Zytostatika-Zubereitung

Gefährliche Verwürfe

Berlin - 18.02.2016, 17:00 Uhr

(Foto: Marco Herrndorff / Fotolia)

(Foto: Marco Herrndorff / Fotolia)


Bei der Zubereitung applikationsfertiger Infusionslösungen sind viele Regeln zu beachten, die dem Schutz des Patienten dienen. Trotzdem hat sich gerade in diesem Bereich eine Praxis herausgebildet, die alle Anstrengungen hinsichtlich der Patientensicherheit konterkariert. Der Gesetzgeber ist gefordert. Ein Gastbeitrag von Dr. Franz Stadler.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte versuchte der Gesetzgeber immer wieder, die Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen. Die Ausgestaltung der Vorgaben oblag dabei im Prinzip fast immer den Sozialpartnern. Unter anderem regelten der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und der Deutsche Apothekerverband (DAV) die Abrechnung parenteraler Zubereitungen mit der Hilfstaxe vom 1.10.2009 und ihren Fortschreibungen neu. Eingeführt wurde u.a. die Milligramm-genaue Abrechnung der verwendeten Bestandteile, die gegenüber der bisherigen Berechnungsgrundlage, deren Basis die kleinste passende Stückelung aus den verfügbaren Packungsgrößen war, zu einer deutliche Kostensenkung in diesem hochpreisigen Marktsegment führen sollte und auch führte.

Dabei war klar, dass es bei einer Milligramm-genauen Abrechnung nicht in jedem Fall möglich sein würde, die verbleibenden Restmengen aus den verfügbaren Packungsgrößen innerhalb der definierten Haltbarkeiten zu verarbeiten. Die Haltbarkeiten der Anbrüche wurden in einigen Fällen nach den Angaben der Hersteller in die Hilfstaxe übernommen und für den großen Rest pauschal auf 24 Stunden festgelegt.

Für die Restmengen, die kassenübergreifend nicht mehr innerhalb dieser Haltbarkeiten weiterverarbeitungsfähig sind, wurde der Begriff des „unvermeidlichen Verwurfes“ eingeführt. Nur dieser unvermeidliche Verwurf darf mit der letzten Zubereitung bei der Krankenkasse des dann zufällig betroffenen Versicherten abgerechnet werden. In der Hilfstaxe schien alles, inklusive einer Auskunftspflicht für die abrechnenden Apotheken, eindeutig geregelt. Es wird gespart und der Patient hat keinen Nachteil.

Pooling praktisch nicht möglich

Doch der Teufel steckt, wie so oft, im Detail. Abhängig von den verfügbaren Packungsgrößen, den Haltbarkeitsangaben für die Stammlösungen und der Häufigkeit und Art der Anwendung des jeweiligen Wirkstoffes, ergeben sich unvermeidliche Verwürfe, die sich in diesem hochpreisigen Marktsegment schnell auf einen dreistelligen Millionenbetrag summieren.

Dabei ist die bestimmende Größe die Haltbarkeitsdauer der Stammlösung. Ein Pooling (Zusammenfassen der Patienten zur Therapie nach Ort und Zeit) ist wegen der oft geringen Fallzahlen und der noch höheren Kosten einer zentralen stationären Klinikeinweisung praktisch unmöglich. Das gilt selbst, wenn man den nicht zu unterschätzenden psychologischen Vorteil einer wohnortnahen Versorgung der meist schwerkranken Patienten gänzlich vernachlässigt. Je kürzer die Haltbarkeit der Stammlösung, und je ungünstiger die zur Verfügung stehende Packungsgröße, desto größer ist der anfallende Verwurf.

Ein besonders anschauliches Beispiel, dargestellt anhand der bayerischen Zahlen, liefert der Wirkstoff Bortezomib (Velcade®) der Firma Janssen-Cilag.

Die Eckdaten: Im Markt gibt es eine Packungsgröße mit 3,5 Milligramm Bortezomib. Die durchschnittliche Dosis pro Patient liegt bei nur rund 2,4 Milligramm. Die Haltbarkeit der Stammlösung beträgt 8 Stunden (Herstellerangabe in der Fachinformation und ebenso in der Hilfstaxe vertraglich fixiert). Es gibt eine s.c.- und eine i.v.-Anwendung, die aus unterschiedlich konzentrierten Stammlösungen hergestellt werden müssen. Die Patienten erhalten an den Tagen 1, 4, 8 und 11 jeweils eine Bolusspritze, ein Zyklus, der nach 21 Tagen meist zweimal wiederholt wird.

