MEZIS, Leitlinienwatch und Transparency

Setzen medizinische Fachgesellschaften ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel?

Stuttgart - 08.03.2022, 09:15 Uhr

Drei Transparenzorganisationen möchten eine öffentliche Debatte über bestehende materielle Abhängigkeiten von medizinischen Fachgesellschaften anregen. (s / Symbolfoto: Andrey Popov / AdobeStock)

Drei Transparenzorganisationen möchten eine öffentliche Debatte über bestehende materielle Abhängigkeiten von medizinischen Fachgesellschaften anregen. (s / Symbolfoto: Andrey Popov / AdobeStock)


Die Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte „Mein Essen zahl’ ich selbst e.V.“ (MEZIS), die Arbeitsgruppe Medizin und Gesundheit von Transparency International Deutschland e.V. und Leitlinienwatch haben vergangene Woche in einer gemeinsamen Stellungnahme an deutsche medizinische Fachgesellschaften appelliert. Diese sollen durch die Verharmlosung von Interessenkonflikten ihr Ansehen nicht aufs Spiel setzen. Was steckt dahinter?

Vergangene Woche lenkten MEZIS, Transparency International Deutschland und Leitlinienwatch die Aufmerksamkeit darauf, dass die unter Apotheker:innen gut bekannte „Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften“ (AWMF) innerhalb eines Vierteljahres zwei Stellungnahmen zur Zusammenarbeit mit der Arzneimittelindustrie abgegeben habe. Was zunächst transparent klingt, kritisieren die drei Organisationen deutlich: In beiden Stellungnahmen würden die gängigen Kooperationsformen von Mediziner:innen mit der Industrie „quasi als natürliche Symbiose dargestellt“, heißt es in einer vergangene Woche veröffentlichten Pressemitteilung.

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Es wird verschwiegen, dass sich auch Nachteile für Patient*innen und Versicherte aus der finanziellen Verflechtung von Firmen, Ärzt*innen und Fachgesellschaften ergeben können. Damit wird verschleiert, in welche Abhängigkeiten und Interessenkonflikte die Beteiligten geraten können.“ 

Gemeinsame Stellungnahme von der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte „Mein Essen zahl’ ich selbst e.V.“ (MEZIS), der Arbeitsgruppe Medizin und Gesundheit von Transparency International Deutschland e.V. und Leitlinienwatch, 02.03.2022 


Mit den beiden AWMF-Stellungnahmen werde die bisherige AWMF-Position verwässert, wonach alle Arten von Interessenkonflikten erkannt, selbst und fremd bewertet und deren Einflüsse reguliert werden müssten, heißt es. Die drei Transparenz-Organisationen werfen der AWMF vor, kein Problembewusstsein dafür zu haben, wie weit schon jetzt viele Fachgesellschaften abhängig von Geldern aus der Industrie seien. Sie ignorierten den internationalen Trend, „wissenschaftliche Unabhängigkeit gegen nachgewiesene Beeinflussungsversuche der pharmazeutischen Industrie zu verteidigen“.

Man müsse die Ärzteschaft für das umfangreiche Beeinflussungs-Repertoire der Pharma-Konzerne sensibilisieren. Selbstständig ist das beispielsweise schon jetzt auf Leitlinienwatch.de möglich. Dort werden Leitlinien mit einem Punktesystem auf ihre Unabhängigkeit hin bewertet. Getragen wird die Webseite von MEZIS, NeurologyFirst und Transparency Deutschland. Zudem fordern die Organisationen aber, Sachverständige mit Interessenkonflikten grundsätzlich von Leitliniengremien auszuschließen. Auf eine ärztliche Fortbildung durch Herstellerfirmen („Industriesymposien“) soll völlig verzichtet werden, heißt es neben weiteren Forderungen. Immerhin: Die AWMF habe in den letzten Jahren bereits eine Regulierung eingeführt, die Leitlinienautor:innen mit Interessenkonflikten bei Abstimmungen die Enthaltung nahelege.

Geschäftsmodell medizinischer Fachgesellschaften hinterfragen

Als Beispiel für Interessenkonflikte wird die Kooperation von Ärzt:innnen und Industrie in klinischen Studien genannt. Solche Studienärzt:innen sollten später nicht an der Medikamentenbewertung beteiligt sein, heißt es. Außerdem werden Beraterverträge zwischen der Führungsschicht der Fachgesellschaften mit der Industrie besonders kritisch gesehen. In solchen Fällen reiche es nicht aus, die Interessenkonflikte zu benennen. Zudem sei grundsätzlich das Geschäftsmodell medizinischer Fachgesellschaften zu hinterfragen. Der Industrie würden nämlich die Überlassung der Räumlichkeiten für sogenannten Industriesymposien auf Fortbildungskongressen teuer vergütet – mit bis zu 40.000 Euro für zwei Stunden, heißt es. Bei Selbstkosten für Saal und Technik von maximal 4.000 Euro würde so das Äquivalenzprinzip eklatant verletzt. „Die Fachgesellschaft verkauft nicht den Saal, sondern den Zugang zu den ärztlichen Köpfen, die nirgendwo so konzentriert versammelt sind, wie beim Jahreskongress“, meinen die drei Transparenzorganisationen.

 Öffentlich geförderte Arzneimittelforschung unverzichtbar

Dass die AWMF im November 2021 die Gründung einer Plattform zur Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie angekündigt hat, beobachtet man unter Transparenzaspekten nun logischerweise besonders kritisch. „Auf EU-Ebene existieren bereits verschiedene ähnliche Plattformen, jeweils großzügig von der europäischen Lobbyorganisation der pharmazeutischen Industrie (EFPIA) unterstützt, z. B. IMI, EU-PEARL und EHDEN“, heißt es.

Ziel der drei Transparenzorganisationen ist es deshalb jetzt, eine öffentliche Debatte anzuregen. Erfahrungsgemäß würden sich etablierte Institutionen damit schwertun, bestehende materielle Abhängigkeiten einzugestehen – freiwillige Verhaltensvorschriften reichten nicht aus. Gesetzliche Regelungen nach dem Vorbild des „Physician Payments Sunshine Act“ in den USA seien erforderlich. Außerdem sollten alle Beteiligten (auch die AWMF) sich für öffentlich geförderte Arzneimittelforschung starkmachen. Diese sei für eine bezahlbare und rationale Arzneimitteltherapie unverzichtbar.


Deutsche Apotheker Zeitung / dm
redaktion@daz.online


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