Phosphoglykolat-Phosphatase

Krebs-Therapie über die Flanke – neue Angriffspunkte auf Nebenschauplätzen

Düsseldorf - 12.12.2022, 09:15 Uhr

Werden die für Reparatur- oder Entgiftungsprozesse verantwortlichen Enzyme identifiziert und mit pharmakologischen Wirkstoffen blockiert, schädigt das besonders Zellen mit hochaktivem Stoffwechsel, wie Krebszellen. (Illustration: Kateryna_Kon / AdobeStock)

Werden die für Reparatur- oder Entgiftungsprozesse verantwortlichen Enzyme identifiziert und mit pharmakologischen Wirkstoffen blockiert, schädigt das besonders Zellen mit hochaktivem Stoffwechsel, wie Krebszellen. (Illustration: Kateryna_Kon / AdobeStock)


Ein Team von Wissenschaftlern der Universität Würzburg und zweier Leibniz-Institute konnte jetzt zeigen, dass es noch ganz neue, bislang ungenutzte Angriffspunkte für Wirkstoffe gibt, um Krebszellen in ihrem Wachstum zu hemmen. Prototypisch suchten sie Inhibitoren für die Phosphoglykolat-Phosphatase, die als Reparaturenzym im Glucose-Stoffwechsel wirkt.

Auch in unseren Zellen funktioniert nicht immer alles gradlinig – nicht einmal in so wichtigen Stoffwechselwegen wie der Glykolyse, dem Vorgang, durch den Zellen etwa aus Glucose Energie gewinnen. Zahlreiche Enzyme sind an dem Weg mit seinen Zwischenstufen beteiligt und nicht alle davon reagieren vollkommen „sortenrein“. Neben chemisch gespeicherter Energie in Form vor allem der zellulären Energiewährung ATP (Adenosintriphosphat) entstehen so auch mehrere Nebenprodukte. Viele davon lassen sich verwerten und dienen etwa als Vorläufer für molekulare Bausteine in der Zelle. Einige aber sind eher störend, weil sie sehr reaktiv oder gar toxisch sind oder weil sie andere Enzyme zu hemmen vermögen. Allerdings hat die Evolution Reparaturmechanismen entstehen lassen, die diese Stoffe entweder eliminieren oder sie idealerweise wieder zu etwas Nützlichem umwandeln.

Mehr zum Thema

Was aber, wenn diese Reparaturmechanismen gestört sind? Dann häufen sich die Abfallprodukte an und blockieren schließlich das gesamte System – bis hin etwa zum Tod der Zelle. An dieser Stelle setzt die Arbeit eines Forschungsteams um die Professorin für Biochemische Pharmakologie Antje Gohla am Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg an. Gemeinsam mit Teams des Rudolf-Virchow-Zentrums (RVZ) für Integrative und Translationale Bildgebung sowie vom Leibniz Institut für Molekulare Pharmakologie-FMP Berlin und dem Leibniz Institut für Analytische Wissenschaften-ISAS Dortmund haben die Forscher ihre Ergebnisse jetzt im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht.

Besonders Krebszellen haben einen hohen Energiebedarf und sind so angreifbar

Denn besonders Krebszellen, die schnell und unkontrolliert wachsen, haben einen enormen Bedarf an Energie und Bausteinen für ihr Wachstum. Greift man also bei diesen Zellen in den Energiestoffwechsel ein – möglichst ohne den gesunder Zellen ebenfalls zu blockieren – kann man das Wachstum von Tumorzellen erheblich bremsen. „Das Neuartige unseres Konzepts besteht darin, dass die Hauptstoffwechsel-Enzyme, die in allen gesunden Zellen wichtig sind, nicht direkt angegriffen werden. Stattdessen nehmen wir Stoffwechsel-Nebenwege ins Visier, über die nutzlose oder schädliche Seitenprodukte des zellulären Stoffwechsels repariert und dann wiederverwertet, oder auch entgiftet werden“, erklärt Gohla.

