Was genau hat der EuGH entschieden?

Fragen und Antworten zum EuGH-Urteil 

Stuttgart / Berlin - 28.10.2016, 17:45 Uhr

 Am 19. Oktober stand beim EuGH für die deutschen Apotheken viel auf dem Spiel. (Foto: Fessy)

 Am 19. Oktober stand beim EuGH für die deutschen Apotheken viel auf dem Spiel. (Foto: Fessy)


Am 19. Oktober hat der EuGH entschieden, das deutsche Verbot der Rx-Boni für EU-ausländische Versandapotheken zu kippen. Wir haben die wichtigsten Fakten zum Urteil und seinen möglichen Folgen noch einmal für sie zusammengefasst.

Was genau hat der EuGH entschieden?

Nach Auffassung des EuGH beschränkt es den freien Warenverkehr, dass EU-ausländische Versandapotheken sich bei der Lieferung rezeptpflichtiger Arzneimittel nach Deutschland an die Arzneimittelpreisverordnung halten müssen. Diese Einschränkung könne nicht mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens gerechtfertigt werden. Die entsprechende Regelung verstößt daher gegen Unionsrecht. Das bedeutet, dass ausländische Versender vom deutschen Apothekenverkaufspreis abweichen dürfen, nach oben wie nach unten. Auch die Gewährung von Boni bei Bestellungen ist jetzt möglich.

Wie begründen die Richter ihre Entscheidung? 

Nach Ansicht der Richter wirken sich die gesetzlich fixierten Preise in Deutschland auf Apotheken aus Mitgliedstaaten stärker aus. Damit sei es für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten schwerer, in den deutschen Markt zu kommen, als für Waren aus Deutschland. Im Falle der Apotheken stelle der Versandhandel unter Umständen sogar die einzige Möglichkeit dar, einen Zugang zum deutschen Markt zu bekommen, urteilten die Richter. Außerdem sind sie der Auffassung, dass für die Versandapotheken der Preis eine Möglichkeit ist, um überhaupt mit den Apotheken vor Ort in Wettbewerb treten zu können.  

Wie kam es zu dem Verfahren?

Die Deutsche Parkinson Vereinigung (DPV) hatte bei ihren Mitgliedern für ihre Kooperation mit der holländischen Versandapotheke DocMorris geworben. Danach sollten DPV-Mitglieder für die Rezepteinreichung besondere Boni erhalten, die sogar noch über die hinaus gingen, die DocMorris seinerzeit allen Kunden gewährte. Dagegen hatte die Zentrale gegen unlauteren Wettbewerb geklagt. In erster Instanz bekam sie auch noch Recht. In der zweiten Instanz entschied jedoch das Oberlandesgericht Düsseldorf, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob eine durch nationales Recht angeordnete Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gegen Europarecht verstößt. Und das, obwohl der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes 2012 festgestellt hatte, dass dies nicht der Fall ist. 

Muss man bei EU-ausländischen Versandapotheken jetzt keine Zuzahlung mehr leisten?

Auch DocMorris und Co. dürfen die gesetzliche Zuzahlung nicht erlassen. Allerdings muss der Patient sie durch den gewährten Bonus, der dann mit der Zuzahlung verrechnet wird, nicht oder nicht mehr in voller Höhe bezahlen. 

Dürfen deutsche Apotheken jetzt auch Nachlässe geben?

In Deutschland ansässige Apotheken – Versand- und Vor-Ort-Apotheken – sind weiterhin an die Arzneimittelpreisverordnung gebunden. Das heißt, sie dürfen keinerlei Nachlässe geben. Sollten sie es trotzdem tun, drohen juristische Konsequenzen. Zahlreiche Kammern haben das bereits angekündigt, hart gegen Verstöße vorzugehen.

Was passiert, wenn sie es trotzdem tun?

Das kann berufsrechtliche (Geldstrafen), heilmittel- bzw. apothekenrechtliche (Bußgelder) sowie wettbewerbsrechtliche (Abmahnungen) Konsequenzen haben. Neben den Apothekerkammern können Aufsichtsbehörden und Mitbewerber gegen Apotheker vorgehen, die trotz des bestehenden Verbots Rx-Boni anbieten.

