Evidenz-Sprechstunde

Blinder Fleck Nebenwirkungen

Stuttgart - 12.12.2016, 07:50 Uhr

Nebenwirkungen werden oft nur unzureichend erfasst. (Foto: gioiak2 / Fotolia)

Nebenwirkungen werden oft nur unzureichend erfasst. (Foto: gioiak2 / Fotolia)


Wenn laut einer Studie die Nebenwirkungsraten „auf Placebo-Niveau“ liegen – heißt das automatisch, dass ein Mittel wunderbar verträglich ist? Leider nicht. Denn gerade bei unerwünschten Arzneimittelwirkungen ist das Wissen meist begrenzt.

Dass Arzneimittel wirksam sein müssen, ist nur die eine Seite der Medaille. Um den Stellenwert von Medikamenten richtig einschätzen zu können, brauchen wir auch Informationen über die unerwünschten Wirkungen. Und die sind gerade bei neueren Mitteln ziemlich rar. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen.

Eine wichtige Quelle für Informationen zu Nebenwirkungen sind die Zulassungsstudien. Dabei wird das neue Arzneimittel mit der bisherigen Standardtherapie oder Placebo verglichen, in der Regel in randomisierten kontrollierten Studien. Das ist auch für Erkenntnisse zu Nebenwirkungen vorteilhaft: Denn dann kann man gut unterscheiden, welche unerwünschte Wirkung tatsächlich nur oder häufiger in der Behandlungsgruppe auftritt und welche genauso häufig bei Einnahme von Placebo.

Höchstens „gelegentlich“

Zulassungsstudien haben aber ein entscheidendes Problem: Die Fallzahl, also die Anzahl der untersuchten Teilnehmer in diesen Untersuchungen, ist in der Regel nur für den Nachweis der Wirksamkeit ausgelegt. Schon aus statistischen Gründen lassen sich dann meist nur Nebenwirkungen beobachten, die mindestens bei einem von Tausend Patienten auftreten, also „gelegentlich“. Außerdem sind die Studien meist eher kurz – was bei der Einnahme über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte passiert, lässt sich daraus nicht ableiten.

Hinzu kommt: Bei der Erfassung von Nebenwirkungen in Studien kann es einen Unterschied machen, ob der Arzt den Patienten gezielt nach speziellen unerwünschten Wirkungen fragt oder den Patienten selbst berichten lässt. Auch wie die erfassten Probleme dann kategorisiert werden, kann unter Umständen in der gleichen Studie sehr unterschiedlich sein, erst recht über mehrere Studien hinweg. Das erschwert die Vergleichbarkeit, verschleiert zusätzlich aber manchmal auch das wahre Problem. So hat eine Untersuchung gezeigt, dass in einer Studie zu einem Antidepressivum Suizid-Neigungen als „emotionale Labilität“ heruntergespielt wurden. 



Iris Hinneburg, freie Medizinjournalistin und Pharmazeutin
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


3 Kommentare

Gratulation!

von Cornelia Stolze am 02.01.2017 um 14:05 Uhr

Sehr guter und wichtiger Artikel, liebe Frau Hindenburg! Allen Ärzten und Patienten sollte viel mehr bewusst sein, dass gerade neue Medikamente besondere, weil noch wenig bekannte Risiken bergen. Neu ist eben nicht immer gleichbedeutend mit "besser" - auch wenn genau das häufig suggeriert wird.
Zum Kommentar von Herrn Theurer: Ihre Kritik verstehe ich nicht. Die "Forderung", die Sie beschreiben, hat Frau Hindenburg doch gar nicht erhoben. Das, was Sie erläutern, versteht sich im Übrigen von selbst.
Merkwürdig ist umgekehrt nur, dass viele Ärzte Krankheiten diagnostizieren, obwohl sie - wie etwa im Fall der "Alzheimer-Demenz" - diese Krankheit gar nicht nachweisen können. Das Perfide daran: Kein Betroffener kann beweisen, dass er die Krankheit NICHT hat...
Mehr darüber unter www.cornelia-stolze.de

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Beleg, dass Nebenwirkungen fehlen

von Christoph Theurer am 14.12.2016 um 14:32 Uhr

... ein Beleg, dass Nebenwirkungen fehlen, kann nicht erbracht werden. Es ist erkenntnistheoretisch nicht möglich, das Nicht-Vorhandensein einer Sache zu beweisen. Diese oft gehörte Forderung ist abwegig.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Beleg, dass Nebenwirkungen fehlen

von Dr. Iris Hinneburg am 10.01.2017 um 9:25 Uhr

"Es ist erkenntnistheoretisch nicht möglich, das Nicht-Vorhandensein einer Sache zu beweisen." Damit haben Sie vollkommen recht, deswegen fordere ich auch nicht, dass die Nicht-Existenz von Nebenwirkungen belegt werden soll.

Umgekehrt muss man aber die Schlussfolgerung ziehen: Wenn man in diesem Dilemma einigermaßen brauchbare Informationen zu Nebenwirkungen haben will, benötigen wir einen ausreichend großen Erfahrungsumfang und sorgfältiges Monitoring. Wenn das nicht gewährleistet ist, darf man nicht den Fehlschluss ziehen, dass Nebenwirkungen nicht auftreten - vielleicht konnten sie nur aus statistischen Gründen (noch) nicht bemerkt werden.

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.