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INTERPHARM 2023
Maßnahmen gegen Lieferengpässe: „Paracetamol aus Frankreich ist eine Mogelpackung“
„Nicht lieferbar!“, wenn Mitarbeiter:innen in der Apotheke das lesen oder hören, steigen in den meisten wahrscheinlich negative Emotionen auf – zu allgegenwärtig ist das Problem geworden. Doch was hat den Arzneimittelmarkt eigentlich zu dem gemacht, was er heute ist? Lassen sich die Risiken und Folgen globaler Märkte wieder zurückdrehen? Dieser Fragestellung widmete sich Dr. Uwe Weidenauer am heutigen Freitag auf der INTERPHARM in Göttingen.
In der heutigen arbeitsteiligen Welt wird (so gut wie) nichts mehr vom Rohstoff bis zum Endprodukt an einem Ort produziert. Dr. Uwe Weidenauer sprach am heutigen Freitag auf der INTERPHARM in Göttingen von „weltumspannenden Lieferketten“ und deren Folgen für unsere Arzneimittelversorgung. Um zu erklären, wie es zu der heutigen Engpass-Situation gekommen ist, warf er einen historischen Blick zurück auf die Entstehung unserer Pharmaindustrie.
Nach dem zweiten Weltkrieg und dem folgenden Wirtschaftswunder hat sich nicht nur die Pharmaindustrie zunehmend spezialisiert: „Jeder macht das, was er am besten kann – und dadurch auch effizient“, kommentierte Weidenauer unsere heute übliche Arbeitsteilung in der Welt. Diese Entwicklung ist also nicht per se etwas schlechtes, doch sie ist stark auf eine gut funktionierende Logistik angewiesen, diese sei ein „häufiger Knackpunkt, warum Dinge fehlen“. Alle würden noch die Bilder aus der Corona-Pandemie kennen, wie sich Container etwa am Hafen von Shanghai stauten.
Fertigarzneimittel seit 100 Jahren, Rabattverträge seit 2007
Es gab eine Zeit, als Apotheker:innen als „Pillendreher“ noch wirklich selbst Arzneimittel herstellten, tatsächlich gebe es Fertigarzneimittel erst seit gut 100 Jahren, erinnerte Weidenauer. Die Arzneimittelhersteller erwuchsen dabei nach dem zweiten Weltkrieg aus Unternehmen mit einem „ganz anderen Hintergrund“ als der Pharmazie – etwa aus der Teer-Chemie, der Farbstoffindustrie –, aber auch aus öffentlichen Apotheken. Doch auf das Wirtschaftswunder folgten schließlich auch Wirtschaftskrisen, die Politik wurde zu Reformen gezwungen, die schließlich auch den Arzneimittelmarkt auf den Wettbewerb ausrichteten. Solche Strukturreformen hätten zwar Innovationen geschaffen, aber auch den Preis gedrückt, so Weidenauer. Zugespitzt mündete diese Entwicklung wohl 2007 in die Einführung der Rabattverträge. Es entstand ein Kostendruck, der sich am besten anhand der aktuellen Engpässe bei Fiebersäften verdeutlichen lässt. Denn auch wenn sich die Situation verbessert hat, gelöst wurde das Problem durch die kurzfristigen politischen Maßnahmen langfristig nicht, viel mehr wurde es auf andere Märkte umverteilt.
Während die Einführung der Rabattverträge den allermeisten Apotheker:innen noch sehr präsent sein dürfte, wissen wahrscheinlich weniger, dass das erste Institut für Pharmazeutische Technologie erst 1959 eröffnet wurde. Dieser Schritt war laut Weidenauer bedeutend, weil sich damit in der Pharmazie die Technologie von der Chemie abspaltete – woraus am Ende vor allem „der Job der Generika-Hersteller“ wurde. Während also die ersten Fertigarzneimittelhersteller in Deutschland aus der Richtung der Rohstoff- und Chemie-Industrie kamen, konzentrierten sich die Generikafirmen vor allem auf die physikalischen Prozesse bei der Arzneimittelherstellung.
