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Semaglutid: Vom Antidiabetikum zum Lifestylearzneimittel

Stuttgart - 19.03.2024, 07:00 Uhr

Schlank spritzen mit Semaglutid? Engpässe und Fälschungen des Arzneimittels deuten den Wunsch nach purzelnden Pfunden per Pen für Jedermann durchaus an. (Foto: millaf/AdobeStock)

Schlank spritzen mit Semaglutid? Engpässe und Fälschungen des Arzneimittels deuten den Wunsch nach purzelnden Pfunden per Pen für Jedermann durchaus an. (Foto: millaf/AdobeStock)


Semaglutid senkt den Blutzuckerspiegel und hilft beim Abnehmen. Zur Gewichtsreduktion ist das Arzneimittel lediglich für stark übergewichtige Patientinnen und Patienten zugelassen. Könnte es nicht auch weniger übergewichtigen Menschen helfen? Die DAZ sprach mit Gerd Bendas, Professor für Medizinische Chemie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, der auf der INTERPHARM beleuchten wird, wie Semaglutid vom Antidiabetikum zum Lifestylearzneimittel wurde. 

Ozempic® und Wegovy® – zwei Namen, ein Wirkstoff und zweimal ein leichteres Leben: Semaglutid in Ozempic® können Typ-2-Diabetiker bereits seit 2018 zur Behandlung ihrer erhöhten Blutzuckerspiegel erhalten. 2022 wurde der GLP(Glucagon-like Peptide)-1-Rezeptoragonist in Wegovy® in einer weiteren Indikation zugelassen, und zwar für Menschen mit starkem Übergewicht. Dazu zählen:  

  • Erwachsene mit Adipositas (Ausgangs-Body-Mass-Index (BMI) ≥ 30 kg/m2) 
  • Erwachsene mit Übergewicht (BMI von ≥ 27 kg/m2 bis < 30 kg/m2) und mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung 
  • Jugendliche ab zwölf Jahren mit Adipositas (gemäß geschlechts- und altersspezifischen Wachstumstabellen) und einem Körpergewicht über 60 kg 

Mehr zu Inkretin-Mimetika

Sie wollen mehr zu den Inkretin-Mimetika erfahren? Auf der Interpharm in Mannheim vom 12. bis 13. April 2024 erwarten Sie gleich zwei hochkarätige Vorträge zu der Thematik:  

Prof. Gerd Bendas geht im Vortrag „Semaglutid – Vom Diabetes- zum  
Lifestylearzneimittel“ näher auf die Risiken und Chancen des Arznei­mittels ein. Prof. Thomas Forst wirft einen Blick in die Zukunft der Inkretin-­Therapie und erläutert die Bedeutung der Polyagonisten. 

Tickets und alle weiteren Infos gibt's hier. 

Seit der deutschen Markteinführung im Juli 2023 können sie Wegovy® zur Gewichtsregulierung erhalten, und zwar ergänzend zu einer kalorienreduzierten Ernährung sowie verstärkter körperlicher Aktivität. In Studien konnten Teilnehmende ohne Diabetes mellitus Typ 2 durchschnittlich 15% ihres Körpergewichts reduzieren, indem sie ihren Lebensstil änderten und zusätzlich 2,4 mg Semaglutid pro Woche über 68 Wochen erhielten. Eine reine Lebensstilveränderung brachte im Kontrollarm 2 bis 6% Gewichtsverlust mit sich. Bei Diabetikern war die Behandlung mit Semaglutid mit 10% Gewichtsverlust weniger erfolgreich. Auch jugendliche Adipöse wurden mit Wegovy® therapiert, über 60% der Studienteilnehmer reduzierten ihren BMI um circa 16 %. Allerdings erreichten alle Responder ein Jahr nach Therapie ein Gewichtsplateau. Setzt man Semaglutid ab, ist mit wieder steigendem Körpergewicht zu rechnen [1].  
 

Ein universelles Abnehm-Arzneimittel?