Die Folgen: Regelkonform ist es praktisch unmöglich, Verwurf zu vermeiden. Gerade in einem Flächenland wie Bayern und bei wenigen hundert ambulanten Patienten wäre es kaum möglich, in einer zubereitenden Apotheke zehn Zubereitungen an einem Tag zu kumulieren. Die Effekte aus ungünstiger Packungsgröße (vgl. Abb. 1) und kurzer Haltbarkeit des Anbruches (8 Stunden) verstärken sich in diesem Fall zusätzlich. 

Abb. 1: Bortezomib: Durch die ungünstige Größe der einzigen Fertigarzneimittelpackung entsteht bei fast jeder Gelegenheit erheblicher Verwurf. Der maximale Verwurf pro Durchschnittspatient (Dosis: 2,37mg1) beträgt 1,13mg oder 511,91€ brutto (Stand: Mai 2015). Erst bei vier Patienten täglich kann überhaupt ein Teil der anfallenden Restmenge weiterverarbeitet werden und selbst bei 15 Patienten täglich bliebe ein Verwurf von 17,40 Prozent. Selbstverständlich sind auch Summendosen von 3,5mg oder einem Vielfachen davon möglich. Das ist aber ein seltenes, zufälliges Ereignis und nicht steuerbar.

¹eigene Daten, die auf ca. 500 Zubereitungen basieren

Die Zahlen1:

Übersicht: die Zahlen im Detail

  Bayern 2013 Bayern 2014 Veränderung zum Vorjahr

Anzahl der Rezepte ( = Zubereitungen)

6032

5589 (-7,3%)2

- 7,3%
Bruttorezeptsumme

9.339.287€

7.804.714€ - 16,4%
Datenquelle: VSA München (abrechnende Apotheken: 2013:21; 2014:24);

Schon diese Basiszahlen lassen Ungewöhnliches vermuten, fällt doch im Vergleich der Jahre 2014 und 2013 der Wert der Bruttorezeptsumme mehr als doppelt so stark aus als die zu Grunde liegende Anzahl der Rezepte. Berechnet man daraus nun den Verwurf, zeigt sich Erstaunliches: Der Anteil des Verwurfes in Prozent des maximalen Verwurfes sank innerhalb eines Jahres um über 33 Prozent.

  Bayern 2013 Bayern 2014 Veränderung zum Vorjahr
Durchschnittliche, abgerechnete Dosis in mg1 3,06 2,83 -0,23mg
mg Verwurf pro Zubereitung2 0,69 0,46 -0,23mg
Anteil Verwurf in %2 22,55 16,25 (-27,9%)4 -27,9%
Anteil Verwurf in % des maximalen Verwurfes3 61,06 40,71 (-33,3%)4 -33,3%
Berechnet aus dem Bruttoumsatz dividiert durch die Zahl der Zubereitungen, abzüglich 19% MWST, abzüglich Arbeitspreis (79.- bzw. 81.-€), dividiert durch den jeweils gültigen mg-Peis von Janssen Cilag; verwendete Lösungsmittel und Sekundärverpackungen wurden vernachlässigt. 2 Annahme: Die durchschnittliche Patientendosis beträgt 2,37mg. 3 Annahme: Der maximal mögliche Verwurf pro Zubereitung beträgt 1,13mg (=3,5mg – 2,37mg).

Innerhalb der geltenden Rahmenbedingungen ist es unmöglich, den zu beobachtenden Rückgang an abgerechneten Verwürfen zu erklären. Es muss also eine Erklärung geben, die außerhalb der gesetzlichen Vorgaben liegt und die nicht kontrolliert, sondern stillschweigend toleriert wird. Warum könnte das so sein und gefährdet dieser Graubereich womöglich die Gesundheit der Patienten?

Die Rolle der Sozialpartner

In der Folge der 15. AMG-Novelle wurden zwischen dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und dem Deutsche Apothekerverband (DAV) neue Regeln zur Abrechnung parenteraler Zubereitungen vereinbart, die als Einsparziel 300 Millionen Euro generieren sollten. Ein Ergebnis war die Hilfstaxe vom 1.10.2009, die seit dieser Zeit zwar mehrfach erweitert und geändert wurde, aber ihre damalige Grundstruktur weitgehend behielt.

