z. B. bei der nächsten Abgabe sofort (über das Kundenkonto) abrufbar zu sein. 

CIRS-NRW steht für „Critical-Incident-Reporting-System Nordrhein-Westfalen“. Es handelt sich um ein internetgestütztes Berichts- und Lernsystem zur anonymen Meldung von kritischen Ereignissen in der Patientenversorgung. CIRS-NRW soll dazu beitragen, dass über kritische Ereignisse offen gesprochen und aus ihnen gelernt wird. Somit sollen Wege zur Vermeidung von Risiken diskutiert und Lösungsstrategien erarbeitet werden. 

Die Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe sind Partner von CIRS-NRW – gemeinsam mit den Ärztekammern, den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenhausgesellschaft NRW. Die Professionen Arzt und Apotheker treffen insbesondere im Medikationsprozess aufeinander. Die beidseitige Sensibilisierung für Medikationsfehler sowie die gegenseitige Kenntnis der organisatorischen Strukturen in Arztpraxis und Apotheke tragen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapie­sicherheit bei. Das sektoren- und professionsüber­greifende Berichts- und Lernsystem CIRS-NRW ist in Deutschland einzigartig: www.cirsmedical.de/nrw/

Literatur

[1] Dossier der ABDA-Datenbank zur Interaktion zwischen Posaconazol und Simvastatin, Bearbeitungsstand 1. Juli 2022, abgerufen am 17. Januar 2023 über die Lauer-Taxe

[2] Methotrexat Überdosierungen – Vermeidung von häufigerer als wöchentlicher Gabe bei nicht-onkologischen Indikationen. Stiftung Patientensicherheit Schweiz Quick-Alert® Nr. 28 (V2), https://patientensicherheit.ch/cirrnet/quick-alerts/


Carina John, PharmD, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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