„Wenn es gelingt, die für Reparatur- oder Entgiftungs-Prozesse verantwortlichen Enzyme zu identifizieren und mit pharmakologischen Wirkstoffen zu blockieren, schädigt das besonders solche Zellen, die einen hochaktiven Stoffwechsel haben. Das trifft auf viele aggressive Tumorzellen zu. Soweit wir bisher gesehen haben, können gesunde Zellen mit einer gewissen Menge von Stoffwechsel Abfallprodukten scheinbar gut fertig werden“, erklärt die Forscherin. Die so nun gefundenen Wirkstoffe seien auch nicht per se zytotoxisch, sagt sie. „Es ist also eine Art maßgeschneiderte Blockade, die bedarfsgerecht auf einen pathologisch erhöhten Stoffwechsel in erkrankten Zellen abzielt“, sagt Gohla.

Angriff auf die Phosphoglykolat-Phosphatase als Test für das Konzept

Als eine Art „Proof of concept“, ob diese Reparaturenzyme überhaupt pharmakologisch angreifbar – drugable – sind, haben sich die Würzburger und ihre Kooperationspartner:innen das Enzym Phosphoglykolat-Phosphatase (PGP) vorgenommen. Die PGP ist ein in allen menschlichen Zellen exprimiertes Enzym, das außerdem in der Natur überhaupt weitverbreitet ist. Entdeckt hat man es ursprünglich in Pflanzen, wo es die gleiche Funktion hat wie in menschlichen Zellen – es greift reparierend in den Energiestoffwechsel ein, in dem es ein unerwünschtes Nebenprodukt recycelt. Es katalysiert hauptsächlich namensgebend die Reaktion, in der aus dem Nebenprodukt 2-Phosphoglykolat wieder verwertbares Glykolat und Phosphat entstehen. Das 2-Phosphoglykolat entsteht bei Pflanzen als Nebenprodukt bei der Photorespiration und unter anderem beim Menschen als Nebenprodukt in der Glykolyse durch die Pyruvatkinase.

2-Phosphoglykolat selbst ist ein Inhibitor anderer Enzyme, wie etwa der Phosphofruktokinase oder der Triosephosphatisomerase. Außerdem baut PGP aber auch 2-Phospho-L-Laktat and 4-Phosphoerythronat ab, die neben der Glykolyse weitere Stoffwechselwege wie den Pentosephosphatweg blockieren können. „Wir konnten erstmals einen Wirkstoff identifizieren, der zielgerichtet die Aktivität der Phosphoglykolat-Phosphatase hemmt, eines wichtigen Reparatur-Enzyms im Zuckerstoffwechsel“, sagt Gohla. Im Reagenzglas hätten diese Wirkstoffe wie erhofft die Vermehrung von Tumorzellen blockiert, sagt sie.

PGP kommt in allen Zellen des Körpers vor. In Skelett- und Muskelzellen unter anderem dem Herzen wird es besonders stark exprimiert. Außerdem ist es ein Beispiel für Proteinpolymorphismus – es gibt sechs verschiedene Enzymmuster, die man etwa bei Verwandtschaftstest identifiziert.

Röntgenstrukturanalyse und Hochdurchsatzscreenings gemeinsam mit Kooperationspartnern

Die Wissenschaftler gingen bei der Suche nach einem Inhibitor systematisch vor und nutzten die verschiedenen Fachkompetenzen ihrer Kooperationspartner. So steuerte etwa das Team um Professor Hermann Schindelin vom Rudolf-Virchow-Zentrum die Aufklärung der dreidimensionalen Struktur der Phosphoglykolat-Phosphatase im Komplex mit dem Wirkstoff mittels Röntgenkristallstrukturanalyse bei. „Die Visualisierung des Wirkstoffs in räumlicher Nachbarschaft zum aktiven Zentrum erklärt nicht nur die enzymkinetischen Daten, sondern liefert vor allem einen Startpunkt für die zukünftige Entwicklung einer neuen Generation von Hemmstoffen mit verbesserten Bindungseigenschaften“, erklärt der Strukturbiologe.