DAV und GKV sind Vertreter der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder, aber nicht zwangsläufig vertraut mit den Details der Herstellung parenteraler Zubereitungen. Sie müssen vorrangig das vorgegebene Einsparziel erreichen und können nur in zweiter Linie die Meinungen und Vorschläge der Fachleute berücksichtigen. Hinzu kommt, dass alle diese Verhandlungen unter einem nicht unerheblichen Zeitdruck stattfanden und stattfinden.

So kam es zu der für alle verbindlichen Verwurfsregelung, die auf den ersten Blick durchaus korrekt und praktikabel erscheint, aber eben einen entscheidenden Konstruktionsfehler enthält: niemand hat die vereinbarten Haltbarkeitsdaten hinterfragt. Mit Ausnahme der in den Anhängen 1 und 2 aufgeführten Wirkstoffe, deren Haltbarkeiten den Angaben der Fachinformationen folgen, wurden für den großen Rest der Wirkstoffe 24 Stunden nach Zubereitung der Stammlösung festgesetzt.

Um es klar zu sagen: diese Regelung ist sicherheitsorientiert und könnte so umgesetzt werden.

Warum wird sie aber in der Realität nicht umgesetzt, wie das Beispiel Bortezomib eindrücklich belegt?

  • Verwürfe stellen für die stets klammen Krankenkassen ein erhebliches Einsparpotential dar. Laut GKV-Spitzenverband wurden 2014 für Verwürfe insgesamt 57 Millionen Euro ausgegeben (zitiert nach: Lena Reseck: Zu viel des Guten. Gesundheitswirtschaft. 4/2015, S. 42).
  • Es gibt jede Menge Publikationen unterschiedlicher Güte und Provenienz, die mit einer hohen Variabilität zum Teil erheblich längere Haltbarkeiten postulieren, für deren Ergebnisse aber keiner der Sozialpartner bereit ist, die Haftung zu übernehmen.

Einsparen kann man nie genug. Deshalb waren einige gesetzliche Krankenkassen, besonders erwähnt sei in diesem Zusammenhang die AOK Bayern, der Meinung, dass die Haltbarkeiten einiger Wirkstofflösungen deutlich länger sind, als es in der Hilfstaxe vertraglich vereinbart ist.

Statt aber nun den zugegebenermaßen schwierigen Weg durch die Gremien zu wählen und zu versuchen, die in der Hilfstaxe vereinbarten Haltbarkeiten zu ändern, üben einzelne Krankenkassen Druck auf die Apotheker aus, die ihrerseits, als zahlenmäßig kleine Gruppe, bei Änderungswünschen zur Hilfstaxe beim DAV kaum gehört werden.

Das einfache Druckmittel der Krankenkassen gegenüber den zubereitenden Apotheken sind Retaxationen, die in diesem hochpreisigen Marktsegment sehr schmerzhaft sein können (siehe Abb. 2). Versuche einzelner Apotheken, sich gegen die Krankenkassen vor den Sozialgerichten zu wehren, enden nicht selten in jahrelangen Prozessen, die viel Zeit, Geld und Nerven kosten und deren Ausgang erfahrungsgemäß unsicher ist. Deshalb geben immer mehr Apotheken dem Druck der Krankenkassen nach und übernehmen, zum Teil wider besseren Wissens, längere Haltbarkeiten.

Abb. 2: Retaxationen können schmerzhaft sein. Durch die rigide Handhabung der Verwürfe liegen beide Zytoapotheken deutlich über dem bayerischen Durchschnitt an Retaxationen. Die zweite Zytoapotheke „knickte“ unter dem finanziellen Druck der Kassen regelrecht ein. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Betriebsergebnis einer Apotheke liegt nach Zahlen der Treuhand Hannover bei ca. 6% vom Nettoumsatz.

Gefährdet dieses Vorgehen die Gesundheit der Patienten?

Sicher sagen kann das bisher letztlich niemand. Datenbanken, wie stabilis 4.0, versuchen zwar, die vorhandene Literatur kritisch zu sichten und nach den Europäischen Guidelines aus dem Jahr 2010 (siehe C. Bardin et al.: Guidelines for the practical stability studies of anticancer drugs: A European consensus conference, Ann. Pharmaceutiques Francaises ( 2011) 69, 221-231) zu bewerten, lehnen aber jede Haftung für ihre Daten ab.

