Rezeptbetrug nimmt explosionsartig zu

Seit Mitte 2024 haben deutschlandweit Fälle von Rezeptfälschungen massiv zugenommen. Woher kommt das? Hier werden vor allem drei Antworten gehandelt: Aktuell sind viele Apothekenmitarbeiter darauf konzentriert, einen reibungslosen Ablauf bei der Bearbeitung von E-Rezepten und deren Datensicherheit zu gewährleisten. Die Kontrolle von Papier-Rezepten scheint im Rahmen alltäglicher Routine bearbeitet zu werden, was die Chancen von Betrügern erhöht. Zudem tauchen vielerorts original unterschriebene Rezeptzettel aus Arztpraxen auf, die kürzlich geschlossen wurden. Offensichtlich gibt es hier einige Lecks, die von Kriminellen ausgenutzt werden. Und schließlich scheint ein neuer Lifestyle-Trend viel kriminelle Energie freizusetzen: Rezeptfälscher gehen professionell und systematisch vor und sie haben insbesondere Abnehmspritzen im Blick. Die stehen gerade hoch im Kurs und haben die üblichen „Verdächtigen“ wie etwa Tilidin & Co. auf die Plätze verwiesen.

Die meisten Apotheker bleiben nach einer Rx-Fälschung auf den Kosten sitzen – denn Rezeptbetrug oder Null-Retax ist nur durch wenige Apotheken-Spezialpolicen versichert. Allein der Autor bekommt von Apotheken aus Berlin und Brandenburg seit Monaten wöchentlich mindestens vier bis sechs Schadensfälle aufgrund falscher oder missbräuchlich genutzter Rezepte zur Regulierung eingereicht.

PharmAssec, ein führender Anbieter von Spezialversicherungen für Apotheken, bestätigt das aus eigener Erfahrung: „Wir beobachten die Welle sehr aufmerksam – seit Sommer 2024 nehmen wir einen starken Anstieg wahr“, sagt Beate Bachthaler, Geschäftsführerin von PharmAssec. „Wir haben im Durchschnitt fünf Fälle pro Tag, in der Spitze wird das schon auch mal zweistellig.“ „Die gewöhnliche Schadenshöhe liegt bei rund 800 Euro pro Rezept. Ausreißer können aber auch um die 5.000 Euro kosten“, berichtet Roland Schütze, Schadenregulierer bei PharmAssec.

AOK: Prominente befeuern einen unheimlichen Trend

Welche Ausmaße der Rezeptbetrug bei diesen Präparaten angenommen hat, berichtet auch die AOK Niedersachsen. Die Krankenkasse „geht seit September 2023 verstärkt gegen eine Serie von Fälschungen bei Rezepten für Diabetesmedikamente [gemeint sind die Wirkstoffe Liraglutid, Semaglutid und Tirzepatid, die auch zur Gewichtsreduzierung genutzt werden] vor. Seitdem sind über 2.200 Fälschungen auffällig geworden, der Schaden liegt bei über 570.000 Euro. Die Täter erlangten dadurch insgesamt 9.482 Pens. Die Gesundheitskasse hat bislang noch zu keiner anderen Medikamentengruppe eine derart hohe Zahl an Rezeptfälschungen in so kurzer Zeit festgestellt.“ Für die explodierenden Betrugsfälle macht die Krankenkasse auch eine fatale Vorbild-Funktion von Stars und Sternchen aus: „International nutzen u.a. Prominente diese Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit – und berichten darüber in den Medien und in den sozialen Netzwerken.“

Gefälschte Rezepte wirksamer identifizieren

Auf diese Entwicklung müssen Apotheken selbst reagieren. Krankenkassen identifizieren gefälschte Rezepte meist äußerst treffsicher – der Null-Retax droht oft Monate später. Wie es zum Betrug kam, ist dann meistens nicht mehr nachvollziehbar.

Hier ist der alte Grundsatz „erst sichern – dann versichern“ immer noch ein guter Ratgeber. Denn klar ist auch: Ist eine Police mehrfach von Schäden betroffen, wird eine Versicherung die Reißleine ziehen müssen. Um von Rezeptbetrügereien möglichst unbehelligt zu bleiben, sollten daher alle HV-Kräfte für Anzeichen krimineller Energie sensibilisiert sein.

Schauen wir auf die Täter: Viele von ihnen bestellen Präparate telefonisch vor, um sicher zu gehen, dass das gewünschte Objekt der Begierde vorrätig ist. Wenn dann sowohl der Kunde wie die Rx-ausstellende Arztpraxis in der Apotheke unbekannt sind und einer oder beide nicht im Einzugsgebiet der Apotheke ansässig sind, sollte grundsätzlich höchste Aufmerksamkeit walten. Zudem kommen Rezeptbetrüger gern zu Stoßzeiten, weil sie hoffen, dass ihre Fälschung in den hektischen Phasen leichter durchgeht. Auch samstags oder an Sonn- und Feiertagen häufen sich Betrugsversuche am HV, da dann in den Praxen nicht nachgefragt werden kann. Außerhalb der Metropolen gilt das auch für Mittwoch- und Freitagnachmittag.