Mit einem Hochdurchsatz-Screening identifizierten die Forscher so einen CP1 genannten sehr spezifischen Inhibitor für die PGP. „Dass CP1 sehr spezifisch für PGP ist, und verwandte Phosphatasen aus derselben Familie oder auch strukturell völlig andersartige Phosphatasen nicht inhibiert, haben wir in der Publikation im Detail belegen können“, erklärt Gohla. Der Schlüssel für diese Spezifität liege möglicherweise darin, dass CP1 zwar in räumlicher Nähe zum aktiven Zentrum der Phosphatase binde, aber mehr mache als nur die natürlichen Substrate des Enzyms kompetitiv zu verdrängen. „Offenbar spielen auch sogenannte allosterische Effekte eine wichtige Rolle, denn der Inhibitor verändert die räumliche Struktur der Phosphatase, und arretiert das Enzym in einem funktionell inkompetenten Zustand. Man weiß von vielen anderen Arzneistoffen, dass allosterische Hemmstoffe ein ausgezeichnetes Spezifitätsprofil haben können. Für die Familie von Phosphatasen, zu der PGP gehört, ist diese Erkenntnis allerdings neu. Uns macht das große Hoffnung für die zukünftige Entwicklung hochspezifischer und potenter Wirkstoffe gegen diese Enzymfamilie“, erklärt die Pharmakologin. Bislang galten insbesondere Phosphatasen als eher schwierig pharmakologisch angreifbar. PGP gehört dabei zu den sogenannten HAD-Phosphatasen, das steht für „haloacid dehalogenase-type“, einer weitverbreiteten und evolutionär alten Superfamilie dieser Enzyme.

Bis zum Therapeutikum wird noch viel Zeit vergehen

Von einem Therapeutikum ist man nun allerdings mit CP1 noch weit entfernt. „Der in unserem Artikel beschriebene PGP-Inhibitor ist als Prototyp anzusehen, also quasi ein erstes Modell, das in weiteren Arbeiten ausgebaut und verfeinert werden muss. Man kann sich diese Substanz wie einen ‚Rohdiamanten‘ vorstellen – es ist noch einiges an Feinschliff nötig, bis daraus ein Therapeutikum werden kann. Wir arbeiten bereits an der Entwicklung einer neuen Generation von Hemmstoffen mit verbesserten Bindungseigenschaften, um so zu potenteren Wirkstoffen zu kommen, die auch als Therapeutika anwendbar sein könnten“, sagt die Forscherin.

Wie gut schließlich die therapeutische Breite geeigneter PGP-Inhibitoren sei, müssten noch zukünftige Untersuchungen an Krankheitsmodellen zeigen. Entsprechend gebe es auch bislang keine konkreten Daten, etwa zur Pharmakologie oder Toxizität des Wirkstoffes. „Der entscheidende erste Schritt war zu zeigen, dass unser Konzept tragfähig ist, und dass Stoffwechsel-Reparaturenzyme wie die PGP eine neue Klasse therapeutischer Zielstrukturen darstellen“, sagt die Professorin.

Viele andere angreifbare Nebenwege sind noch denkbar

Welche weiteren anderen „Nebenwege“ noch mögliche Angriffspunkte sein könnten, sei „eine wichtige und im Moment noch völlig offene Frage“. „Im Vergleich zu der intensiven Forschung an DNA-Reparaturmechanismen und an Protein Qualitätskontroll-Systemen setzt sich erst allmählich die Erkenntnis durch, dass es auch im Stoffwechsel enzymatisch kontrollierte Reparaturprozesse gibt. Und dass sich solche Reparaturenzyme überhaupt als Angriffspunkte für Arzneistoffe eignen könnten, haben wir nun mit unserer Publikation zeigen können“, erklärt sie.

Wahrscheinlich seien sehr viele Schritte des Stoffwechsels von Reparaturprozessen begleitet, denn auch Stoffwechsel-Enzyme seien keine perfekten Katalysatoren und machten manchmal Fehler in Form falscher Metaboliten. „In der Zelle fällt das besonders dann ins Gewicht, wenn es sich um Stoffwechselwege mit einem hohen Umsatz handelt, oder wenn besonders giftige Nebenprodukte gebildet werden. Ich vermute daher, dass es noch zahlreiche therapeutisch relevante Zielstrukturen in Nebenwegen des Stoffwechsels gibt, die es zu entdecken und zu validieren gilt“, sagt Gohla. Das Konzept sei grundsätzlich, mit einem pharmakologischen Ansatz dafür zu sorgen, dass sich beispielsweise Tumorzellen oder fehlgesteuerte Immunzellen abhängig von ihrer Stoffwechselaktivität durch das Anhäufen toxischer Nebenprodukte selbst ausbremsen oder sogar vergiften, erklärt sie.

Bis aber der neue Wirkstoff oder seine Folgesubstanzen als Medikamente eingesetzt werden könnten, sei es sicher noch ein weiter Weg. „Auch wenn die forschende Pharmaindustrie einsteigt, kann es noch zehn Jahre und mehr dauern“, sagt sie.


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.