Sich wöchentlich zu spritzen ist sicherlich nicht gerade beliebt. Vielen Menschen dürfte das dennoch leichter fallen als regelmäßig zu schwimmen, Fahrrad zu fahren und ein anstrengendes Krafttraining zu absolvieren. Somit ist Wegovy® wahrscheinlich nicht nur bei der zugelassenen Indikationsgruppe der Patienten mit starkem Übergewicht erwünscht, sondern weckt auch bei Personen außerhalb der Zulassung Begehrlichkeiten als universelles Schlankheitsmittel. Fälschungen und Engpässe deuten diesen Wunsch nach purzelnden Pfunden durch einen Pen durchaus an. 

Prof. Dr. Gerd Bendas im Interview mit der DAZ 
(Foto: privat)  

Ist Semaglutid wirklich das risikolose Wundermittel?

DAZ: Ist Semaglutid wirklich das risikolose Wundermittel? Semaglutid hilft beim Abnehmen – derzeit dürfen jedoch lediglich sehr stark Übergewichtige Semaglutid unterstützend erhalten, um abzunehmen. Könnte man nicht auch weniger stark Übergewichtigen das Leben leichter machen und ihnen das Abnehmen erleichtern? 

Bendas: Die Frage liegt zwar nahe, muss aber aktuell mit Nein beantwortet werden, weil die Zulassungsstudien, und damit die Daten der klinischen Wirksamkeit, ausschließlich an Adipösen (BMI > 30 kg/m2) oder Komorbiden stark Übergewichtiger mit BMI > 27 kg/m2 erhoben wurden. Eine Anwendung bei weniger Übergewichtigen oder normalgewichtigen Personen ist somit durch die Zulassung nicht gedeckt. 

Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass Semaglutid, wie alle Inkretin-Mimetika, hochwirksame Arzneimittel sind. Neben ihrer angestrebten pharmakologischen Wirkung, hier dem Gewichtsverlust, sind sie mit unerwünschten Wirkungen assoziiert. Diese scheinen bei Vorhandensein gesundheitlicher Risiken, z. B. einer Adipositas akzeptabel hinsichtlich einer Verbesserung der Grunderkrankung. Bei „eigentlich Gesunden“ kann man diese Balance so nicht finden.  

DAZ: Gibt es Daten, ob das Abnehmen auch bei „Gesunden“ funktioniert und wenn ja: In welchen Kilobereichen? 

Bendas: Zu dieser Frage existieren keine validen klinischen Daten, denn wie bereits ausgeführt, beziehen sich alle Zulassungsstudien auf die genannte übergewichtige oder adipöse Patientenpopulation. Man kann zwar extrapolieren, dass auch bei weniger Übergewichtigen diese Wirkung eintritt, das genaue Ausmaß, insbesondere dabei der Beitrag der Lebensstil-Veränderungen für diese „Gesunden“, lässt sich jedoch nicht exakt beziffern.  

DAZ: Welche Gefahren sehen Sie? 

Bendas: Die größte Gefahr sehe ich in einer Trivialisierung eines hoch-aktiven Arzneistoffes, der als Wundermittel stilisiert, off-label, unkontrolliert und ohne medizinische Indikation angewendet wird. Gefährlich ist dies einerseits vor allem für die Anwender selbst. Sie wollen gesellschaftliche Normenbilder eines Idealgewichtes erfüllen und sind sich dabei der gesundheitlichen Risiken durch Nebenwirkungen oder der dauerhaft notwendigen Anwendung nicht bewusst. 

Andererseits sehe ich auch Risiken für den Arzneimittelmarkt, und insbesondere die Arzneimittelversorgung von Typ-2-Diabetikern. Auch wenn Auswirkungen wie Fälschungen oder Engpässe von Semaglutid erkannt und teilweise gebannt sind, wird das Bestreben einer illegalen Versorgung immer kriminelle Wege offenhalten. 

Um aber etwas optimistischer zu enden: Die gegenwärtigen Diskussionen zu dieser Thematik und die gesellschaftliche Wahrnehmung dazu geben uns Pharmazeutinnen und Pharmazeuten die Chance, offensiv beratend einzuwirken. Dies kann insbesondere auf die mit der Anwendung von Semaglutid assoziierten Lebensstilveränderungen (Ernährung, Bewegung) adressiert werden, um diese besser ins Bewusstsein der Patienten zu rufen. 

DAZ: Danke für das Gespräch!


Celine Bichay, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


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