Hohe Erfolgsraten dank neuer Technologien

Wie künstliche Intelligenz die Biopharmazie beflügelt

23.09.2024, 17:50 Uhr

Die KI-basierten Entwicklungen resultieren in einer steigenden Forschungs- und Entwicklungs-Produktivität der Pharma- und Biotechbranche. (IMAGO / Cavan Images)

Die KI-basierten Entwicklungen resultieren in einer steigenden Forschungs- und Entwicklungs-Produktivität der Pharma- und Biotechbranche. (IMAGO / Cavan Images)


Der vermehrte Einsatz von Künstlicher Intelligenz schlägt sich in der Pharma- und Biotechindustrie in einer höheren Produktivität von F&E, zunehmenden Arzneimitteleinführungen und mehr Finanzmitteln nieder. Das Jahr 2024 könnte nach Einschätzung von Branchenkennern unter diesen Vorzeichen „beein­druckende Ergebnisse“ liefern. 

Künstliche Intelligenz (KI) durchdringt nicht nur unser tägliches Leben, sondern hat auch zunehmenden Einfluss auf die Entwicklung neuer Pharma-Wirkstoffe. So haben Wissenschaftler der University of California (UC) San Diego kürzlich einen Algorithmus für maschinelles Lernen entwickelt, der die zeitaufwendigen chemischen Prozesse in den ersten Phasen der Arzneimittelentdeckung simuliert. Während die Identifizierung von Wirkstoffkandidaten in der Regel Tausende von Einzelexperimenten erfordert, kann die neue KI-Plattform namens Polygon dieselben Er­gebnisse in einem Bruchteil der Zeit liefern, heißt es in einem Bericht in „Nature Communications“.

In einer konkreten Anwendung nutzten die Forscher das neue Tool, um 32 neue Arzneimittelkandidaten für Krebs zu synthetisieren. Polygon, so das Fachmagazin, könnte die Pharmaentwicklung erheblich rationalisieren und Wege für neue Behandlungsmöglichkeiten öffnen.

„Vor ein paar Jahren war KI in der Pharmaindustrie noch ein Schimpfwort, aber jetzt geht der Trend eindeutig in die entgegengesetzte Richtung. Für Biotech-Startups wird es immer schwieriger, Geld zu beschaffen, wenn sie KI nicht in ihrem Geschäftsplan berücksichtigen“, so der Hauptautor des Beitrags, Trey Ideker, Professor am Fachbereich Medizin der UC San Diego School of Medicine und außerordentlicher Professor für Bioingenieurwesen und Informatik.

Wie die Einbindung von KI in die Biopharmaforschung konkret aussehen kann, zeigt eine aktuelle Kooperation des US-Pharmakonzerns Eli Lilly mit Genetic Leap. Dabei handelt es sich um ein in New York ansässiges und auf KI basierendes Techbio-Unternehmen, das Innovationen im Bereich der künstlichen Intelligenz und der genetischen RNA-Medizin entwickelt. In der Forschungszusammenarbeit soll die KI-Plattform von Genetic Leap genutzt werden, um Oligonukleotid-Medikamente gegen von Lilly ausgewählte Targets zu entwickeln.

Produktivität in Forschung und Entwicklung hat sich erholt

Die technologischen, vor allem KI-­basierten Entwicklungen resultieren mittlerweile in einer steigenden Produktivität von Forschung und Entwicklung (F&E) der Pharma- und Biotechbranche. Wie das IQVIA Institute for Human Data Science berichtet, hat sich die globale F&E-Produktivität in der Biopharma-Branche im Jahr 2023 auf das Vor-Pandemieniveau erholt. Die höheren Erfolgsraten seien dabei vor allem durch daten- und techno­logiegetriebene Innovationen wie neue Studiendesigns, digitale und dezentrale Studienmethoden sowie die optimierte Nutzung von Biomarkern möglich geworden, so die Branchenstudie mit dem Titel „Global Trends in R&D 2024: Activity, Productivity, and Enablers“.

„Die Verbesserung der klinischen Produktivität war in allen Therapiebereichen bemerkenswert, insbesondere in den Phasen I und III als auch bei den behördlichen Überprüfungen“, stellt Murray Aitken fest, Executive Director des IQVIA Institute for Human Data Science. Bemerkenswert sei, dass auch die Regulierungsbehörden zum höheren Output der Biopharmabranche beitragen. So weist IQVIA darauf hin, dass die Regulierungsbehörden vielfach Änderungen vornehmen, die zu mehr Vereinfachung, Transparenz und Geschwindigkeit führten und von der Industrie als positiv aufgenommen würden. Aitken: „Diese Entwicklung spiegelt nicht nur den branchenweiten Einfallsreichtum wider, sondern auch die Akzeptanz der Zulassungsbehörden gegenüber innovativen Daten und technologiegestützten Hilfsmitteln im Hinblick auf das Studiendesign und die digitale Studiendurchführung.“

Das schlägt sich auch in den Zulassungszahlen nieder. So wurden den Angaben zufolge im Jahr 2023 weltweit 69 neuartige Wirkstoffe (novel active substances, NAS) auf den Markt gebracht ‒ sechs mehr als im Vorjahr. Dabei zeigte sich eine Verlagerung der klinischen Entwicklungsprogramme großer Biopharmaunternehmen von der Immunonkologie hin zu Hotspots wie Zell- und Gentherapien, Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten (ADCs) sowie multispezifischen Antikörpern und Adipositastherapien.