Werden damit deutsche Apotheker nicht benachteiligt?

Darum dreht sich gerade die ganze Debatte beziehungsweise darum, wie man etwas gegen die Wettbewerbsverzerrung tun kann. Denn deutsche Apotheker, allen voran die Versandapotheker, fühlen sich natürlich benachteiligt. Inländerdiskriminierung lautet der juristische Ausdruck hierfür. Gegen diese lässt sich auf direktem Weg nichts unternehmen. Dennoch werden die Apotheker diesen Nachteil nicht akzeptieren – und die Politik hat dafür Verständnis. Die derzeitigen Regeln werden wohl keinen Bestand haben. Der Gesetzgeber muss und wird handeln. Aber was genau passiert, ist völlig unklar. Verschiedene Modelle werden diskutiert.

Was haben die Kassen davon?

Vom derzeitigen Bonus-Modell, das DocMorris und Co. seit dem Urteil des EuGH anbieten, hat weder die Krankenkasse noch die Solidargemeinschaft etwas. Es profitiert nur der Versicherte persönlich. Der Bonus wird mit der Zuzahlung verrechnet oder dem Kundenkonto gutgeschrieben.

Sollte der Rx-Versand aber weiterhin erlaubt bleiben, wollen Kassen natürlich auch ein Stück vom Bonuskuchen haben. Das haben sie bereits angekündigt.  Und DocMorris ist offenbar auch offen für Verträge, von denen alle – die Kassen, die Versicherten und nicht zu vergessen: die Versandapotheken – profitieren.  Das erklärte DocMorris CEO Heinrich in der FAZ. 

Was will die ABDA?

Die ABDA macht sich für ein komplettes Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln stark. Dann dürften weder innerhalb Deutschlands noch aus dem Ausland in die Bundesrepublik über diesen Vertriebsweg verschreibungspflichtige Arzneimittel abgegeben werden. Die Standesvertretung führt dazu Gespräche auf allen politischen Ebenen. Kritiker halten dieses Ansinnen für nicht durchsetzbar. Doch die ABDA hat erste Erfolge zu verzeichnen. Gesundheitsminister Gröhe hat nämlich bereits seine Experten beauftragt, ein entsprechendes Gesetz vorzubereiten. 

Sowohl DocMorris als auch der Bundesverband Deutscher Versandapotheken (BVDVA) haben angekündigt, ein Rx-Versandverbot vor Gericht zu bekämpfen.

Gibt es andere Lösungsvorschläge?

Neben dem Rx-Versandverbot werden verschiedene alternative Lösungsvorschläge ins Spiel gebracht, zum Beispiel: 

  • Die totale Preisfreigabe wird bisher nur von Journalisten ins Spiel gebracht, kein Politiker oder Apothekenvertreter hat das bislang gefordert. Der EuGH hat diese Konsequenz allerdings mit seinen Überlegungen zur Sicherung der flächendeckenden Versorgung nahegelegt. So könne man auf dem Land ja höhere Preise verlangen, was die Attraktivität dieser Standorte erhöhen wurde, argumentierte er. 
  • Der Verband der deutschen Versandapotheken, der BVDVA, hat eine Höchstpreisverordnung vorgeschlagen. Ob die Apotheken einen Preisnachlass auf den Höchstpreis gewähren, bliebe ihnen selbst überlassen.
  • Einige SPD-Politiker haben sich für „differenzierte Vergütungsmodelle“ ausgesprochen. Im Klartext bedeutet das, die Vergütung in Zukunft nicht mehr nur von der Zahl der abgegebenen Packungen abhängig zu machen, sondern die Beratungsleistung besser zu vergüten.
  • Der Vorsitzende der Monopolkommission hat laut „Handelsblatt“ eine Servicepauschale ins Spiel gebracht, die die Apotheke in gewissen Grenzen selbst festlegen kann. Die Pauschale soll der Versicherte selbst bezahlen, die Krankenkasse übernimmt nur noch den Herstellerabgabepreis.
  • Eine weitere Variante, die Prof. Hilko J. Meyer vor, wäre es, die Preisregeln in das Sozialrecht zu überführen und sie damit aus der Zuständigkeit der Union herauszunehmen.

Was die Vor- und Nachteile der jeweiligen Modelle sind, lesen Sie hier.