Genauso verhalten sich im Grunde der GKV-Spitzenverband und der DAV, die ihrerseits auf Grundlage der nur schwer zu überblickenden und kaum zu beurteilenden Publikationen nicht bereit sind, verlängerte Haltbarkeiten verbindlich festzulegen. 

In der Praxis entsteht so ein Graubereich, dessen größtes Risiko der ahnungslose Patient trägt. Geht alles gut, sind die Wirkstoffe tatsächlich länger stabil und vor allen Dingen auch noch wirksam, erfüllen sich die Hoffnungen des Patienten auf adäquate Behandlung und die der zubereitenden Apotheker, keinen Fehler begangen zu haben. Andernfalls haften vermutlich nur die Apotheker, da sie sich über die geltenden Rahmenbedingungen hinweggesetzt haben – ein Umstand, der dem geschädigten Patienten aber nicht wirklich weiterhilft.

Aus diesem Dilemma können sich die zubereitenden Apotheken nicht selbst befreien. Ihnen fehlen bei zubereitungspflichtigen Wirkstoffen schlicht verbindliche Haltbarkeiten für die Stammlösungen, die näher an der Realität sind und den verständlichen Einsparwunsch der Krankenkassen berücksichtigen.

(Foto: Marco Herrndorff / Fotolia)

Die Rolle der Industrie

Die zentrale Frage lautet: Warum gibt es bei den Haltbarkeiten der Stammlösungen die beschriebene Diskrepanz zwischen den Angaben des Pharmazeutischen Unternehmers, der Hilfstaxe und einer Vielzahl an Publikationen?

Die Angaben der Hilfstaxe sind, wie schon erwähnt, das Ergebnis der Verhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und DAV. Sie stellen in der Regel eine sicherheitsorientierte Pauschalierung (24 Stunden) dar und fußen auf den einzigen, rechtlich relevanten Datengrundlagen, die GKV und DAV zur Verfügung stehen: den Fachinformationen. Nur für die darin enthaltenen Angaben übernehmen die Hersteller die Haftung. Keiner der Verhandlungspartner ist verständlicherweise bereit, auf Grundlage anderer publizierter Daten die Haftung über Zeiträume jenseits der Angaben der Hersteller zu übernehmen.

Abbauprodukte dem Hersteller bekannt

Die Hilfstaxe ist also ein korrektes und praktikables, aber kaum ressourcenschonendes Verhandlungsergebnis angesichts einer fehlenden, zuverlässigen und rechtlich verbindlichen Datenquelle.

Im besten Fall wäre diese Datenquelle das pharmazeutische Unternehmen, das den Wirkstoff zugelassen und in den Markt gebracht hat und ihn deshalb mit allen seinen Eigenschaften auch am besten kennt. Der Hersteller weiß um mögliche Abbauprodukte seines Wirkstoffes und kann die Gefahren von sich z.B. bildenden Mikroaggregationen oder von Wirkverlusten wegen Strukturänderungen von Proteinen (Antikörpern) beurteilen. Für alle anderen Marktteilnehmer ist der Aufwand zur verbindlichen Ermittlung entsprechender Daten ungleich größer und würde zu einer Verschiebung der Haftung führen.

Allerdings ist das zulassende pharmazeutische Unternehmen rechtlich nicht verpflichtet, adäquate Haltbarkeiten von Stammlösungen anzugeben. Die Interessenslage der Industrie zum Thema ist ambivalent und hängt sehr vom Markt ab.

Originalhersteller, die patentierte Wirkstoffe meist allein vermarkten und konkurrenzlos sind, haben keine Motivation Haltbarkeiten für Stammlösungen anzugeben. Neben den (wahrscheinlich vertretbaren) Kosten für die zusätzlichen Untersuchungen sind weniger Verwürfe gleichbedeutend mit weniger Umsatz, und zwar dauerhaft. Die Angaben in den Fachinformationen sind daher oft deutlich kürzer als die Angaben in der Sekundärliteratur (siehe Tabelle 1 mit 3 Beispielen). 

Ein besonders drastisches Beispiel für das Verhalten von Originalherstellern ist das bereits erwähnte Bortezomib (Velcade® von Janssen Cilag). Obwohl die durchschnittliche Dosis pro Patient bei ca. 2,4 Milligramm Bortezomib liegt, ist seit dem 21.11.2011 nur eine 3,5 Milligramm Packung Velcade® im Markt verfügbar. An diesem Tag wurde die 1mg Packungsgröße von Janssen Cilag aus dem Vertrieb genommen und trotz bestehender Zulassung bislang nicht wieder eingeführt. 