Ungefähr in den 80er-Jahren nahmen so die Generika-Industrie – nach Überwindung einiger Hürden – und die Globalisierung der Pharmaindustrie an Fahrt auf. 1994 vereinfachte beispielsweise das „Certificate of Suitability“ (CEP) den Generika-Herstellern schließlich die Arzneimittelzulassung. Allgemeine Bekanntheit hat das CEP im Sommer 2018 durch die Nitrosamin-Krise erlangt. Das CEP belegt, dass eine Monographie des Europäischen Arzneibuchs geeignet ist, die Qualität eines Wirkstoffes angemessen zu prüfen. Doch wer sich an die Nitrosamin-Krise erinnert, weiß, dass auch hier die häufig in Asien verorteten Wirkstoffproduzenten für Arzneimittelhersteller in anderen Regionen der Erde zum Problem werden können, wenn deren Wirkstoffe beispielsweise verunreinigt oder aus anderen Gründen nicht lieferbar sind.
Nicht nur an die Wirkstoffe denken!
Allerdings: In der Wertschöpfungskette gilt es neben den Wirkstoffen auch an deren Vorstufen und die Rohstoffe sowie Hilfsstoffe als mögliche Engstellen für Lieferengpässe zu denken. Als Beispiel nannte Weidenauer die vergangenen Tamoxifen-Engpässe. Hier soll vor allem ein anorganischer Hilfsstoff zum Lieferengpass geführt haben. Der Engpass sei so unvorhersehbar aufgetreten, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gar keine Chance gehabt habe, präventiv gegenzusteuern.
Wer also denkt eine Paracetamol-Produktion in Frankreich, wie sie bald wiederaufgenommen werden soll, sei eine gute Idee, der muss sich laut Weidenauer bewusst machen: „Paracetamol aus Frankreich ist eigentlich eine Mogelpackung.“ Denn die Vorstufen für die Wirkstoffherstellung würden weiterhin aus China bezogen. Selbst Wirkstoffhersteller in Indien würden gewisse Vorstufen nur aus China einkaufen. Erst die Wirkstoffherstellung unterliegt der Arzneimittel-Wirkstoff-Herstellungs-Verordnung (AMWHV) und damit der behördlichen Überwachung.
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Der Markt erscheint also oft vielfältiger als er ist, weil die verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen teils nur von wenigen Wirkstofflieferanten und Lieferanten des Ausgangsmaterials abhängig sind.
Hinzu kommen auch andere, beispielsweise psychologische Effekte, die zu einem plötzlichen Anstieg der Nachfrage im Markt führen können. Das haben alle während der Corona-Pandemie am eigenen Leib erfahren. Am Beispiel des aktuellen Amoxicillin-Engpasses verdeutlichte Weidenauer zudem, wie die Situation sich noch vor Corona und der Energiepreis-Explosion darstellte, und wie letztere schließlich das aktuelle Amoxicillin-Marktgefüge weltweit gesprengt hat. Die Folgen spüren wir aktuell alle angesichts der Antibiotika-Engpässe.
Lässt sich das Lieferengpass-Problem irgendwie lösen?
Wer Weidenauers Schilderungen auf der INTERPHARM gefolgt ist, wird vermutlich zu dem Schluss kommen, dass es sich bei den Lieferengpässen um ein hochkomplexes Problem handelt, für das es keine einfachen Lösungen gibt. Eine wissenschaftliche Initiative der Julius-Maximilians-Universität Würzburg untersucht deshalb neuerdings unter dem Namen EThICS-EU-Programm (Essential Therapeutics Initiative for Chemicals Sourcing for the European Union) Maßnahmen, welche die Arzneimittelversorgung in Europa sichern könnten. Weidenauer ist Teil dieser Initiative. Die DAZ berichtete bereits darüber:
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