Arzneimittelforschung

Die Natur optimieren – Forscher trimmen Naturstoff Chlorotonil zum Antibiotikum

Düsseldorf - 22.06.2022, 16:15 Uhr

Entdeckt wurde Chlorotonil bereits im Jahr 2004 im gramnegativen Bodenbakterium Sorangium cellulosum, einem Zersetzer, der sich von Zellulose ernährt.  (dab/Symbolfoto: H_Ko / AdobeStock)

Entdeckt wurde Chlorotonil bereits im Jahr 2004 im gramnegativen Bodenbakterium Sorangium cellulosum, einem Zersetzer, der sich von Zellulose ernährt.  (dab/Symbolfoto: H_Ko / AdobeStock)


Nur weil sich ein Naturstoff im Laborversuch als wirksam gegen Krankheitserreger erweist, macht ihn das noch nicht zum Arzneimittel. Im Fall von Chlorotonil galt das sogar seit rund 20 Jahren als unwahrscheinlich, obwohl der Wirkstoff gleichzeitig gegen Staphylococcus aureus und Plasmodium falciparum wirksam ist. Nun haben Forscher des Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland einen vielversprechenden Weg gefunden, daraus ein potentes Antibiotikum zu machen.

Naturstoffe sind ein spannendes Feld für die Pharmaforschung. Auf der einen Seite das „next big thing“ und auf der anderen etwas wie eine Wiederentdeckung. Die Natur bietet eine schier unübersehbare Zahl der sogenannten sekundären Naturstoffe in Pflanzen, Tieren, Pilzen und Bakterien, von denen etliche das Potenzial haben, etwa die sich anbahnende Gefahr der Antibiotika-Resistenzbildung bei Krankheitserregern wie MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus oder auch „multiresistenter“ S. aureus je nach Lesart) zu bekämpfen.

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Einer dieser Kandidaten ist der Naturstoff Chlorotonil (genauer Chlorotonil A und B), ein von seiner chemischen Struktur her ungewöhnliches Molekül. Das 14-gliedrige Makrolid enthält nicht nur ein komplexes Mehrfachringsystem, sondern auch eine bis zu seiner Entdeckung bei Naturstoffen unbekannte funktionelle Gruppe. Es ist ein geminales (gem)-Dichlor-1,3-dion. Das heißt innerhalb der polycyclischen Struktur sind zwei Chlor-Atome an ein Kohlenstoff-Atom gebunden und die beiden benachbarten Kohlenstoff-Atome tragen jeweils doppelt gebundene Sauerstoff-Atome. Das Ganze ist damit eine hochreaktive funktionelle Gruppe, die dem Molekül auch den Namen gegeben hat.

Chlorotonil ist hochwirksam, aber extrem schlecht löslich

Entdeckt wurde Chlorotonil bereits im Jahr 2004 (Höfle et al.) im gramnegativen Bodenbakterium Sorangium cellulosum, einem Zersetzer, der sich von Zellulose ernährt. Bei der Veröffentlichung der Entdeckung des Moleküls im Jahr 2007 fragten sich die Autoren noch, „warum Bakterien den Aufwand betreiben, solch komplexe Moleküle zu erschaffen“. Denn Chlorotonil A löst sich aufgrund seiner Struktur weder in Wasser noch in organischen Lösungsmitteln wirklich gut.

Allerdings erkannte man bereits 2014, dass der Naturstoff eine hohe Wirksamkeit gegen die Malaria-Erreger der Gattung Plasmodium hat. Außerdem erkannte man die Ähnlichkeit zum Naturstoff Anthracimycin, das antibiotisch unter anderem gegen den Milzbrand-Erreger Bacillus anthracis wirkt.

Damit gab es einen Wirkstoff, der im Tierversuch erwiesen, hochwirksam gegen Malaria und sogar so gefürchtete Krankenhauskeime wie Staphylococcus aureus war, aber sich wegen seiner schlechten Löslichkeit nur mit großen Mengen Erdnussbutter vermischt, wirksam verabreichen ließ. Damit schien es lange Zeit unwahrscheinlich, dass sich aus Chlorotonil A ein therapeutisch anwendbares Arzneimittel entwickeln ließe.

Neue Derivate mittels Semisynthese entwickelt

Forscher des Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland, kurz HIPS, haben sich dieses Problems allerdings noch einmal angenommen und nun einen möglichen Weg gefunden. Das HIPS gehört als Standort zum Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig und wird in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes betrieben.

In bester Tradition etwa des Aspirin-Erfinders Felix Hoffmann (der den Naturstoff Salicylsäure mit chemischen Methoden „veredelte“), nahmen sich die Saarbrücker Forscher den Naturstoff Chlorotonil vor. Sie suchten nach Wegen, zum einen insbesondere seine Löslichkeit und damit Bioverfügbarkeit zu verbessern und auf der anderen Seite die antimikrobielle Wirkung zu erhalten. Gleichzeitig suchten sie auch nach der günstigsten möglichen Syntheseform – die chemische Vollsynthese ist zwar möglich, aber aufwendig, teuer und wenig ertragreich. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher jetzt im Fachmagazin Angewandte Chemie Internationale Edition.

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Die Forscher um Professor Rolf Müller, Geschäftsführender Direktor des HIPS und Leiter der Abteilung Mikrobielle Naturstoffe, setzen dabei auf die Semisynthese. In einem ersten Schritt optimierten sie die Synthese und Aufreinigung von Chlorotonil A aus dem Bakterium Sorangium cellulosum in Fermentern. Im zweiten Schritt suchten sie nach Modifikationsmöglichkeiten des nun in großer Menge rein vorliegenden Stoffes mittels Semisynthese. „Naturstoffe sind sehr komplexe Moleküle und schon kleine Modifikationen können einen großen Effekt haben. Bei der Optimierung via Semisynthese besteht die Schwierigkeit darin, die Substanz so zu verändern, dass die negativen Eigenschaften beseitigt werden, aber die hohe Wirksamkeit trotzdem erhalten bleibt“, sagt Erstautor Walter Hofer.