Muss ich überhaupt etwas ändern?

Fast alle sind der Ansicht, dass die Situation, so wie sie jetzt ist, nicht bleiben kann. Das sei Wettbewerbsverzerrung zugunsten der ausländischen Versender, so die Meinung. Minister Gröhe ist bereits aktiv worden und will das Gesetzgebungsverfahren für ein Rx-Versandverbot anstoßen.

Und bis das Gesetz beschlossen ist muss man mit den Rabatten leben? Möglicherweise nicht. Denn einige Experten haben trotz des EuGH-Urteils Zweifel an der der Rechtmäßigkeit der Rabatte. Sie verwiesen dabei auf eine Regelung im Rahmenvertrag – und zwar in seiner derzeit gültigen Fassung. Dort heißt es: Wer auf Kosten deutscher gesetzlicher Krankenkassen Arzneimittel liefern möchte, hat sich an das deutsche Preisrecht zu halten. Rabatte und Boni verstoßen demnach gegen den Rahmenvertrag, sagen mehrere Rechtsexperten unabhängig voneinander. Alle relevanten ausländischen Versandapotheken sind dem Rahmenvertrag aber freiwillig beigetreten, um mit den deutschen Krankenkassen abrechnen zu können. Sie hatten sich diesen Beitritt sogar vor dem Bundessozialgericht erstritten. 

Wie machen das andere Länder in Europa?

In lediglich sieben von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) ist der Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln erlaubt. Neben Deutschland dürfen in Dänemark, Estland, Finnland, den Niederlanden, Schweden und Großbritannien  verschreibungspflichtige Arzneimittel auf dem Versandweg abgegeben werden – zum Teil aber nur unter sehr restriktiven Bedingungen. Der EuGH hatte im Jahr 2003 entschieden, dass ein nationales Versandhandelsverbot für Arzneimittel zwar den freien Warenverkehr einschränkt. Soweit es sich auf verschreibungspflichtige Arzneimittel beziehe, sei es jedoch aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt. Ein absolutes Versandverbot, das auch nicht verschreibungspflichtige in Deutschland zugelassene Arzneimittel umfasst, sei hingegen nicht zu rechtfertigen. 


Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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2 Kommentare

Sind Rx-Boni an Patienten ein Straftatsbestand?

von Herbert Kruchten am 29.10.2016 um 21:28 Uhr

In den Diskussionen zur Entscheidung des EuGH (C 148/15) bezüglich der Preisstellung für Medikamente in Deutschland und Europa werden Gesichtspunkte völlig außer Acht gelassen, welche für die in Deutschland zu erwartenden Auswirkungen ausschlaggebend sein dürften. Es wundert die Unschärfe in der Betrachtungsweise.

Der EuGH hat lediglich drei seitens des Oberlandesgerichtes Düsseldorf gestellte Vorlagefragen im Sinne einer Vorabentscheidung verbindlich beantwortet. Er hat mitnichten die Vergabe von Boni oder anderen Nachlässen an Versicherte bzw. Patienten genehmigt, wie permanent und unreflektiert unterstellt wird. Beleuchtet man den Sachverhalt aus ganz anderer Blickrichtung, bestehen an der Rechtmäßigkeit dieser von DocMorris und Europa Apotheek jetzt wieder geübten Praxis nach wie vor erhebliche Zweifel.