Diese überdimensionierte Packungsgröße führt im Zusammenspiel mit der kurzen Haltbarkeitsangabe für die Stammlösung (8 Stunden laut Fachinformation) zu einem durchschnittlichen möglichen Verwurf von ca. 30 Prozent des Inhaltes. Laut einem Schreiben von Janssen-Cilag seien wegen der vom Hersteller selbst vorgesehen Bestimmung zur Einmalentnahme auch keine weiteren Stabilitätsuntersuchungen jenseits der 8 Stunden notwendig.

Da sich der Arzneimittelpreis zudem auf eine Packung beziehe, entstünden für Janssen-Cilag durch die Verwurfsabrechnung auch keine weiteren Gewinne. Es gäbe ja nur die 3,5 Milligramm-Packung! Rechnet man allerdings die vorgelegten bayerischen Zahlen hoch, dürfte der bundesweite (Mehr-) Umsatz von Janssen Cilag allein durch den abgerechneten Verwurf der Jahre 2013 und 2014 bei deutlich über 20 Millionen Euro brutto liegen.

Sobald der Wirkstoff patentfrei wird, ändert sich die grundsätzliche Einstellung der Industrie zu diesem Thema. Natürlich bleibt die Umsatz- und Gewinnorientierung bestehen, aber nun kann es aus Marketinggründen von Vorteil sein, längere Haltbarkeiten für zubereitete Stammlösungen anzugeben. Deshalb geben Generika- oder Biosimilarfirmen oft deutlich längere Haltbarkeiten an als sie ursprünglich, vor Patentablauf, waren.

Ein gutes Beispiel hierfür liefert der Wirkstoff Infliximab:

Das Original, Remicade®, stammt von der Firma MSD. Seine Fachinformation gibt 24 Stunden als Haltbarkeit für die zubereitete Stammlösung an – ein Wert, der damit exakt der Hilfstaxenpauschale entspricht.

Seit Kurzem gibt es dazu im Markt zwei Biosimilars, die zwar ebenfalls Infliximab enthalten, aber nicht gänzlich identisch sind, sondern aus einer anderen Zelllinie biotechnologisch hergestellt werden: Remsima® von Mundipharma und Inflectra® von Hospira.

Die Anwendungen und praktisch die gesamte Fachinformation sind identisch. Sie werden auch vom selben koreanischen Hersteller (Celltrion) produziert und sind deshalb wirkstoffgleich. Trotzdem hat nur der Hersteller Hospira auf Nachfrage schriftlich bestätigt, dass sein Wirkstoff über 21 Tage seine physikalisch-chemische Stabilität und seine biologische Aktivität behält. Diese Information ist allerdings nicht in der Fachinformation enthalten, dient aber bereits jetzt als Verkaufsargument gegenüber den Mitbewerbern. Deshalb verbleibt natürlich die Haftung für die verlängerte Haltbarkeit bei der herstellenden Apotheke.

Ebenso verhält es sich mit vielen anderen generischen Wirkstoffen (siehe Tabelle 2 mit 3 Beispielen). 

So bestätigen die drei großen Generikahersteller, Puren (früher: Actavis), Teva und Hexal für den Wirkstoff Docetaxel übereinstimmend 28 Tage Haltbarkeit für angebrochene Stammlösungen. Leider finden sich diese Angaben zurzeit nicht in den Fachinformationen wieder und damit auch nicht in der für die zubereitenden Apotheken verbindlichen Hilfstaxe. Docetaxel beispielsweise fällt in der Hilfstaxe noch immer unter die 24 Stunden-Regelung.

Bei der Datenlage in der Sekundärliteratur ist es verständlich, dass die Krankenkassen drängen, längere Haltbarkeiten bei der täglichen Arbeit zugrunde zu legen. Schließlich bezahlen sie im Auftrag der Versicherten den unvermeidlichen Verwurf und haben deshalb, wie oben beschrieben, ein vitales Interesse diesen Verwurf möglichst gering zu halten. Sie müssen sparen, aber natürlich wollen und dürfen sie keinesfalls die Gesundheit ihrer Mitglieder gefährden. Deshalb wird auch keine Krankenkasse schriftlich längere Haltbarkeiten festsetzen, da sie dann dafür die Haftung übernehmen müsste.