Wirksamkeit in vitro und in vivo im Tiermodell getestet

Die Forscher veränderten mit verschiedenen Methoden dabei insbesondere die Struktur von Chlorotonil A so, dass die funktionelle gem-Dichloro-1,3-dion-Gruppe erhalten blieb, aber neue polare Gruppen an das Ringsystem angefügt wurden. Das erhöhte die Löslichkeit insbesondere in polaren Lösungsmitteln wie Wasser. Die erhaltenen Derivate testeten die Forscher dann zunächst in vitro auf ihre Aktivität gegen Plasmodium falciparum, S. aureus und verschiedene andere gramnegative Bakterien. Bei ihren Versuchen nahmen die Forscher auch das natürliche Derivat von Chlorotonil A, Chlorotonil B, als Ausgangspunkt. In diesem ist die funktionelle Gruppe um ein Chloratom ärmer und außerdem eine Alkoholgruppe (-OH) daran vorhanden – wirksam gegen den Malariaerreger und S. aureus ist aber auch dieses Molekül.

Insgesamt (semi)-synthetisierten die Forscher 25 Derivate von Chlorotonil A und B. Die Kandidaten, die in den folgenden in vitro-Versuchen Wirkung gegen die Pathogene zeigten, untersuchten die Forscher anschließend auch im Tierversuch in vivo.

„Unsere ersten tierexperimentellen Daten zeigen, dass die Substanzklasse der Chlorotonile ein hohes Potenzial für eine klinische Anwendung hat“, sagt Müller. Im Mausmodell zeigte das von den Forschern favorisierte Chlorotonil-Derivat etwa eine bis um das Zehntausendfache reduzierte bakterielle Belastung der infizierten Tiere. „Die gute Wirksamkeit im Mausmodell macht uns zuversichtlich, dass die neuen Moleküle auch für eine Anwendung am Menschen geeignet sein könnten. Um das Risiko zu minimieren, dass hier unerwartete Nebeneffekte auftreten, müssen vorher allerdings noch weitere Parameter untersucht werden“, erklärt Jennifer Herrmann, Leiterin des Bereiches Biologie in der Abteilung Mikrobielle Naturstoffe am HIPS.

„Proof of concept“ in vier bis fünf Jahren

Bis zu einer möglichen Anwendung beim Menschen ist es allerdings noch ein weiter Weg. „Wir befinden uns momentan in der frühen präklinischen Phase“, sagt Müller. Als nächste Forschungsschritte seien etwa zunächst Sicherheit und Toxizität weitere Aspekte. Außerdem arbeite man momentan noch mit einem neuen Substanzkandidaten, der verbesserte Eigenschaften besitze, so Müller. „Auf dem Weg zur Zulassung sind allerdings noch viele Hürden zu nehmen, weshalb wir zur Wahrscheinlichkeit einer Zulassung derzeit noch keine Einschätzung abgeben können“. Aktuell beschäftige man sich auch noch mit der Verbesserung des Fermentationstiters – und erst in einiger Zeit stehe dann eine mögliche klinische Phase an.

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Totgesagte leben länger

„Wir hoffen, dass das Molekül in vier bis fünf Jahren ,proof-of-concept‘ im Menschen erreichen könnte“, sagt Müller zu einer möglichen Zeitachse. Kooperationsangebote seitens forschender kleiner und mittlerer Unternehmen lägen aber bereits vor. Außerdem kooperiere man mit einer Vielzahl an akademischen Partnern.

Auch die Synthese des möglichen Wirkstoffkandidaten müsse noch optimiert werden. Zum einen im Bereich der aus der Fermentation erzielten Menge, aber auch im weiteren Schritt. „Die beschriebene Semisynthese ist momentan noch recht aufwendig, da ein Aufreinigungsschritt mittels Chromatografie notwendig ist“, erklärt Müller. Denkbar sei aber eine biotechnologische Synthese durch entsprechende Genmodifikation an Sorangium cellulosum. „Für den neuen Kandidaten würde eine Genmodifikation die Produktion wahrscheinlich erhöhen und so die Ausbeuten verbessern und den Prozess vereinfachen“, so der HIPS-Geschäftsführer.

Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung

Jedenfalls ist man in Saarbrücken hoffnungsvoll, ein mögliches potentes neues Antibiotikum auf den Weg bringen zu können. Dafür spricht etwa auch, dass die bisherigen Daten bezüglich eines möglichen Wirkmechanismus „auf ein neues Target in der Membran hinweisen, welches es in Eukaryoten nicht gibt“. „Der Wirkmechanismus ist bisher noch nicht abschließend geklärt“, so Müller.

Außerdem habe man zumindest in den bisherigen Experimenten noch keinen Hinweis auf eine rasche Resistenzbildung der Pathogene gegen den Wirkstoff gesehen. Dies lasse das gesamte Team hoffen, dass der Wirkstoff länger eingesetzt werden könne, bevor es auch im klinischen Umfeld zur Entstehung resistenter Erreger komme, heißt es von den Forschern.

Die Entwicklung und Optimierung der Chlorotonil-Derivate wird in verschiedenen Arbeitsgruppen, unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, gefördert, wo man in der Wirkstoffklasse Potenzial sieht.


Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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