In der Systematik der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland besteht ein Behandlungs- bzw. Leistungsvertrag nicht mit dem Versicherten selbst, sondern mit seiner gesetzlichen Krankenversicherung. Dies gilt so auch für Rezepte über Arzneimittel. Bereits der Begriff „Zuzahlung“ offenbart, dass die eigentlichen Leistungsträger die Krankenkassen und nicht die Versicherten sind. Rabatte, Boni oder welche Preisnachlässe auch immer durch eine Apotheke gegeben werden, sei sie in Deutschland oder im europäischen Ausland ansässig, haben demnach ausschließlich dem Leistungsträger, also der gesetzlichen Krankenkasse, gewährt zu werden! Die durch Patienten zu leistenden „Zuzahlungen“ sind auf Basis des jeweiligen nach Verrechnung von Nachlässen entstehenden Brutto-Preises gemäß den in § 61 SGB V festgelegten Vorgaben durch die Versicherten zu tragen. Eine Rabattierung, Bonifizierung etc. der „Zuzahlungen“ selbst ist nicht vorgesehen. Die „Zuzahlung“ ist nicht Teil des Preises an sich. Nachlässe auf „Zuzahlungen“ können nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, würde doch die Versichertengemeinschaft die „Schnäppchen“ einzelner Versicherter ansonsten tragen müssen. Es ist schlicht unsozial, wenn Nachlässe versteckt oder offen an einzelne Versicherte bzw. Versichertengruppen ausgekehrt werden und nicht dem Leistungsträger zu Gute kommen, also der jeweiligen gesetzlichen Krankenkasse. Letztlich werden positive Preisentwicklungen so der Versichertengemeinschaft vorenthalten und können sich nicht auf die Beiträge, sprich Lohnnebenkosten, auswirken.

Im Übrigen könnte es schnell strafrechtliche Bedeutung gewinnen, dem Versicherten einen Vorteil zu gewähren, statt dem Leistungsträger diesen Nachlass durchzureichen. Wenn der Verursacher einer Leistungspflicht einen bestimmten Leistungserbringer wählt, weil dieser ihm einen Vorteil verschafft, statt dem Leistungspflichtigen einen günstigeren Preis zu berechnen, muss dies Konsequenzen haben. Bezöge sich die Ausgangssituation für die EuGH-Entscheidung nicht auf die Versorgung chronisch kranker Menschen, sondern wäre weniger emotional besetzt, wäre schnell von Korruption die Rede. Die gesetzlichen Krankenkassen sind gefordert, falsch adressierte Nachlässe bei ihren Versicherten zu regressieren, soweit keine Verjährung eingetreten ist. Das ist ihre Pflicht der Versichertengemeinschaft gegenüber.
Und sollten Protagonisten dieser Rx-Boni-Machenschaften ungehindert weitermachen wollen, wäre die Staatsanwaltschaft gefragt. Was nutzt es, harte Antikorruptionsgesetze zu erlassen, System ausnutzenden „Schnäppchenmachern“ aber nicht Einhalt zu gebieten.

Bei privat Versicherten liegt die Sachlage ebenfalls klar. Hier kommt der Behandlungs- bzw. Leistungsvertrag zwar direkt mit dem Patienten zu Stande, die Versicherung muss dem versicherten Patienten auf Basis des Versicherungsvertrages aber lediglich die Kosten ersetzen, welche tatsächlich anfallen. Behält ein Versicherter Nachlässe in Form von Boni, welche er versteckt, indirekt oder zeitverzögert erhält, und lässt sich hingegen von seinem Versicherer den vollen Preis erstatten, kann dies ein Fall von Versicherungsbetrug sein.

Vor diesem Hintergrund wird es im System der gesetzlichen Krankenversicherung auch nach dem EuGH-Urteil illegal bleiben, den Versicherten selbst Nachlässe auf Arzneimittel zu gewähren, während die Versicherungen den vollen Preis erstatten müssen. Privat Versicherte handeln zumindest vertragswidrig und potentiell illegal, wenn sie ihnen gewährte Nachlässe nicht an den Versicherer weitergeben. Die Beihilfestellen werden das nicht anders betrachten wollen.

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AW: Analog auch die Preisdifferenzierung

von Michael Mischer am 01.11.2016 um 11:19 Uhr

Würden die Preise in der Tat komplett freigegeben, wäre zu hinterfragen, ob die vom Gericht intendierte Preisdifferenzierung auch nach oben überhaupt möglich ist. Meines Erachtens ist unklar, ob Krankenkassen überhaupt unterschiedliche Preise bezahlen dürfen.
Man kann zu dem Schluss kommen, dass ein höherer Preis bei gleicher Leistung (zu der ja eine gesetzliche Verpflichtung aus SGB V und ApoG besteht) unwirtschaftlich ist. Unwirtschaftliche Leistungen dürfen Krankenkassen nicht gewähren. Höhere Kosten aber dem Versicherten in Rechnung zu stellen, dürfte zum einen kaum durchzusetzen sein, zum anderen aber nicht im Einklang mit dem Sachleistungsprinzip stehen.

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