In einer ähnlichen Situation befinden sich die zubereitenden Apotheken. Sie müssten sich aus den genau gleichen Haftungsgründen eigentlich an die Vorgaben der Hilfstaxe halten. Verlängern sie auf Druck einzelner Krankenkassen und oder auf Basis rechtlich unverbindlicher Publikationen/Messungen die Haltbarkeiten der Stammlösungen, gefährden sie zum einen möglicherweise die Gesundheit der Patienten und stehen zum anderen im Falle eines Falles vermutlich allein in der Haftung.

Das Haftungsproblem ist also der zentrale Punkt, um den alles kreist. Weder die Krankenkassen und der GKV-Spitzenverband noch die herstellenden Apotheken und der DAV verfügen über die Mittel, das Know-how und den Willen derartige Untersuchungen durchzuführen oder Publikationen zum Thema verbindlich zu bewerten. Und deutlich gesagt: es ist auch nicht ihre Aufgabe.

Die Industrie auf der anderen Seite erklärt sich primär für nicht zuständig und handelt vorrangig nach Marketinggesichtspunkten. Sie ducken sich im Fall der Originalhersteller unter der Last ihrer Gewinne weg und konkurrieren als Generikahersteller andererseits mit deutlich längeren Haltbarkeiten, die allerdings im Unverbindlichen verbleiben.

Was aber sind die möglichen Folgen für den Patienten? Wie steht er zu der ganzen Sache?

Der Patient als unwissender Verbraucher

Stabilitätsfragen bei der Zubereitung parenteraler Infusionslösungen sind eigentlich nicht die Sache des Patienten. Aber als Betroffener, als Verbraucher hat er ein hohes Interesse an einem korrekten Umgang mit den Wirkstoffen, die er verabreicht bekommt. Bisher vertraut er dem Gesundheitssystem und seinen Kontrollmechanismen. Er wird aber nicht so informiert, dass er sich selbst ein korrektes Bild machen könnte und ist daher völlig ahnungslos.

Der Patient kann nicht wissen, dass sich hier ein Modus Vivendi herausgebildet hat, der sich stillschweigend als unkontrollierter Graubereich etabliert hat und das eigentliche Risiko bei ihm belässt:

Die Industrie verweist in allen Stabilitätsfragen auf ihre Fachinformationen und entzieht sich elegant jeder Diskussion, aber auch ihrer Verantwortung.

Die Verhandlungspartner, GKV-Spitzenverband und DAV, können eine praktikable, wenn auch kostspielige Lösung vorweisen, an die sich auf finanziellen Druck der Krankenkassen aber viele zubereitende Apotheken nicht halten, eine Tatsache, die wiederum in der Verhandlungsrunde sehenden Auges ignoriert wird. Es fehle an Durchgriffsmöglichkeiten, so die resignierende Aussage.

Den zubereitenden Apotheken ihrerseits geht es vorrangig um die Bezahlung der eingesetzten Arzneimittel, wobei es ihnen letztlich egal ist, ob diese als unvermeidlicher Verwurf abgerechnet oder für die Zubereitung der nächsten Infusion verwendet werden.

Die Krankenkassen klammern die Haftungsfrage aus und sind über jede Einsparung froh. Und jeder für sich hofft, dass nichts passiert und kein Patient gesundheitlichen Schaden davon trägt. 

Wäre der Patient über die Situation besser aufgeklärt, ließe sich seine Haltung zum Thema ziemlich sicher vorhersagen: Welcher Patient wäre beispielsweise mit der Applikation einer nach Herstellerangaben acht Stunden haltbaren Infusion einverstanden, wenn er wüsste, dass die Stammlösung bereits vor 21 Tagen zubereitet wurde? Dabei ist kaum anzunehmen, dass ihn Hinweise auf Publikationen anderer Institutionen mit längeren Haltbarkeiten umstimmen würden.

Zumindest müsste man den Patienten vor der Applikation solcher Lösungen korrekterweise darüber aufklären. Wer aber sollte das tun? Und kann man das überhaupt wollen? Nicht nur würde in einem solchen Fall das Vertrauen in die Behandlung massiv erschüttert, der Patient hat (als Beitragszahler und letztendlich als Kunde) auch einen Anspruch auf eine korrekt zu erbringende Leistung, die ja zudem voll bezahlt wird. Schließlich kann niemand eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch inaktive Wirkstoffe oder beispielsweise toxische Abbauprodukte gänzlich ausschließen. Deshalb übernimmt, wie wir gesehen haben, auch niemand die Haftung für diese Angaben.