Auch die weltweite Finanzierung der biopharmazeutischen Forschung und Entwicklung hat zuletzt zugenommen ‒ von 61 Milliarden Dollar im Jahr 2022 auf 72 Milliarden Dollar in 2023. In der gleichen Zeit stiegen außerdem die Übernahmeaktivitäten (M&A) in der Branche von 78 Milliarden Dollar auf 140 Milliarden Dollar. Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: Die Zahl neu gestarteter klinischer Testreihen fiel im Jahr 2023 gegenüber 2022 um 15 Prozent niedriger aus – eine Entwicklung, die zu einem erheblichen Teil auf einen Rückgang von COVID-19-Studien zurückzuführen ist.

Risiko durch geopolitische Spannungen

Das Beratungsunternehmen PwC beschreibt die Situation für die biopharmazeutische Industrie vor diesem Hintergrund in vielerlei Hinsicht positiv, wenn auch nicht immer sonnig. Zwar habe man im letzten Jahr Durchbrüche bei der Entwicklung von Impfstoffen, Krebsbehandlungen, GLP-1-Medikamenten als auch bei Gentherapien und Gen-Editing-Technologien für seltene Krankheiten sowie neuen Behandlungen für komplexe Krankheiten wie Alzheimer gesehen. Die Herausforderung liege aber darin, dass Rahmenbedingungen wie Inflation, vergleichsweise hohe Zinsen, neue Steuerregeln und ein zunehmend bedrohliches geopolitisches Umfeld die Bilanzen der Pharma- und Biotechunternehmen belasten, so PwC.

So würden beispielsweise auf dem weltweit größten Pharmamarkt USA die Kosten für den Geschäftsbetrieb der Unternehmen steigen, während die Preise für einige der am häufigsten verwendeten Medikamente aufgrund des US Inflation Reduction Acts unter Druck stünden.

KI-Training mit mehr als einer Million Molekülen

Mit derartigen Widrigkeiten müssen sich die KI-Wissenschaftler der UC San Diego nicht auseinandersetzen. UC-Professor Ideker weist darauf hin, dass die wenigen Medikamente mit mehreren Wirkansätzen in der Vergangenheit weitgehend durch Zufall entdeckt wurden, die Entwicklung viele Jahre dauerte und Millionen von Dollar kostete. Die KI-gestützte Technologieplattform der University of California könnte hingegen dazu beitragen, den Zufall aus der Gleichung zu nehmen und eine neue Generation von Präzisionsmedizin erschaffen. Auf dem Weg dorthin trainierten die Forscher Polygon mit einer Datenbank von über einer Million bekannter bioaktiver Moleküle, die detaillierte Informationen über deren chemische Eigenschaften und Wechselwirkungen mit Proteinzielen enthält.

Biopharma-Manager blicken optimistisch in die Zukunft

Angesichts der Möglichkeiten durch technologische Entwicklungen scheinen auch die Biopharma-Manager selbst die Zukunft überwiegend optimistisch zu sehen. Nach einer Umfrage der Unternehmensberatung Horváth Life Sciences blicken diese sehr zuversichtlich auf die Jahre 2024 und 2025. Über 80 Prozent der Führungskräfte in der Pharma-, Medizintechnik- und Biotechnologiebranche würden für das laufende Jahr ein Gewinnwachstum erwarten, über 90 Prozent für das kommende Jahr. Und etwa jedes zweite Unternehmen erwartet einen Gewinnanstieg von mehr als 5 Prozent in diesem und von 70 Prozent im nächsten Jahr.

Nach Einschätzung von PwC könnten die Unternehmen dieses Momentum nutzen, um ihre „Renditen neu zu erfinden“ und freie Finanzmittel für künftige Innovation zu nutzen. Außerdem dürften sie ihre F&E-Ausgaben verstärkt auf „weiße Flecken“ verlegen, ihre Produktentwicklung mittels KI beschleunigen und die Betriebs­kosten senken. Das Jahr 2024 könnte damit sowohl für Patienten als auch für Investoren „beeindruckende Ergebnisse“ liefern.

Durchaus möglich, dass KI-Plattformen wie die der Wissenschaftler aus San Diego dabei eine wichtige Rolle spielen. Ideker: „Es wird sehr spannend sein zu sehen, welchen Einfluss diese Entwicklungen in den nächsten zehn Jahren sowohl auf die Wissenschaft als auch auf die Privatwirtschaft haben werden. Die Möglich­keiten sind praktisch endlos.“


Thorsten Schüller, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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