Laut PharmAssec war zu Beginn der Rezeptfälschungswelle insbesondere Ozempic gefragt. Dann folgte relativ schnell Mounjaro. Betrug mit Trulicity dagegen werde seltener gemeldet. „Dafür haben wir seit neuestem viele Fälle, bei denen es um Genotropin geht. Ein Wachstumshormon, das vor allem in der Fitnessszene sehr gefragt zu sein scheint“, so Bachthaler. Unter den Schadensfällen, die das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Kirchheim unter Teck reguliert, fallen zudem des Öfteren die Bezeichnungen Pegasys und Fentanyl.

Was sind „erkennbar gefälschte Verordnungen“?

Gesetzliche Krankenkassen verweigern bei „erkennbar gefälschten Verordnungen“ jegliche Kostenerstattung (Nullretaxation). Doch was heißt eigentlich „erkennbar gefälscht“? Einigkeit herrscht in dieser Frage nicht. In letzter Instanz entscheiden darüber Gerichte, falls es zu Verhandlungen kommt.

Daher ist es wichtig, häufige Auffälligkeiten zu kennen, die auf ein gefälschtes Rezept hindeuten: etwa uneinheitliche Angaben bei Arzt- und Betriebsstättennummern, fehlerhafte Angaben wie fehlende Postleitzahlen, die Angabe „Versicherungsstatus 1“ für Minderjährige oder fehlende Magnetcodierungen am rechten unteren Rand. Verdächtig ist es auch, wenn eine Verordnung auf Privatrezept vorliegt, obwohl es eine Erstattungsmöglichkeit durch Gesetzliche Krankenkassen gibt. Weitere Hinweise, die auf einen Betrugsversuch verweisen, sind fehlende oder falsche Angaben zur Arztpraxis, kopierte oder selbst ausgedruckte Rezepte sowie Muster 16-Rezepte in Papierform, obwohl das Präparat nicht unter die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung fällt. Schließlich sollten Apotheker auch vorsichtig sein, wenn die Praxis oder der Wohnsitz des Kunden von der Apotheke weit entfernt ist. „In Zweifelsfällen können Apotheken von Kunden auch verlangen, die Versicherungskarte und den Personalausweis vorzulegen“, rät Schütze. Das kann durchaus Täter verjagen, wie Bachthaler weiß: „In einem Fall wurde bei einer Täterin nachgefragt, als man den Verdacht auf Rezeptfälschung hatte. Als die Frau realisierte, dass sie auffliegt, rannte sie ohne Medikament aus der Apotheke. Das ist aber eher selten der Fall.“

Zeit verschaffen

Wird ein Rezeptbetrug nicht verhindert, liegt die Verantwortung schnell beim Apothekenpersonal. So heißt es in der Apothekenbetriebsordnung § 17 Absatz 8: „Das pharmazeutische Personal hat einem erkennbaren Arzneimittelmissbrauch in geeigneter Weise entgegenzutreten. Bei begründetem Verdacht auf Missbrauch ist die Abgabe zu verweigern.“ Ähnliches findet sich im vdek-Arzneiversorgungsvertrag (§ 4 Abs. 5): „Gefälschte Verordnungen oder Verordnungen auf missbräuchlich benutzten Verordnungsblättern dürfen nicht beliefert werden, wenn die Apotheke die Fälschung oder den Missbrauch erkennt oder hätte erkennen müssen.“ Daraus ergibt sich eine Option, die im Verdachtsfall die Apotheke vor Fälschungen schützen kann: „Das Medikament ist gerade nicht da, kommt um … Uhr.“ Und wo es Sinn ergibt: „Wir liefern auch gern in Ihr Hotel.“ Das verunsichert Täter oft sichtbar und/oder verschafft Zeit zur Nachkontrolle.

Strafanzeigen sind für Apotheker eine zweischneidige Angelegenheit

Wird ein Betrugsversuch entdeckt, stellt sich immer die Frage, ob Anzeige erstattet werden soll. Das Rechtsbewusstsein spricht sicherlich dafür, aber es gibt auch die apothekerliche Schweigepflicht, die in solchen Fällen mit dem Rechtsbewusstsein in Konflikt gerät. Grundsätzlich machen sich Apotheker strafbar, wenn sie private Informationen an Dritte weitergeben. Das gilt grundsätzlich auch bei Strafanzeigen. Die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg weist darauf hin, dass eine Pflicht zur Erstattung einer Anzeige nicht besteht. „Ob im Einzelfall eine Anzeigeerstattung für den Apotheker straffrei möglich ist, ist im Rahmen der Rechtsgüterabwägung zu ermitteln“, so die Kammer. Ein Argument für eine Anzeige, kann laut Landesapothekerkammer „eine zu erwartende Gefährdung von Leben, Leib oder Gesundheit Dritter“ sein. Eine solche Gefährdung ist möglicherweise gegeben, wenn die angegebene Menge des Arzneimittels auf dem mutmaßlich gefälschten Rezept eine Gefahr darstellen kann.

Der Autor Michael Jeinsen ist zertifizierter Berater Heilwesen (IHK) und Fachbereichsleiter für Apotheken im BVSV (Bundesverband der Sachverständigen für das Versicherungswesen e.V.)