Alle diese Folgen können nicht im Interesse der Beteiligten sein. Sie müssen dringend im Sinne einer sicheren Arzneimitteltherapie geregelt werden. Wie groß das Ausmaß der Verwendung erweiterter Haltbarkeiten in der Praxis tatsächlich ist, kann man nur erahnen (siehe Abb. 3).

Abb. 3: Abgerechnete Verwürfe je Wochentag in Prozent der Gesamtzubereitungen je Wochentag: Bei konsequenter Umsetzung der Hilfstaxe wäre am Freitag ein deutlicher Anstieg der Zahl der abgerechneten Verwürfe1 zu erwarten, da fast alle Praxen Samstag und Sonntag geschlossen haben und die meisten Anbrüche nur 24 Stunden weiterverwendet werden dürften. Zudem zeigt sich erneut eine deutliche Verminderung der abgerechneten Verwürfe in 2015 zum Vorjahr 2014.

¹ Datenquelle: VSA München

Eine im Jahr 2014 veröffentlichte Umfrage unter deutschen Krankenhausapotheken ergab ein ähnliches Bild: nur 8,3 Prozent der Teilnehmer gaben an, sich streng an die Fachinformationen der Hersteller zu halten – eine doch ziemlich bedenkliche Zahl[1]. Da aber eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie zur verbindlichen Angabe valider und ressourcenschonender Daten wohl nur Wunschdenken bleiben wird, ist der Gesetzgeber gefordert.

Ein Blick in die nicht allzu ferne Zukunft zeigt, dass die Zahl der Neueinführungen von zum Teil sehr teuren Medikamenten - wie Antikörpern, die ebenfalls nur sehr kurze Haltbarkeiten aufweisen oder/und nur für kleine Patientengruppen bestimmt sind – zunehmen wird. Auch hier wird es bei der aseptischen Zubereitung unmöglich sein, Verwürfe zu vermeiden. Der kostensparende Ausweg kann aber nicht sein, die Haltbarkeiten auf Grundlage nicht eindeutig fundierter Publikationen mehr oder weniger willkürlich zu verlängern.

Gelöst werden kann dieses Dilemma nur vom Gesetzgeber, der die pharmazeutischen Unternehmen zwingen kann, im Rahmen der Zulassung bei zubereitungspflichtigen Wirkstoffen Haltbarkeiten für die Stammlösungen bei korrekter aseptischer Zubereitung in den Fachinformationen anzugeben, die eine adäquate Durchführung der Therapie ermöglichen. Beispielsweise könnten Haltbarkeitsuntersuchungen über mindestens vier Wochen gefordert werden. In jedem Fall wäre die Haltbarkeit des zubereiteten Wirkstoffes in die Kosten-Nutzen-Bewertung des Arzneimittels und damit in die Preisfindung vor Zulassung im Markt einzubeziehen.

Diese Maßnahme allein reicht jedoch nicht aus. Es muss auch sichergestellt werden, dass die Angaben der Fachinformation, für die der Hersteller die Haftung übernimmt, möglichst schnell in die Systematik der Hilfstaxe übernommen werden. Letztere ist die einzige haftungsrelevante Angabe für die herstellende Apotheke.

Berücksichtigt man alle diese Punkte verbleiben zwei Kernforderungen:

  • Die Hilfstaxe ist von den Sozialpartnern für die Fachinformationen der Hersteller zu öffnen und
  • die Hersteller sind vom Gesetzgeber zur Angabe von relevanten Haltbarkeiten (beispielsweise: bis 97 Prozent des wirksamen Arzneistoffes oder mindestens vier Wochen) unter Anwendungsbedingungen in den Fachinformationen zu verpflichten.

Letzteres sollte bereits im Rahmen des Zulassungsprozesses erfolgen, da die Stichhaltigkeit der Angaben dann vom BfArM geprüft wird.

[1] Rainer Trittler et al.: Umgang mit Stabilitätsdaten zur Zytostatikaproduktion in deutschen Krankenhausapotheken. Ergebnisse einer Umfrage. In: Krankenhauspharmazie 2014; 35: 148-150


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