Erster Kapsid-Inhibitor zugelassen

Lenacapavir – neues HIV-Arzneimittel muss nur zweimal jährlich gespritzt werden

Düsseldorf - 07.09.2022, 17:50 Uhr

Die Strutkurformel von Lenacapavir sieht kompliziert aus, doch der neue langwirksame Wirkstoff gegen HIV zählt noch zu den „Small Molecules“. (s / Bild: pilarmartinez / AdobeStock)

Die Strutkurformel von Lenacapavir sieht kompliziert aus, doch der neue langwirksame Wirkstoff gegen HIV zählt noch zu den „Small Molecules“. (s / Bild: pilarmartinez / AdobeStock)


Seit Ende August ist ein neuer Wirkstoff zur Therapie von HIV-Infektionen zugelassen, der gleich mehrere neue Vorteile bietet. Neben einem neuen Wirkort ist auch die Langzeitwirkung sowie die geringe Wirkdosis beachtenswert. Ein Heilmittel ist aber auch Lenacapavir noch nicht.

N-[(1S)-1-[3-[4-chloro-3-(methanesulfonamido)-1-(2,2,2-trifluoroethyl)indazol-7-yl]-6-(3-methyl-3-methylsulfonylbut-1-ynyl)pyridin-2-yl]-2-(3,5-difluorophenyl)ethyl]-2-[(2S,4R)-5,5-difluoro-9-(trifluoromethyl)-7,8-diazatricyclo[4.3.0.02,4]nona-1(6),8-dien-7-yl]acetamide oder wesentlich einfacher „Lenacapavir“. Das ist der vollständige Name des neuen Wirkstoffes zur Behandlung einer Infektion mit dem Humanen Immundefizienz Virus HIV. Unter dem Handelsnamen „Sunlenca“, hergestellt und vertrieben vom US-Pharmaunternehmen Gilead, hat die Europäische Arzneimittelagentur EMA den Wirkstoff Ende August 2022 für die Europäische Union zugelassen. 

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Heilen kann man HIV auch mit Lenacapavir nicht – aber es ist in vielerlei Hinsicht ein innovatives Therapeutikum: So ist der Wirkstoff der erste einer neuen Klasse, der Kapsid-Inhibitoren. Lenacapavir dockt irreversibel an die Monomere des HIV-Kapsids und verhindert so dessen Zusammenbau. Das Virus ist in seinem Lebenszyklus allerdings an mehreren Stellen auf ein intaktes Kapsid angewiesen – damit stört der Wirkstoff den AIDS-Erreger gleich mehrfach und senkt so signifikant die Viruslast.

Lenacapavir 2020 in Nature beschrieben 

Das Kapsid des HI-Virus ist die innere seiner Hüllen und spielt vielfältige Rollen bei der Infektion von Zellen des Immunsystems durch das Virus. Erst 2013 – 30 Jahre nach der ersten Isolierung des HI-Virus – hat man die vollständige Struktur des Kapsids aufdecken können, 2021 erst zeigten deutsche Forscher, dass das Kapsid bei der Infektion vollständig in die Zelle gelangt. Indizien dafür, welche wichtige Rolle diese Hülle für das Virus spielt. Es enthält zwei Stränge der Virus-RNA sowie für den Erreger wichtige Enzyme wie etwa die Reverse Transkriptase oder die Integrase.

Das erklärt, warum Lenacapavir die Viruslast im Blut um bis zu 2,2 Logstufen zu senken vermag – und das mit vergleichsweise geringen Dosierungen und als Langzeittherapeutikum. Die Forscher aus dem Gilead Forschungslabor präsentierten ihre Entdeckung im Jahr 2020 im Fachmagazin Nature

Bereits in dem Nature-Artikel beschrieben die Forscher die Anwendung von „GS-6207“, wie der Wirkstoff da noch hieß, als subkutane Injektion in den Gluteus maximus. Eine Injektion von 450 Milligramm zeigte bereits da eine Wirkung über sechs Monate. Die nun erhältliche Injektionslösung enthält 464 Milligramm des Wirkstoffs, der trotz seines langen IUPAC-Namens zu den „Small Molecules“ zählt. 

Erst Lenacapavir-Tabletten, dann eine Spritze ins Gesäß 

Erhältlich ist Sunlenca außerdem in Tablettenform – die zum Start der Therapie acht Tage lang oral gegeben werden, anschließend gibt es die subkutane Injektion ins Gesäß alle 26 Wochen. Als neuartiges Therapeutikum ist das Mittel zugelassen zur Behandlung von HIV-Patienten, bei denen sich multiple Resistenzen gegen andere Wirkstoffe entwickelt haben. Dabei soll eine enge Überwachung und regelmäßige Anwendung auch verhindern, dass sich Resistenzen gegen Lenacapavir bilden. Allerdings gibt es den ersten Erkenntnissen nach wohl keine ausgeprägte Neigung zur Resistenzbildung. Dennoch vermag der Wirkstoff, wie die bisher bekannten anderen HIV-Therapeutika auch, nur die Menge der nachweisbaren Viren im Blut zu senken – vollständig heilen kann er die Infektion nicht.

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Wie andere Wirkstoffe soll der Kapsid-inhibitor mit anderen Wirkstoffen kombiniert werden – Kreuzresistenzen mit anderen Wirkstoffen sind im Übrigen nicht bekannt. Und auch die unerwünschten Wirkungen des Arzneimittels halten sich nach bisherigem Stand aus allen Phasen der Erforschung in Grenzen. Am häufigsten gibt es demnach Reaktionen an der Einstichstelle wie Rötungen oder Verhärtungen sowie in seltenen Fällen Übelkeit. Wechselwirkungen gibt es mit Rifampicin, den Antikonvulsiva Carbamazepin und Phenytoin sowie mit Johanniskraut als pflanzlichem Arzneimittel.

Neben Cabotegravir bislang einziges Long-Acting-Therapeutikum 

Als „Long-Acting“-Therapeutikum bei HIV ist Lenacapavir damit auch erst der zweite Wirkstoff, der nur noch selten gegeben werden muss. Erst seit Dezember 2020 gibt es mit dem Integrase-Hemmer Cabotegravir ein Mittel, das nur noch alle zwei Monate injiziert werden muss – in Kombination mit Rilpivirin unter dem Handelsnamen Rekambys (Janssen-Cilag).

Ein anderes langwirkendes HIV-Therapeutikum, das zeitweilig gemeinsam mit Lenacapavir durch den Hersteller Merck Sharpe & Dohme (MSD) erforscht wurde, ist Islatravir. Die Erprobung dieses neuartigen nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitors (NRTI) ist allerdings Ende 2021 vorerst gestoppt worden. 

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Standardtherapie gegen eine HIV-Infektion bleibt aber wohl vorerst weiterhin die Antiretrovirale Therapie mit drei Wirkstoffen aus zwei der bisherigen Substanzklassen (Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer (NRTIs), Nicht-Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer (NNRTIs), Integrase-Hemmer (INIs), Protease-Hemmer (PIs), Fusions- /Eintritts-Hemmer (EIs)) in der Regel in Tablettenform. Alle bekannten Wirkstoffe senken (in Kombination) die Viruslast im Körper, sodass Betroffene heute in der Regel gut und lange mit dem Virus leben können.


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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